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4. Kapitel Ein trautes Gelage

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Wann immer Lina etwas in den Händen hatte, ließ sie es irgendwo liegen, und er musste es ihr hinterherräumen: eine Nagelfeile, ein Handtuch, ein iPhone. Ja, sie besaß tatsächlich ein Handy von Apple.

Lieber als im engen Käfig der Wohnung schlenderte sie allerdings im Freien rum - drei, vier Stunden, weiß der Teufel, wohin. Vom Frühstücken hielt sie nix, und vom Mittagessen auch nicht sehr viel. Dafür brachte sie im Abendlicht mit Jeansshorts und einem Fähnchen bekleidet blassrosige Hähnchen vom Schlachter.

„Grill die bitte für uns!“, sagte sie zu Ben.

„Erstens lasse ich mir nichts befehlen.“

„Ich habe ›bitte‹ gesagt.“

„Zweitens ernähre ich mich zum größten Teil vegan, weil ich Blut und Tod satthabe.“

„Dann musst du eine triumphale Portion Gemüse dazu essen, damit so ein Hähnchen nur noch einen kleinen Teil ausmacht. Am allerwenigsten möchtest du sicher, dass es umsonst gestorben ist. Ich pinsle die Marinade drauf, und sei froh, dass die Tierchen schon ausgenommen wurden. Wir hielten früher Eingeweideschau, um daraus den Willen der Götter zu wahrsagen.“

Ein Irrsinn!, ärgerte sich Ben nutzlos.

Obwohl er ihr bei der Zubereitung half, wollte er seinen moralischen Prinzipien treu bleiben und nichts von dem Fleisch essen. Allem voran trug er deshalb Paprika-Reis, gegrillte Auberginen, Bohnen und gemischten Salat auf.

„Warum deckst du den Tisch?“, breitete die eingebildete Römerin eine bestickte Decke auf den Wohnzimmerboden und fläzte sich seitlich wie ein Filmstarlet hin. Unter ihren Arm häufte sie weiche Kissen.

„Das ist nicht dein Ernst, Lina?“

„Sogar schon die Etrusker, Phönizier und Babylonier, ganze Äonen haben im Liegen gegessen.“

„Ja, aber jetzt lebst du in der Moderne.“

„Man muss nicht jeden Trend mitmachen.“

Wollte sie ihn necken, oder was? Er machte selber auch nicht alles mit, aber in diesem Fall konnte er ihr unmöglich Recht geben. „Tu, was du willst.“ Dann stellte er sich jedoch vor, wie er am Tisch aß und die Frau auf dem Boden liegen ließ. Das war auch nicht akzeptabel. „Na schön“, suchte er den Kompromiss, „ich werde zu dir kommen, mich aber eher auf den Boden setzen.“

Er verfrachtete bückend die Schüsseln und Teller in sorgfältigster Anordnung auf die Decke. Linas Magen knurrte behaglich wie eine Katze, als Ben endlich die würzige Dampfwolke aus dem Ofen ließ und beide Hähnchen auf einer Platte in ihre territoriale Hälfte rückte. Sofort verspürte er Durst und stellte eine Karaffe frisches, klares Wasser mit Gläsern dazu.

„Vorzüglich, es fehlt nur noch der Wein. Bestecke brauche ich nicht“, lächelte Lina.

„Willst du auch gleich aus der Flasche trinken?“

„Nein, das ist nicht mein Stil.“

Nicht ihr Stil, tss. Ben holte den Wein, begab sich mit einem Gelenkknacken in den Lotussitz und entkorkte die Flasche eingeklemmt zwischen seinem Schoß (schön am Phallus, wie es Lina sah). „Auch den“, goss er ihr diesen ›Feudo Montoni‹ und sich hingegen Wasser ein, „musst du alleine genießen.“

„So sei es denn. Auf Fortuna, Mars und den souveränen Jupiter - prost!“, ließ Lina die Gläser wie einen kitzligen Gong erklingen.

Dann riss sie einen krossen Schlegel ab und biss saftig hinein. Mithilfe einer Waage füllte Ben sich Reis in ein großes Schälchen und Gemüse auf den Teller.

„Warum wiegst du das ab?“

„Damit ich nicht mich wiegen muss.“

„Du pflegst verrückte Riten.“

„Das musst gerade du sagen“, konterte er.

Mit triefenden Fingern langte sie in den Reistopf.

„Lina!“

„Was denn?“

„Hast du in der Anstalt auch als so ein Schwein brilliert?“

Sie machte ein verdrossenes Gesicht. „Was glaubst du, warum ich da rauswollte? Die haben mich behandelt, als wäre ich ein kleines Gör und nicht schon tausendsechshundertzweiundsechzig Jahre alt. Aber die Unwissenden meckern immer gern über die Sehenden“, kippte sie den Wein in sich und hielt Ben nochmals ihr Glas hin. „Wärst du so gut?“

Entweder den Hals umdrehen oder weise Nachsicht üben. Er drückte beide Augen zu, kehrte in sich, öffnete sie wieder und schenkte Lina nach.

„Sehr liebenswürdig.“ Vollmundig, fast ehrgeizig widmete sie auch dem Geflügel ihre Esslust und fingerte dazwischen nur noch knackige Salatblätter aus der Schüssel. „Weißt du, dass du dich wie ein Asket verhältst?“

„Ja.“

„Führt dich denn nichts in Versuchung?“

Er streifte mit dem Blick das zartfeste Frauenfleisch ihrer Beine und senkte schweigend den Kopf.

„Du versteifst dich aus Angst in Sicherheitsmanövern. Das ist keine Schande. Denn wer keine Angst kennt, der kann auch nicht tapfer sein, nur blöd. Aber schade finde ich's. Du müsstest nur die Hand ausstrecken und das Leben würde dich mit herzhaften Freuden beschenken.“

Er aß bald schneller, bald langsamer, je nachdem, wie seine Gedanken wühlten oder stockten. Stärker erlahmte Lina. Doch sie sperrte einfach die Knöpfe ihrer Jeansshorts auf, verlagerte ihre Liegeposition und schlemmte auch dem zweiten Hähnchen die marinierte Haut runter. Zügellos frönte sie der Völlerei.

Wäre Ben ein Maler gewesen, so hätte er sich hinter eine Staffelei gestellt und über das Bild nicht ganz richtig geschrieben: ›Eine archaische Interpretation modernen Intervallfastens.‹

„So wie du allerdings dasitzt“, stieß Lina hinter vorgehaltener Hand erleichtert auf, „zählst du immerhin nicht zu diesen erbärmlichen Christen.“

„Ich zähle zu gar niemandem.“

„Glaube mir, Ben: Ich weiß, wie es sich anfühlt, von niemandem mehr verstanden zu werden und nur noch eine Geistestruhe voller Erinnerungen zu haben.“ Ihre Lippen hinterließen rotglänzende Fettabdrücke am Glas. Die ganze Weinflasche schwappte in ihr. „Is' mit mir auch nicht leicht.“

Ben aß auf. Seine Gefühle prallten aufeinander wie die romantischen Trümmer einer Tempelstadt. Dennoch geduldete er sich, bis auch sie fertig war und auf den Rücken rollte, ja fiel. Ihr Bauch wölbte sich obszön.

Abräumend stand er auf, verzog sich in die Küche und schrubbte das Geschirr blank. Doch Linas Gestöhne ließ ihm keine Ruhe.

Offensichtlich schaffte sie es nicht mehr, aufzustehen. „Komm, mein hochgeborenes und hochdiszipliniertes Fräulein“, half er ihr, „sicher willst du nicht auch noch auf dem Boden schlafen.“

„Ich hab so … Bauchschmerzen.“

„Ach wirklich?“

„Ja, ich bin zu vollgestopft.“

Trotzdem fiel es ihm nicht schwer, sie ins Bett zu tragen. Behutsam versuchte er die Tür zu schließen.

„Ben“, winkte sie ihn zurück.

Welche Schlauheit wollte sie ihm denn noch zuflüstern?

„Gut gekocht“, berührte ein Kuss seine Wange.

Sie schlief seit fünfzehn Stunden, und er konnte seine Tageseinteilung nicht von ihren Launen abhängig machen. Also begann er mit seinen Sit-up's. Eins, zwei, drei …

Kurz darauf öffnete sich mit gähnender Anmut die Schlafzimmertür. Er drehte nicht den Kopf, aber er spürte genau, wie ihn Lina angaffte. Mit zusammengepressten Zähnen versuchte er sich zu konzentrieren. Vier-, fünfundvierzig?

„Verflixt, Lina, jetzt habe ich mich verzählt.“

„Auf wie viel wolltest du denn zählen? Du machst einfach weiter, bis du nicht mehr hochkommst.“

Angesichts ihres gestrigen Gelages riss ihm bei dieser Bemerkung der Geduldsfaden. Er schnellte in die Höhe und …! Darauf war er nicht vorbereitet.

Sie stand splitternackt vor ihm. Die Nippel ihrer straffen Brüste schauten ihn wie Speerspitzchen an, und ihr Bauch war wieder flach. Anscheinend hatte sie einen guten Stoffwechsel.

„Ich wollte ins Bad.“

„Kannst du dir nicht trotzdem was anziehen?“

„Leider nein. Ich hab nur noch ein Kleid, alles andere ist in der Wäsche, und du wolltest nicht mit mir shoppen.“

Ben wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Wunderlicherweise war er gerade jetzt den Tränen nahe, doch sie merkte es.

„Ich bummle nachher durch die Geschäfte. So hast du noch ein bisschen Ruhe.“

Er nickte vor sich hin, verwirrt. „In einer Dreiviertelstunde gibt es Mittagessen.“

„Ich habe nicht den allerkleinsten Hunger. Aber deine Anstrengungen sind hübsch“, drehte sich Lina um.

Als es nach langen und stillen Stunden wieder an der Tür klingelte, stellte Ben betroffen fest, dass er sich freute. Ohne durch das Guckloch zu linsen, öffnete er.

„Kristin?“

„Hey, ich hab doch versprochen, dass ich komme“, spazierte die Geschäftsfrau nichtsdestoweniger vorsichtig rein. Im Wohnzimmer verharrte ein voller Wäscheständer in seinem stupiden Dienst, und trotz eines geöffneten Fensters roch es nach einer veränderten Aura. „Wo ist Lina?“

„Einkaufen.“

„Oh, wie schön, dass sie dir hilft. Endlich bist du nicht mehr auf mich angewiesen.“

„Ich weiß nicht, ob man das als Hilfe bezeichnen kann. Sie ist die reinste Zumutung …“, bot er Kristin mit einer Geste an, Platz zu nehmen.

Sie setzte sich und hörte ihm zugleich wie eine Beschwerdestelle zu. Mitten aus ihrer ernsten Miene verfiel sie jedoch in einen Heiterkeitsausbruch.

„Das ist nicht lustig.“

„Nein, entschuldige.“

„Ich könnte sie manchmal durchschütteln.“

„Mach dir nichts vor, Ben. Du bist ein Kavalier.“

Plötzlich fiel ihm ein: „Ich hab ihr für die Shoppingtour überhaupt kein Geld gegeben.“

„Wozu sollst du was von deiner Invalidenrente abknapsen?“ Kristin senkte die Stimme, als könnte es ihre jüngere Halbschwester hören, der sowieso alle Geheimnisse schnuppe waren: „Sie hat auch ein paar Milliönchen geerbt.“

Ben konnte nicht lange dem Gedanken hinterherspringen, was das vielleicht für ihn bedeutete. Denn schon tirilierte wieder die Klingel, und diesmal war es Lina.

„Sieh an, mein Schwesterherz stattet uns einen Besuch ab“, stellte sie die silbernen und feigenroten Boutiquentäschchen hin.

Kristin richtete sich sofort auf. In Wirklichkeit war sie keineswegs so taff wie Lina und hatte sogar etwas Angst vor ihr. Entsprechend unsicher fiel die Umarmung aus.

„Ben hat mir gesagt, dass ihr euch gut versteht?“, behauptete Kristin. Dabei warf sie ihrem verdutzten Kumpel einen Seitenblick zu, dass diese glatte Lüge doch ganz nett und fromm sei.

„Sehr gut sogar. In Vaters Domizil wäre es langweiliger.“ Vaters Domizil? Meinte sie den Kaiserpalast? Oder wollte sie sticheln, weil sie nicht in der Villa Nortius wohnen durfte?

Kristin stutzte, wie der arme Ben die hübsche Irre in den Griff kriegen könnte. Doch vorerst wusste sie keinen Rat und fragte einfach dieselbe: „Was hast du denn Schickes gekauft?“

Lina entfaltete die Kleidungsstücke und zog sich auch jetzt zwanglos aus, um eins nach dem anderen vorzuführen. Zwar trug sie dieses Mal einen Seidenschlüpfer, aber die Erfindung von BHs hatte sie wohl vergessen.

„Mann, Mann, Mann“, gab Kristin anerkennend von sich, ohne Ben aus dem Auge zu lassen. „Na, sag schon, ist das auch dein Geschmack?“

Bescheiden antwortete er: „Ja.“

Lina lächelte stolz.

„Darf ich?“, nahm Kristin dieses oder jenes Kleid in die Hand, das auch ihr stehen könnte. Für den Bruchteil einer Sekunde reizte sie die Vorstellung, es wie Lina zu machen, aber ein bisschen langsamer sollte sich der Sittenverfall schon vollziehen. „Das eine hast du in der Innenstadt und das andere in der KTV gekauft, oder? Bist du mit der Straßenbahn hin und zurück?“

„Per pedes.“

„Per pedes?“, wiederholte Kristin.

Ben erklärte: „Zu Fuß.“

„Zu Fuß!?“

„Wir Römer“, antwortete Lina, „wanderten von Gallien bis nach Konstantinopel und noch viel weiter.“

„Aber sicher nicht auch die Frauen?“

Lina zog maliziös eine Braue hoch. „So eine Tabellenschleckerin würde natürlich aus ihren Latschen kippen.“

Ben wartete, wie Kristin auf diese freche Beleidigung reagieren würde. Doch sie hatte sich einmal bei einem Psychiatriebesuch mit der Jüngeren angelegt und war von deren Argumenten plattgemacht worden. Seitdem hielt sie es für geschickter, alles zu schlucken.

„Tja, bei so ausdauernden Märschen dürfte es euch nicht stören, wenn ich den Lamborghini wieder mitnehme.“

„Natürlich nicht, und außerdem hab ich noch mein Fahrrad“, holte Ben im Gang den Autoschlüssel. Fast hätte er die Frage drangehängt, wie Kristin denn hergekommen sei. Aber das hätte sie vermutlich in Verlegenheit gebracht, weil sie sich kutschieren ließ (von Marco).

„Dann gute Fahrt“, winkte Lina einfach.

Kristin ließ sich von Ben die Tür öffnen. „Wir sehen uns“, umarmte sie ihn, so dass sich ihr Mund dicht an seinem Ohr befand. Inzwischen war ihr ein Rat eingefallen. „Du solltest sie dringend bumsen.“

Die Maskerade

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