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ANSTELLE EINES VORWORTS

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Ich schätze sie auf Ende 30, Anfang 40. Die blonden Strähnen ihrer David-Bowie-Frisur hängen ins Gesicht. Über dem grauen Shirt wabert eine viel zu große Bomberjacke im Camouflage-Look. Die nassen Sohlen ihrer Springerstiefel quietschen auf dem dunkelgrauen Linoleum.

Die Lady tappt in die Mitte des Cafés, bleibt dort stehen, dreht sich im Kreis, scannt die Umgebung und schiebt ihre Hände in die ausgebeulten Hosentaschen der zerrissenen Jeans. Ihre Gesichtszüge pfeifen auf die Anstandsregeln: „Wo bin ich denn hier gelandet?“, brüllt es lautlos in den Saal. Keiner nimmt Notiz von ihr. Schließlich dreht sie sich ein letztes Mal im Kreis und verschwindet wieder ins Freie.

Im Café versammeln sich um diese Zeit ausschließlich alte Menschen. Die Umgebung hilft ihnen, in der Vergangenheit zu schwelgen: rosafarbene Tapeten mit aufgedrucktem Goldglanzblümchenmuster; dazu Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem vorigen Jahrhundert plus dunkeldunkelgrüne Samtpolster, die sich an dem bisschen Tageslicht verschlucken, das durch die gelbbeglasten Fenster wabert. An der Garderobe parken vier oder fünf Rollatoren.

Unter den Alten bin ich der Jüngste. Mit Abstand. Das interessiert mich nicht, denn ich stehe unter Zeitdruck: Mir bleiben genau neunzig Minuten, um dem nervigen Redakteur seinen versprochenen Artikel zu schicken. Außerdem lässt’s sich hier bequemer schreiben als im engen Automobil und … der Brühkaffee ist wirklich nicht zu verachten.

Die Lady steht draußen auf der Straße. Sie weiß nicht wohin mit sich und der Welt. Aus ihrer Jackentasche zieht sie eine Schachtel Zigaretten ins Freie. Sie senkt den Kopf, schreit auf und schmeißt die leere Schachtel auf den Teer. Für sie ist’s ein Tag zum Vergessen.

Und ich … ich sollte meinen Artikel zu Ende schreiben, doch meine Gedanken rasen in die falsche Richtung.

Da gab es eine Zeit, in der ich fürs Leben nicht mehr geeignet war. So wie die Lady drehte ich mich im Kreis. Sinn des Lebens? Was soll das alles? Wofür, wozu, warum?

Solche Fragen nervten.

Mein bisschen Kraft brauchte ich, um den Alltag zu überstehen.

Und jetzt schreibe ich ein Buch, bei dem dieses „Sinn-Wort“ schon auf dem Titelbild steht?!?

Ehrlich gesagt bin ich überzeugt davon, dass für die meisten von uns dieses „nach dem Sinn suchen“ ein mühsamer Prozess ist. Begleitet wird diese Entwicklung immer wieder von Abstürzen; wir fallen und stehen wieder auf.

Spezialisten kommen und beraten und raten und wissen und sagen.

Wir lassen uns darauf ein, nur um irgendwann unsere Hoffnungen schon wieder begraben zu müssen.

Solche Prozesse kosten Kraft und die ist bekanntlich nicht unendlich.

Und am Ende bist du sowasvon LOST.

Soll ich behaupten, dass sich mir der Lebenssinn offenbarte, als ich Gott zum Mittelpunkt meines Universums machte?

Das wäre gelogen.

An Jesus glaube ich schon ziemlich lange. Ans Ende meiner Sinn-Suche hat mich das nicht gebracht. Dabei habe ich den Verdacht, dass diese Irrfahrt weniger mit ihm als viel mehr mit mir zu tun hat.

Bis es endlich so weit war, vegetierte ich jahrelang wie ein Astronaut im Vereinsheim der Gartenfreunde „Zur braunen Scholle“.

Am Anfang sorgte das für große Verwirrung. Ein Astronaut? Im beschaulichen Vereinsheim? Spricht der überhaupt unsere Sprache?

Dumm nur, dass der Gewöhnungseffekt viel zu schnell greift: Du gewöhnst dich an dieses Leben und die anderen gewöhnen sich an dich.

Nur nachts, wenn die Hobbygärtner in ihren Hütten schnarchen und von fett blühenden Geranien träumen, kannst du nicht schlafen. Du gehst ins Freie, stehst auf dem frisch gemähten Rasen und starrst nach oben in den Himmel.

Fetzen von Früher tauchen auf. In letzter Zeit hörst du das Lied der Sterne wieder – und die Melodie berührt dein Innerstes.

Es hat gedauert, bis ich mein bisschen Mut zusammenkratzte und die „Gartenfreunde“ zurückließ. Ich wollte zurück zu mir. Zurück zu Gott. Zurück nach Hause.

Die Geschichten in diesem Buch erzählen von meiner Reise. Ich spreche über Extrarunden, Irrtümer, über Liebe und Verlust. Ich habe mich im Kreis gedreht wie die Lady aus dem Rentnercafé. Dass ich es nach all den Wirrungen doch noch über die Ziellinie schaffte, hätte ich fast nicht mehr für möglich gehalten.

Wenn du also beim Lesen das leise Lied der Sterne hörst, dann dreh den Regler nach rechts. Und verabschiede dich von den Gartenfreunden.

Herzlichst, wo immer du gerade bist,

Thomas Meyerhöfer

LOST

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