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Kapitel 3

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Zwei weitere Tassen Kaffees helfen Holger den restlichen Nebel, der sich im Gegensatz zur Natur, wo er durch Kondensation von Wasser in der feuchten Luft entsteht, bei Zechern gerade infolge des durch den alkoholischen Flüssigkeitsentzug ausgetrockneten Körpers im Gehirn ausbreitet, soweit zu lichten, daß er, nachdem diese Ereignisse vor seinem geistigen Auge Revue passiert sind, in der Lage ist, sich, wenn auch verständlicherweise eher noch verdriesslicher gestimmt als sonst, ins Redaktionsbüro des "Städtischen Boten" zu begeben, um dort einen seiner beliebten und gefürchteten Würz- und Essigartikel über das kulturelle Leben der Stadt abzufassen, welcher heute, und dies lindert seine postalkoholische Depression denn doch erheblich, die vorabendliche Aufführung des "Eingebildeten Kranken" nach einer Inszenierung von Nikolaus Jung mit Enrico Morgen in der Hauptrolle behandeln soll, jenes Stück, dessen Aufführung seinem und Enricos anschliessenden Auftritt auf Lisa Lands Festgesellschaft wenige Stunden vorausgegangen war. Im angenehmen Vorgefühl auf die willkommene Gelegenheit, dem ungeliebten taoistischen Konkurrenten von seinem Schreibtisch aus, quasi ex Kathedra, eins auswischen zu können nimmt er auf seinem Stuhl Platz und beginnt den Verriss mit geradezu erstaunlichem Schwung, auch wenn er zu seinem Bedauern wenigstens auf Jung ein wenig Rücksicht zu nehmen hat, da dieser, wie Fahrt sehr wohl weiß, mit Harald Willig, dem Herausgeber des "Boten", regelmässig Golf zu spielen pflegt und Willig ungern seine Schäfchen von anderen als ihm selbst scheren und rasieren lässt und mit Harald Willig wiederum durchaus nicht zu spassen ist. Holger tippt daher zunächst einleitend einiges Lobende über Ausstattung und Auffassung des beliebten Klassikers flüchtig in die Maschine, um dann, mit deutlich gesteigerter Akribie, auf Morgen in der Hauptrolle zu sprechen zu kommen. "Morgen war wie meistens," schreibt er, "eine schwere Belastung für Inszenierung und Stück. Wenn er die einzige Rolle des Abends zu spielen gehabt hätte, hätte man besser daran getan die Hälfte des Titels ´Der eingebildete Kranke` wegzulassen - das wäre dann nämlich gerade keine halbe, sondern eine ganze Wahrheit gewesen, denn krank war er nicht, ich habe selbst hernach noch mit ihm schlampampelt." und so in diesem Sinne einiges mehr für seine geliebte Artikelsammlung über den Schauspieler, die ausgeschnitten an einer Wand seines Büros hängt und in der kein Bonmot über Namen und Mann, wie "Wieder war Morgen von Gestern!" oder "Schiebe alles stets auf Morgen!" fehlt.

Nachdem er solcherart die seinen noch immer nervösen Magen drangsalierende Galle ausgelassen und umgekocht hat, beschließt er, in deutlich gehobener Stimmung, den verbleibenden cholerischen Schwung für den fälligen Besuch bei Zacharias Himmelblau, dem einzigen Bücher-Antiquar des Ortes, zu nutzen, um bei diesem peinliches Gericht abzuhalten für das bewusste Geschenk-Plagiat und dem Vogel für seine Dreistigkeit gehörig die Federn zu stutzen. Betritt also schnurstracks den Laden, in dem der ledrige Alte mit mehr Haaren in den Ohren als auf dem Kopf in seinem immergleichen ausgebeulten Stresemann, von dem kein Mensch weiß, wie der die Jahre überdauert hat, hinter Bergen von Büchern, wach wie ein Sperber, nistet, hüstelt, tritt näher und spricht: "Höre, Himmelblau, welcher Schalk hat dich geritten mit meinem Tao Te King? Von wegen einmalige Ausgabe eines einmaligen Buches! Blamiert hast du mich, vor Lisa und den Leuten und vor allem vor dem unsäglichen Morgen, der womöglich eben jetzt die Sache in der ganzen Stadt erzählt!" "Nu," spricht der Alte, dessen Gesichtsausdruck für Holger nicht zu deuten ist, "es war ja nicht das Gleiche." "Nicht das Gleiche? Du willst wohl sagen, weil ich zu Enricos Strauss den Wilhelm habe, staunt die Welt wie unterschiedlich zwei Geschenke für die gleiche Person ausfallen können, wenn die Schenker so verschieden sind wie Morgen und ich? Was? Halunke, meinst du, all die anwesenden Evangelisten meiner Blamage sehen sich um ihren Spass gebracht, bloß weil es eine andere Übersetzung war?" "Nu, so kann sie vergleichen." "Vergleichen!" brüllt Fahrt, allmählich wirklich in Wut gebracht, "Etwas einmaliges hab` ich gesagt, für eine besondere Frau und nichts von diesen Possen, die du da.." In diesem Augenblick geht vernehmlich die Ladenglocke, so daß sowohl der tobende Fahrt, als auch der nun verdächtig schmunzelnde Alte innehaltend zur Türe schauen, in der im besten Putz und wie stets gepflegt, als ob die Nacht ihm nie gewesen wäre, ebenso überrascht wie die beiden Vorigen - Enrico steht, einen Spazierstock in der Hand und sichtlich etwas aus dem Schwung gebracht durch die einigermassen unangenehme Anwesenheit seines leidigen Kontrahenten. Da die gestern erarbeitete Satzung nichts über den Umgang der Bundesgenossen miteinander bestimmt, beschließt er jedoch, sich einstweilen keine Blösse zu geben, nickt dem allgemein städtischen wie in Personalunion auch seinem ganz persönlichen Generals-Kritikaster nur eben kurz zu und wendet sich sodann entschlossen dem amüsierten Antiquar zu: "Sag mal, Himmelblau," hebt er an zu sprechen, "was sind das für Narreteien, die du mit mir und Bittermandel hier treibst, der zurecht noch trüber blickt als sonst? Was hast du dir dabei gedacht, mein herrliches Unikats-Fibelchen des alten Meisters durch die Hände dieses Distelschmeckers plagiieren zu lassen, daß mich die Schande trifft vor Lisa und den Leuten? Alter Ränkeschmied, was ist da in dich gefahren?" "Nu," brummt der Alte, seine sich steigernde Heiterkeit mühsam hinter einer gleichmütigen Miene verbergend, "eine Sache, die beim zweiten Mal nicht gefällt, war auch das erste Mal nichts wert und umgekehrt, ist sie das erste Mal von Wert, freut man sich beim zweiten Mal noch mehr. Von dem alten Meister aber gibt es unzählige Übersetzungen und noch mehr Kommentare und noch viel mehr Deutungen, ununterbrochen geschrieben und verfasst und gedruckt seit mehr als zweitausend Jahren. Wie könnt ihr da sagen, eure beiden wären zu viel? Im übrigen bin ich alt genug um jeden Beitrag zur Heiterkeit, und sei`s nur meiner eigenen, höher zu schätzen als das ganze China samt seinen Kaisern und Gelehrten. Verdruss ist genug in der Welt. Lest nur einmal diesen Aufsatz im Börsenblatt des Buchhandels, den ich heut morgen durch die Post bekam." Aufgespannt wie Drähte zwischen ihrer beiderseitigen Empörung einerseits und der Neugier auf den Artikel des kauzigen Antiquars andererseits zucken die beiden Protestanten unschlüssig hin und her, um dann gleichzeitig mit den Köpfen nach vorn zu schiessen, wohin Zacharias Himmelblau das Blättchen hält. Derart unvermutet beinahe Wange an Wange beginnen die Beiden zu lesen: "Stadtkämmerer Bischoff: Hölderlins Turm vor dem Aus! Wie Stadtkämmererer Klaus Bischoff im Gespräch mit dieser Zeitung bestätigte, übersteigen die zu erwartenden Kosten für die anstehende Renovierung des Hölderlin-Turms die finanziellen Möglichkeiten der Stadt Tübingen in Anbetracht der angespannten Lage des kommunalen Haushalts bei weitem. ´Wir können dem Bürger nicht erklären, warum wir an sämtlichen Einrichtungen sparen, nur um gleichzeitig mit Millionenaufwand einen Turm zu sanieren, in dem weiter nichts zu sehen ist als ein paar Bücher und Vitrinen.` sagt Bischoff. Er für seinen Teil als Verantwortlicher für den Stadtsäckel werde in der nächsten Ratssitzung jedenfalls für die Schliessung plädieren..." "Da seht ihr`s," spricht Himmelblau, "wohin die Reise heute geht. Ich wollte nur, von diesem guten Turm gäbe es, wie von eurem Lao Tse, einen Zweiten, der Verlust wäre dann leichter zu verschmerzen. Die von Geld, Zahl und Zeit betörte Welt versteht sich nicht mehr auf Geheimnisse, hat keine Achtung vor den höheren Dingen und nimmt einen Turm für einen Turm, gleich welcher Geist ihn durchweht und in ihm atmet." Die antipodischen Wangen Holgers und Enricos fahren gleichzeitig zurück in ihre Ausgangsstellung gerade über den Hälsen und ihre Gesichter drehen sich überrascht einander zu. "Ja nun," räuspert sich Morgen, "daß dem allemal so ist, ist leider nur allzu bekannt, insbesondere seit Gestern, wo uns der alte Trauervogel Kelch den nämlichen Fall schon einmal unterbreitet hat, nebst einigen Fahrkarten und einer Einladung übrigens, vor Ort ins Geschehen einzugreifen. Wir haben sogar eigens deshalb einen Bund gegründet, wenn auch bis jetzt noch ohne Namen, und dieser hier," er zeigt auf Holger, "und ich sind beide mit von der Partie." Nun muß er natürlich dem selber neugierig gewordenen Zacharias Himmelblau die ganze Chose samt Hergang und Satzung genauestens erzählen und mit anhaltender Dauer des Berichts werden die Augen des Alten feuchter und feuchter vor Rührung. Zum Schluss hält`s ihn nicht länger auf dem Stuhl und beide Hände ausstreckend springt er auf und auf die Bundesbrüder zu. "Freunde," ruft er, "das ist mir ein Plan. Welch Zeichen des Lichts am trüben Himmel, welch eine Laterne in der Nacht des Geistes - das ist herrlich ausgedacht und eingefädelt, bestellt dem Kelch meine Achtung und meinen Gruß. Wie aber kommt es, daß ihr bei aller Genialität nur um den Namen verlegen seid? Zum mitreisen bin ich zu alt, aber einen Namen kann ich euch nennen, wenn ihr ihn nehmen wollt, denn eurem Zug zu Zimmers Turm genügen ja die Namen, die ihr ohnehin im Ausweis tragt, ihr beide nämlich und Lisa, und damit ergibt sich die Lösung des Rätsels wie von selbst und umso grösser ist die Freude an dem Fund, da mit dem Namen gleich noch ein weiterer Fahrensmann der Dichtung, wenigstens geistig, mit ins Boot genommen wird, denn wie sonst wollt ihr euch nennen wenn nicht ´Die Morgenlandfahrer`?" Das sitzt! Und tatsächlich teilen sich die so Angesprochenen den Spass an diesem Vorschlag zum ersten Male brüderlich. Begeistert sieht man sie, die ausgestreckten Hände schütteln und auch gegenseitig, man höre und staune, klopfen sie sich mächtig auf die Schulter. Denn es kann wohl keinen Zweifel daran geben, daß der nächste Bundestag den Namensantrag annehmen und beschliessen wird und das daher dies die Taufe und Zacharias Himmelblau der Taufpate des neugegründeten Bundes der "Morgenlandfahrer" ist - oft überrascht es einen, der eben kaum es gedacht hat!

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