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1. Kapitel Die Erbin des Holiday Shopping Centers
ОглавлениеKristin Nortius hatte einen Ellbogen auf den Schreibtisch und ihren Kopf mit dem kastanienbraunen Haar in die Hand gestützt. Ihre Bluse war oben aufgeknöpft, und der Chefsessel unter ihr schaukelte wie in einem trägen Tanztrott, als sie sich durch das Labyrinth einer Bilanz klickte. Mit einem Blick auf die Uhr schaltete sie den Computer aus.
Es klopfte schmal, aber klar.
„Was brennt denn noch? Sie können reinkommen.“
Eine junge Blondine mit modischer Brille und einem Bündel Arbeit in der Armbeuge stöckelte herein, Bianca, die Sekretärin. Trotz ihrer kerzengeraden Haltung gab sie der Tür hinter sich mit dem Fuß einen sanften Schubs, wodurch diese bis auf einen Spalt schloss.
Dann fragte sie: „Kann ich Ihnen vielleicht einen aufgeschäumten Espresso machen, Frau Nortius?“
„Sehr nett, aber ich hatte schon ein Dutzend. Deswegen haben Sie doch nicht geklopft?“
„Nein, die Zeitung möchte Sie interviewen.“
„Schon wieder? Mir reicht noch das Interview nach dem Attentat. Und dieser andere Batzen da, der wie Waisenkinder in Ihrem Arm liegt?“
Schräg und steil verlagerte die Sekretärin den Stapel auf ihre Taille. „Die Baufirma kann die Minigolf-Anlage in dieser Saison nicht mehr fertigstellen und hat eine Fristverlängerung beantragt. Dafür will McDonald's die Filiale in unserem Gebäude vergrößern und die Wand zur Apotheke durchbrechen, die dann natürlich verkleinern müsste.“
„Wenn McDonald's expandieren möchte, dann muss auch die Medikamentenversorgung expandieren. Was noch? Weiter.“
„Ihr Mann hat angerufen.“
Kristin seufzte. „Weiter.“
„Die Besucherzahlen insgesamt sind zwar gestiegen, aber der Betreiber der Pole-Dancing-Bar steht vor dem Bankrott.“
„Wen wundert das? Er lässt Abend für Abend dasselbe Sortiment an Frauen turnen, die ihre blanken Achselhöhlen zeigen. Das kann ich mir mit jeder halbwegs flotten Kosmetikwerbung reinziehen. Als Mann würde ich auch überlegen, ob ich dafür noch 'ne Kröte locker mache. Unsere Gesellschaft feiert ihre Neuerungssucht und giert nach mehr, mehr, mehr.“
Mit nachtblauer Krawatte war inzwischen Marco eingetreten, Kristins rechte Hand. Er bestach durch eine akkurat gestylte Frisur, athletische Schultern und einem couragierten Lächeln. „Genau das ist die Philosophie. Wofür brauchst du mich noch?“
„Ach, für tausend Geschichten, wie du hörst. Ich hab heute leider gar keine Zeit mehr und muss schon gehen“, stand Kristin verlegen auf.
Die Sekretärin schritt beladen zur Seite.
„Kippen Sie ruhig alles auf meinen Schreibtisch. Marco, würdest du bitte den Stoß durcharbeiten? Ich möchte meine Entscheidungen mit dir besprechen.“
„Aber mit Vergnügen.“
Kristin erwiderte seinen Blick, hörte den Stoß niedergleiten und äugte über die Schulter. Höflich hielt Marco schließlich die Tür auf.
„Danke schön“, sagte sie zu ihm, aber auch zu Bianca, die noch vor ihr aus dem Raum huschte. Auch von ihren anderen Mitarbeitern verabschiedete sich die Chefin.
Hallend ging sie durch das kleine Imperium, das Holiday Shopping Center oder kurz HSC.
Im obersten Stock befand sich außer den Büroräumen nur die großflächige Pole-Dancing-Bar, eigentlich geeignet als Festsaal. Es folgten ein Casino, Elektronik- und Modegeschäfte, Cafés, Restaurants, Supermarkt, Apotheke, Sauna, Massagebereich und Bowling, nicht zu vergessen innen wie außen Tennisplätze. Hier unten wimmelte es. Kristin kaufte allerdings noch zwei Papiertüten voll Lebensmittel ein, bevor sie in ihren roten Lamborghini stieg.
Mit nur mäßig überhöhter Geschwindigkeit fuhr sie in den städtischen Randbereich zu Ben.
Er entriegelte zweifach, um eine knattervolle Papiertüte in Empfang zu nehmen. „Vollkornbrot, Reis, Haferflocken, Bio-Joghurt, Obst, verschiedenes Gemüse und Salat, geröstete Pistazien, Olivenöl und noch 'ne sauscharfe Gewürzmischung“, kam Kristin mit einem Kaugummi zwischen den weißen Zähnen herein. Die andere Tüte hatte sie im Auto gelassen. „Wolltest du auch Spaghetti?“
„Alles tipptopp“, packte er in der Küche aus. „Was schulde ich dir?“
„Ben, was schulden wir dir? Du bist Wachmann mit Invalidenrente, ich 'ne Millionärin.“
„Wie läuft's denn im HSC?“, fragte er, ohne aufzublicken. „Kommst du schon besser zurecht, seitdem du es geerbt hast?“
„Stress wie eh und je“, winkte Kristin ab. Sie verschränkte die Arme. „Rainer fragt manchmal nach dir. Wie geht's deinem Knie?“
Rainer war ihr Mann, ein Orthopäde.
„Ich bin froh, dass er mein Bein gerettet hat und nicht amputieren musste. Radfahren kann ich schon fast beschwerdefrei.“
„Wo fährst du denn hin?“
„Dahin, wo ich schnell wieder wegkomme oder keine Menschenmassen sind“, öffnete Ben den Kühlschrank und staffelte die Produkte nach Mindesthaltbarkeitsdatum. „Mein psychischer Schaden ist größer als mein körperlicher.“
Kristin schwieg, während die Abenddämmerung durchs Fenster kroch und er den Kühlschrank wieder zuflappte. Wie sollte sie ihn fragen? „Morgen wird meine Halbschwester aus der Psychiatrie entlassen - auf eigenen Wunsch. Es wäre für mich eine große Hilfe, wenn du sie abholen könntest.“
Er starrte Kristin an und schluckte.
„Schaffst du das?“
Die Psychiatrie lag auf der anderen Seite der Warnow, die durch Rostock floss und in der Ostsee mündete. „Womit soll ich sie denn abholen? Mit einem Fähre-, Bus- und Bahntrip?“
„Ich leih dir mein Auto und du saust einfach über die Brücke.“
„Welches? Den Lamborghini?“
„Der bietet maximale Beinfreiheit und Schutz vor Menschenmassen“, versuchte Kristin ihren invaliden Freund zu ermuntern.
„Und damit fahre ich sie zu dir nach Hause?“
„Ähm, nein. Da würde sie einsam rumgeistern, bis mein Sohn von der Schule heimkäme. Ich dachte deshalb, dass sie vielleicht bei dir wohnen könnte.“
„Was! Hier?“ Ben versuchte die Gefühlsbrühe abzusieden, die in ihm hochschoss.
„Du fandest sie doch früher nett.“
„Das war in … einer anderen Epoche, obwohl es erst zweieinhalb Jahre her ist. Seitdem komme ich kaum noch mit mir alleine zurecht.“
„Eben. Sie würde dich verstehen. Außer dir hat niemand unter der Schießerei im HSC so gelitten wie sie. Trotzdem muss das alles ja nicht bedeuten, dass es so bleibt oder meine Halbschwester keine eigene Wohnung findet.“
„Was sagt denn sie selber zu deinem Vorschlag?“
„Oh, sie ist offen und ganz lebendig.“
„Lebendig, hm?“ Ben neigte schon immer dazu, an seine Grenzen und darüber hinauszugehen. Zudem würde er es vermutlich bereuen, wenn er sich vor diesem zugeflogenen Versuch drückte, endlich etwas zu ändern. Er lebte ja wie ein Toter. „Also gut. Ich leih mir den Lamborghini.“
„Das ist der alte Sportsgeist!“, umarmte ihn Kristin länger als sonst und gab ihm den Schlüssel. „Nur noch eine Bitte: Kutschierst du mich nach Hause? Ich bin zu faul zum Laufen.“
„Klar.“
Der rote Schlitten mit Automatikgetriebe fuhr beinahe von selbst. In der Villa, die Kristin ebenfalls geerbt hatte, schimmerte Licht.
„Vergiss nicht deinen eigenen Einkauf“, hievte Ben einarmig ihre Papiertüte vom Rücksitz und sah Chips oben liegen. „Dafür hast du noch eine gute Figur.“
„Wer sagt, dass die für mich sind?“, schäkerte sie.
„Sind sie das nicht?“
„Nur wenn ich frustriert bin. Kommst du noch mit rein?“
Er schüttelte den Kopf. „Grüß Rainer von mir. Wir wollen es mal mit der Sozialität nicht übertreiben.“
„Nein, versteht sich. Um neun Uhr morgens kannst du sie abholen“, stieg Kristin aus. „Danke nochmals und viel Glück!“
Grübelnd kehrte er um, und sie ging in die Villa.
„Hallo, Liebling“, grüßte Rainer sie. Er saß wie ein schmusiger Eisbär von 42 Jahren auf der Couch und schaute mit dem Sohn einen fantastischen Zeichentrickfilm.
Der dunkelblonde Zweitklässler war leicht pummelig und in der Schule weder unbeliebt noch beliebt, aber ein Stubenhocker. Vorhin hatte er noch fröhlich gelacht, doch als seine Mama reinkam, musterten seine von Natur aus großen Augen sie keinesfalls zutraulich.
„Na, was glotzt ihr da?“, drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange.
Er drehte sich wieder zum Bildschirm. „Nichts.“
„Für Nichts ist das aber ganz schön viel.“
„Viel Nichts.“
Kristin riss die Chipstüte auf und mampfte im Stehen. Es ärgerte sie, dass sie keinen Zugang zu ihrem Sohn fand. Was machte sie falsch? Gut, sie hatte ihm zu früh das Inlineskaten beibringen wollen und er war auf die Schnauze gefallen, solche Sachen eben. Das durfte doch nicht der Grund sein, dass er sich nur noch an seinen Vater klammerte?
Rainer hob dafür seine Schnute, als möchte er etwas von dem knusprigen Salzgeschmack in Kristins Mund abhaben, und sie beugte sich fast widerwillig zu ihm. Vor Langeweile hätte sie kotzen können.
Sie streckte den zwei die Chipstüte hin und sagte zu ihrem Mann: „Wie war's in der Praxis? Ich soll dir Grüße von Ben ausrichten.“
„Oh, das freut mich …“ Rainer begann zu reden, und sie hörte überhaupt nicht zu. Auf Fragen antwortete sie wie ein Android aus weiter Ferne. Zwischenzeitlich zog sie sich sogar im Schlafzimmer leger um.
Sie hatte schon lange keine Lust mehr auf ihren Mann. Nicht zu ändern. Für dieses Gekuschel und Ohrengeschlabber fehlte ihr einfach der Nerv. Wenn er sie kurz entschlossen durchgevögelt hätte, dann wäre das natürlich etwas anderes gewesen.
Doch Rainer liebte Kristin. Er wusste, wie viel eine Managerin leisten musste, und hatte sich anscheinend entschieden, nichts Negatives über seine Frau zu denken.
Morgen würde sie auf jeden Fall länger im Büro bleiben. „Ich muss noch telefonieren“, sagte sie zusammenhangslos.