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Kapitel 2

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Von dem grotesken Missverhältnis zwischen der Menge Alkohol, die Holger der Kritiker verträgt, und derjenigen, die er an Abenden wie dem Beschriebenen tatsächlich zu sich nimmt, ungut determiniert, beginnt der folgende Morgen für den alten Schwarzseher vom "Boten" einigermassen fatal. Von dem in seiner ganzen hageren Länge auf dem Bett ausgestreckten Körper schauen nur die schmalen Augen und die hohe Stirn welk aus dem Pfühl hervor, ein lauernder Schmerz hinter den Schläfen zwingt den Mann zu weitgehender Regungslosigkeit und verhindert einstweilen den dringenden Gang ins Bad, wo sich sowohl der erhebliche Druck auf seiner Blase, wie auch der üble Geschmack in seinem Mund um einiges lindern liesse. Vor dem Bett auf dem Boden liegt seine halb bewusstlos abgelegte Abendgarderobe und daneben das knittrige Bahnbillett, welches ihm Lisa wie auch den übrigen Geladenen, zum Abschied überreicht hat. Ein erster, jedoch allzu forscher Versuch, sich nun doch aus der oder auch über die bedrückenden Haltung der Kranken und Toten zu erheben, misslingt, aufgrund eines plötzlichen stechenden Schmerzes hinter seiner Stirne, kläglich und stöhnend senkt sich das faltige Raubvogelhaupt Fahrts in die tröstenden Kissen zurück. Erst ein zweiter, sehr viel bedächtigerer Anlauf, unter behutsamer Umgehung der über zweihundertzwanzig in der Medizin bekannten Arten von Kopfschmerz, gelingt und mit der gebotenen Vorsicht tappst der Geschundene nunmehr ins Bad, wo er sich mit seinen knochigen Händen kaltes Wasser in das bittere Gesicht schaufelt und schwankend einen nicht enden wollenden Morgenstrahl in die grellweisse Porzellanschüssel des Lokus abschlägt. Erst nach der ersten Tasse starken Kaffees und einem mühsam verdrückten Frühstücksbrötchen lichtet sich sein Verstand soweit, ein wenig Ordnung ins gestrige Geschehen zu bringen. Das war ja tatsächlich ganz unerhört, was sich der schwarze Lothar da mit seiner Turmentsetzung hat einfallen lassen; und welche Begeisterung hat er damit entfacht! Zu köstlich auch das Gesicht Enricos, der, mit einem Mal ins zweite Glied gedrängt, sich doch bemühen muß, eine gute Miene aufzusetzen, nachdem der Kelch ihm so herrlich die Schau gestohlen hat. Ganz verteufelt übrigens die Sache mit dem Tao Te King! Wie kommt der alte Windbeutel vom Stadttheater bloß auf so eine ausgefallene Idee? Regelrecht blamabel das und doch, wenn man es recht besieht, auch nicht ganz ohne Ironie und echte Komik von der Art, wie sie vermutlich am ehesten zu dem skurillen Humor von Zacharias Himmelblau selber passt, der hier höchstwahrscheinlich in voller Absicht, um seinen Witz an ihnen zu üben, seine Krämerfinger im Spiel hat. Ein kleiner Besuch ist da wohl sicherlich erhellend! Jedenfalls ist der Lothar da mit etwas Unerhörtem angekommen und im Handumdrehen hat uns der alte Grabbeschicker plötzlich alle hellwach gemacht. "Auf zu Hölderlins Turm!" wurde geschrien, skandiert, getanzt und begossen und zum Schluss hat sich`s der Vogel nicht nehmen lassen, aus einem kleinen Bändchen mit Gedichten aus der Feder des Poeten einiges Passendes vorzutragen. "Ein Bund," wurde gerufen "ein Bund muß her, zur Rettung von Turm und Klause, ein Bund nach klassischem Vorbild, ´die Türmer` oder so, ein Zug der Gutmütigen, der Dichter, Denker, Künstler und anderer Deliranten zur Wahrung von Erbe und Kultur. Ein Kreuzzug zur Befreiung des ´heilgen Gefässes`, des dichterischen Grals aus den Klauen der Finanz-Sarazenen mit unserem Bestatter als ernstem Mahner gleich vorn an der Spitze!" Der Vorschlag traf auf allgemeine Zustimmung und Begeisterung, bloß der Name wollte nicht heraus. "Die Serapionsbrüder" wagte Blaubauer vorzuschlagen, aber Lara fuhr ihm gleich dazwischen mit der Bemerkung, wenn sich seit den Zeiten Hölderlins etwas zum Guten gewendet habe, dann dies, daß der weibliche Teil der denkenden Menschheit sich seinen Platz am literarischen Geschehen sowohl aktiv wie auch passiv endlich erobert habe und darum nicht geduldet werden könne, daß das Unternehmen Dichterturm bloß aufgrund einer Reminiszenz an alte Zöpfe einseitig männlich subsumiert würde und daß sie sich aus diesem und auch noch einem guten Dutzend weiterer Gründe, die hier alle aufzuführen sie sich und den Umstehenden ersparen wolle, weigere den Herren Rittern auf ihrer Abenteuerfahrt lediglich die Minne zu machen in Gedanken und womöglich noch den Haushalt in Realiter. Ihre Schwester und auch Paula fielen lauthals in die gleiche Melodie mit ein, so daß dem verschreckten Doktor nichts anderes blieb als der Rückzug. Die daraus resultierende Lähmung des männlichen Teils der Gesellschaft wurde von dessen weiblichen Widerpart äusserst enthusiastisch genutzt und in wirrer Folge sprudelten Vorschläge wie Gebirgsbäche herunter, einer Bemerkung des alten Jean Paul recht gebend, nach der es die Art der Frauen wäre, tausend halbe Gedanken zu haben, aber keinen Ganzen. "Die fahrenden Musen" hieß es da oder "Die Holdristen", noch abgewandelt in "Die Holden" und so weiter und so fort, alles völlig inakzeptabel und eigentlich schon erledigt, noch bevor es ausgesprochen war. Schließlich kam Sybille mit der Idee, vor der offensichtlich schwierigen Geburt eines Bundesnahmens doch zuerst eine Bundessatzung zu verabschieden, wie sie einer Unternehmung dieser Tragweite billigerweise zukomme, nicht im Sinne, versteht sich, einer Art Bundes-Badeordnung oder etwa wie Regelkorsett und Sittenzwinge eines deutschen Kleingartenvereins. Nein, sprach sie, sie denke eher an eine Art ´aszendenten Imperativ` zur allgemeinen Hebung von Seele und Moral, ja Moral - zischte sie in Richtung Enricos, dessen Kirchern aus der Phalanx seiner adretten Entourage heraus deutlich vernehmlich war - Moral im Sinne einer über die Anforderungen einer bloß materialistischen Zeit mit ihrer Verkürzung des menschlichen Seins auf Vernunft und Broterwerb und, meinetwegen, auch noch der Leibesertüchtigung, hinausweisenden Geisteshaltung, einer inneren Verfasstheit des Bundes zur Förderung und Erhaltung eines dem Höheren verpflichteten Strebens. Das leuchtete allen ein, zumal man einhellig der Auffassung war, daß aus den Wehen einer solchen Satzungs-Niederkunft die Namensgeburt am Ende fasst von selbst erfolgen müsse. Auf das von Sybille somit neu abgesteckte Terrain wagten sich nunmehr auch wieder die Herren, zur Überraschung aller Jannik voran, mit einem ersten provisorischen, an der japanischen Dichtkunst orientierten Paragraphen, der da lauten sollte: "Die Morgensonne, Ach. . ." mit Referenz, wie er sich beeilte hinzuzufügen, an das altehrwürdige Zen und das noch ältere Kundalini-Yoga, welches sich, wie allgemein bekannt, seit jeher mit einer zu Höherem und Höchstem gestimmten Gemütslage dezidiert und intensiv befasse und insbesondere auch an die hieraus abgeleitete Übung des Surya-Namaskar, des Sonnengrusses, als Zeichen der Hinwendung zum Licht und zur Erneuerung, auf den der Paragraph auf subtile Weise anspiele. Der Vorschlag stieß auf allgemeine Heiterkeit, hie und da aber durchaus auch auf Zustimmung, schon wegen seiner ungewöhnlichen Stoßrichtung, wurde in Summa aber dennoch verworfen. Etwas mehr Glück war da einer Idee Enricos beschieden, der, nicht ohne Seitenhieb auf Holger, als seinen Beitrag zur Bundesordnung die Aufforderung verstanden wissen wollte, alle Kunst und jeden Künstler jederzeit und überall besonders zu beachten und zu ehren, da Achtlosigkeit und Ehrlosigkeit dem Künstlerischen gegenüber eine der Hauptursachen für den Verfall von Kultur und Geist und Sitte des Menschen sei und wohin das führe, sehe man ja gerade in Tübingen genau, weshalb sich der Bund ja eigens zu gründen gedenke. Trotz der nicht gänzlich zu überdeckenden Eitelkeit dieses Vorschlags des schon beruflich stets auf Wirkung bedachten Theatermanns wurde die Sache insgesamt beifällig aufgenommen und als erster Posten auf der neuen Bundeslade in roher Fassung aufgenommen. Desweiteren tat sich Paula "die Boa" mit dem Vorschlag hervor, die Bundesmitglieder täten freiwillig Verzicht auf alle Handlungen und Substanzen, die die Klarheit des Geistes mindern und beinträchtigen könnten und bekennten sich statt dessen zu äusserster Reinheit von Körper, Geist und Seele, soweit dies in den Kräften des jeweiligen Mitgliedes stünde, worauf sich besonders unter den Männern einiges Gemurmel erhob, dessen Bedeutung nicht ganz klar wurde, welches aber vermuten liess, daß, wiewohl man hier nicht gut laut widersprechen konnte, deren Begeisterung für die Idee eindeutig in engen Grenzen blieb. Die Aufnahme des Paragraphen, für den sich neben Lisa und Lara allerdings auch Lothar Kelch stark machte, erfolgte insofern unter Vorbehalt. Schließlich war es Letzterer, der, nach einigem weiteren Für und Wider verschiedener Ansätze, die Sache ins Fahrwasser brachte mit dem naheliegenden Gedanken, daß man, da ja die ganze Bundesgeschichte letztlich auf das Andenken Hölderlins oder vielmehr das Fehlen desselben seitens der Tübinger, zurückzuführen sei, er sage das ganz ohne Schmeichelei der eigenen Person, wenngleich er nicht verhehlen wolle, daß der Umstand, daß es seiner Wenigkeit vergönnt gewesen sei, mit einer Herzensangelegenheit im Kreise seiner Lieben auf so fruchtbaren Boden gestossen und somit zum Ausgangspunkt und Urferment der Bewegung, wenn er so sagen dürfe, geworden zu sein, ihn über die Massen erfreue, was aber letztlich natürlich völlig nebensächlich sei, daß man also, da eben niemand anderes als Friedrich Hölderlin als eigentlicher Patron des Bundes zu gelten habe, doch gut daran täte, aus dem unerschöpflichen Brunnen dessen Oeuvres das Ein oder Andere ans Licht zu ziehen und zur Maxime auszurufen. Dem konnte und wollte dann auch niemand widersprechen und so konnten gegen Ende des Symposiums erfolgreich folgende Artikel als für jedermann und -frau verbindlich festgehalten werden:

1. Ars longa, Vita brevis

2. Heilig Gefässe sind die Dichter

3. Wohin denn ich?

4. Immer nach Hause

Die nachfolgend einsetzende Erschöpfung der Konventsteilnehmer ist erklärlich, zumal nun der Morgen nicht mehr weit und eine anständige Anzahl von Flaschen ausgetrunken war - die Versammlung wurde daher einstimmig vertagt, weitere Beschlüsse wurden nicht gefasst.

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