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Der Mahdi
ОглавлениеRudolf K. Unbescheid
Die nachfolgende, interessante Abhandlung entstand vor dem Erscheinen der Reprintausgabe „Deutsche Herzen, deutsche Helden“. Der Verfasser war bei seiner Arbeit auf die heutige Ausgabe der Gesammelten Werke angewiesen, so dass möglicherweise die Zitate aus den auf die bekannten May-Figuren umgeschriebenen Bänden „Allah il Allah“ und „Der Derwisch“ nicht korrekt sind. Wir bitten dafür um Verständnis und meinen, dass damit der Arbeit kein Manko anlasten sollte.
Kail May, Hakawati, und die weltpolitischen Hintergründe in seinem Werk
1. Der neue Prophet und Karl May im Lande des Mahdi
Karl May als Kara Ben Nemsi und
Muhammad Ahmad, der sudanesische Mahdi
Der Sudan mit seinen endlosen Steppen und Wüsten, mit schroffen Bergketten und grünen Nilufern stand in den 80 er und 90 er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Brennpunkt des Weltinteresses. In diesem Raum, der ein buntes Völkergemisch beherbergt, wo die Hautfarbe von der Pechschwärze der Neger bis zum hellen Braun der Araber schattierte, hatte ein neuer Prophet, ein Derwisch Mohammed Achmed, die grüne Fahne des Propheten entfaltet und war als „Mahdi“ Gewaltherrscher des Sudans geworden. Mahdi bedeutet in der Vorstellung der Mohammedaner den erwarteten neuen Messias, dem von Gott gesandten Propheten des Islams, der „das Reich der Gerechtigkeit und des Glückes“ gründen werde. (Auf die Widersprüchlichkeit dieser Überzeugung werden wir zurückkommen) Seine fanatischen Anhänger, die Derwische, durchzogen als Wanderprediger und Agitatoren den Sudan, und 1881 begann der Mahdi den Angriff auf die ägyptisch-türkische Regierung. Deren zum Teil von englischen Offizieren befehligten Truppen wurden von den aufgehetzten Massen überrannt und erlitten eine vernichtende Niederlage nach der anderen. Die Bewegung des Mahdi schwoll wie eine Lawine an. Auch die Wälle Khartums konnten die rasenden Araber nicht mehr aufhalten. Am 26. Januar 1885 nahmen sie die Hauptstadt des Sudans im Sturm und töteten den englischen Gouverneur Gordon Pascha. Der Mahdi war nun Herr des Sudans bis auf den Südteil Äquatoria, wo sich der Deutsche Emin Pascha noch bis 1889 halten konnte. Der Mahdi selbst starb am 22.6.1885 in seiner neuen Stadt Omdurman an Herzverfettung, aber auch sein Nachfolger, der Kalif Abdullahi al-Teischi aus dem Stamm der wilden Baggara, wurde als Mahdi anerkannt.
Keine vier Monate, nachdem der Tod des Mahdi bekannt geworden war, erschien Oktober 1885 im „Deutschen Hausschatz“ die Mitteilung, dass Herr Dr. Karl May eine Arbeit über den Mahdi vorbereite. Durch mancherlei Querelen mit der Redaktion verzögert, konnten die angekündigten Fortsetzungen zwar zwischen 1891 und 1893 in der Wochenzeitschrift des Regensburger Verlages Pustet erscheinen, aber damit tauchte doch zum ersten Mal die Gestalt des neuen Propheten aus dem fernen Afrika beherrschend und sogar Titel gebend in der erzählenden deutschen Literatur auf. „Im Lande des Mahdi“ – auch bei Veröffentlichung der Buchausgabe 1896 bei Fehsenfeld noch immer ein höchst aktueller Titel!
Das Thema beherrschte nach wie vor die Schlagzeilen der Presse auch in Deutschland: der Krieg des Kalifen gegen Abessinien, die glückliche Heimkehr Emin Paschas nach Bagamoyo, die ersten Niederlagen der Mahdisten gegen Engländer und Italiener. Mit Elan betrieb der neue Serdar, Oberbefehlshaber, der anglo-ägyp- tischen Armee, Horatio Herbert Kitchener, die Vorbereitungen zur Rückeroberung des Sudans. Wieder einmal hielt die Welt den Atem an…
Sie hatte zu jeder Zeit Gelegenheit dazu. Unser Autor Karl May, dieser „arme verwirrte Proletarier“ (Ernst Bloch), hatte ein feines Gespür für diese Regungen der Weltmeinung; und so fanden die oft verzwickten weltpolitischen Begebenheiten vielfach ihren Niederschlag in seinen Werken: hintergründig zumeist, nur in wenigen Sätzen skizziert, angedeutet. Doch keineswegs „nur aus eigennützigen Gründen in seine Werke eingebaut“, wie die von Wesselin Radkov denn auch zu Recht (in Mitt. KMG 21/1974, Seite 4) kritisierte Katalin Kovacevic aus Skopie unterstellen möchte.
Wir wollen dem einmal nachgehen, hier und dort Beispiele finden, ohne Vollständigkeit auch nur anzustreben. Es bleibt vielmehr sehnlichst zu wünschen, Karl Mays politische und soziale Gedankenwelt möge bald einen so eindrucksvollen Interpreten bekommen, wie ihn Jules Verne 1971 in Jean Chesneaux fand: „Une Lecture Polidque de Jules Veme“ (Librairie Francois Maspero, Paris, 1971), das schon ein Jahr später in englischer Übersetzung herauskam: „The Political and Sozial Ideas of Jules Veme“ (Thames and Hudson, London, 1972). Ein exemplarisches Werk!
Der politischen Situation im nördlichen Afrika, in Ägypten und im Sudan während der beiden letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts soll vor allem unser Augenmerk gelten. Einleitend jedoch wollen wir ein paar grundsätzliche Überlegungen anstellen.
Gesammelte Werke, Karl-May-Verlag, Bamberg
2. Hakawati und Realist
Karl May, der „Hakawati“, Märchenerzähler? Hat er uns nicht noch auf seiner großen Orient-Reise – der Schwelle zur späten symbolischen, surrealistischen Schaffensperiode – seinen gewiss abenteuerlichen Ritt durch den Sudan, Abessinien und Eritrea nach Arabien hinüber zu Hadschi Halef Omar weismachen wollen; und dies zu einem Zeitpunkt, da just der Mahdi – Kalif Abdullahi – zum letzten Angriff auf das schon verlorene Khartum rüstete? Nun gar der Hakawati in den Niederungen der Tagepolitik? Märchenerzähler und Realist? – Fragen.
War er denn wirklich so sehr der rein „geistige Höhenflieger“, als dass er darüber den Boden der Realität unter den Füßen hätte verlieren können? Tatsächlich hatte May noch am 22. März 1912 in seinem letzten Vortrag vor mehreren Tausend Zuhörern im Wiener Sophiensaal das Gleichnis parat: er wusste um die sehr irdischen Wegbereiter des nach Sitara aufstrebenden Geist-Piloten, wusste von dem Grafen Zeppelin am Bodensee und seinem Konkurrenten August von Parsefal. Jenem hatten wenige Jahre zuvor die 6 Millionen Reichsmark einer Nationalspende die Weiterentwicklung seines Luftschiffes ermöglicht; dieser war eben 1912 Professor an der Technischen Hochschule in Berlin geworden. Und dann diese „verwegenen Ein- und Zweidecker, die Flugzeugführer“!
„Phantasie ist besser als Wissen“, sagte einmal der geniale Albert Einstein. Aber mehr noch, meine ich, ist Phantasie mit Wissen gepaart: in welch hohem Maße trifft das auf Karl May zu.
Es soll hier nicht unser Anliegen sein, Mays Bekenntnis zum Märchen und die Märchenhaftigkeit seiner Reiseerzählungen auszuleuchten. Sie sind zwar „symbolische Dichtungen, Märchen, in denen er seinen Glauben anschaulich macht“ – so stellte Ludwig Gurlitt in seiner Forderung nach „Gerechtigkeit für Karl May“ (wiedergegeben in: „Karl May, Ich“, Ges. Werke, Bd. 34, Bamberger Ausgabe, 29. neu gestaltete Auflage 1975, 216. Tsd.) fest. Aber sie seien auch mit dem „Maße realer Glaubwürdigkeit“ zu bemessen (beide Zitate S. 488). Seine Reiseerzählungen seien Predigten, fährt Gurlitt fort (S. 497), an die sündhafte und verlorene Menschheit. „Du hast Zeiten, wo jedes Wort von dir eine Predigt ist“. Hadschi Halef muss es wissen in der Erzählung „Ein Rätsel“ („Der Löwe der Blutrache“, Ges. Werke, Bd. 26, Bamberger Ausgabe. 353. Tsd., S. 412). Welcher wahre Prediger aber wäre nicht durchs tiefste Ardistan gegangen! Predigten also ganz vor dem Hintergrund dieser Welt. Ein Prediger in mühevollem Aufstieg zum lichten Dschinnistan – dieser geborene Erzähler Karl May, für den sich immerhin ein Herwarth Waiden im „Sturm“, der Kampfzeitschrift der Moderne, und ein Ludwig von Ficker, dessen „Brenner“ durch die Erstdrucke der Gedichte Trakls berühmt wurde, stark gemacht haben!
Und so wissen wir denn spätestens seit Max Dittrichs, des getreuen Begleiters Untersuchungen über „Karl May und seine Schriften“ (Dresden 1904) von den drei Handlungsebenen namentlich im Spätwerk, deren fundamentale im wähnten Sinne des Wortes die 1“die realistische Ebene ist. Wie sehr der in schmutzige Anfeindungen verstrickte Schriftsteller die ihn bedrängenden Ereignisse und Menschen, Freunde wie Gegner, symbolhaft verschlüsselt und doch von sehr „realer“ Ebene, dem Alltag nämlich ausgehend, in sein Werk hat Eingang finden lassen, ist vielfach aufgezeigt worden: von Max Dittrich und Adolf Droop („Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen“, Köln-Weiden 1909) bis zu Hansotto Hatzigs „Dokumente einer Freundschaft – Karl May und Sascha Schneider“ (Beitrag zur Karl-May-Forschung, Bd. 2, Karl-May-Verlag, Bamberg, 1967). Denn, so Hatzig (S. 167): „May aber wusste, dass es sich in dieser Welt nicht ohne Anwälte und Ärzte leben ließ“. Folglich, nochmals Hatzig (S. 136): „Zeitkritische Anspielungen waren durchaus Mays Sache“.
3. Auch ein Agitator des Friedens
Hatzig zitiert (S. 121 – 128) u.a. auch jenen wohl vom Juli 1906 stammenden Brief Mays an den Malerfreund Sascha Schneider, in dem es heißt: „Ihre Neigung zum Concreten und Realen kenne ich. Ich habe ganz dieselbe Neigung. Nur ist bei mir nicht bloß die Materie concret und real, sondern Beides ragt für mich über das physisch Stoffliche hinaus“.
Und bekennerhaft:
„Sie schreiben: ‚Als Kind einer bereits kommenden Zeit gehöre ich ganz der Erde an; mein Blick ist vorwärts gerichtet‘. So sind wir also Kameraden! Denn glauben Sie mir, ich trachte weder zurück, noch will ich sitzen bleiben. Wenn Jemand beinahe flammend an die Zukunft glaubt, so bin ich es, und grad dieses- mein felsenfestes Vertrauen auf die kommende Zeit – hat mir die Kraft gegeben, zu tragen, was ich zu tragen hatte. Und auch diese meine Zukunft gehört der Erde an“.
Aber, bleibt die Frage, war es denn so weit her mit diesem felsenfesten Vertrauen auf die kommende Zeit? Hatte May doch immer wieder in bitterer prophetischer Vorschau vor den gewaltigen Vernichtungsmöglichkeiten eben dieser Zukunft gewarnt: den nahen Ausbruch des völkermordenden, weltumspannenden Krieges vorahnend. Wenige Tage vor seinem Tod noch sprach er im Wiener Sophiensaal davon! Förmlich ein Aufschrei wird laut in dem erwähnten Brief an Sascha Schneider:
„Wehe und tausendmal wehe dem Volke, welches das Blut und das Leben von Hunderttausenden vergießt, um anderthalb Schock Ritter des eisernen Kreuzes erster Klasse dekorieren zu können!“
Wiederholen wir uns diesen Satz mit Bedacht. Die „sogenannten Männer und Helden“ der Geschichtsbücher sind bestenfalls Historie. Kriege werden entschieden „durch gute Stiefelsohlen und chemische Teufeleien, durch Druck und Drill, durch Hunger und Fieber, durch wohlberechneten Transport, durch Riesenanleihen und andere sehr unrühmliche Dinge“. Trotz aller Beteuerungen Sascha Schneiders – „Sie aber, Verehrtester, begeben sich ganz ins Reich der Geister“ (von Hatzig zitierter Brief vom 3. Juli 1906; a.a.O., S. 120) – war May der größere Realist, „war nur noch Bekenner. So hatte er gehofft, dass Kaiser Wilhelm seine Friedenssymphonie, den ‚Mir von Dschinnistan‘, lesen und sich zu Gemüte fuhren würde. So naiv dieser Gedanke erscheint, so realistisch ist doch zu erkennen, auf welchem Gebiet der Kaiser des Deutschen Reiches besonders bildungsbedürftig war“ (Hatzig a.a.O., S.167)
Und so müssen wir es mit Nachdruck wiederholen: Wie wenige seiner Zeitgenossen hat Karl May die mit den Massenheeren und der durch die rapide Weiterentwicklung aller Kriegstechnik ins schier Unermessliche gesteigerte Vernichtungskraft ihrer Waffen zusehends wachsenden Probleme erkannt! In deren grenzenloser Verkennung huldigte man in fast allen Kulturstaaten der Bejahung des Krieges – in England, Frankreich und Rußland ebenso wie in Deutschland und Österreich. Ja, eben hier postulierte der kk Generalstabschef (1906 – 11 und 1912 – 17) Franz Graf Conrad von Hötzendorf das Gesetz des unausweichlichen Kampfes, das am 28. Juli 1914 zur Kriegserklärung an Serbien und damit zu dem stets von May gefürchteten Weltkrieg fuhren sollte. Vielleicht war die Einladung des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik gar nicht so sehr zufällig? Vielleicht kam May gar nicht so von ungefähr nach Wien, um als letztes Vermächtnis in aller Öffentlichkeit gegen die ardistanische Kriegsbegeisterung seinen großen dschinnistanischen Friedensgedanken zu setzen? Denn dieser ein paar Tage vor seinem jähen Tod gehaltene Vortrag „Empor ins Reich des Edelmenschen“ wurde gekrönt durch die nachdrückliche Würdigung der Idee eines Völkerfriedens, die Bertha von Suttner, Wiener Baronin und Nobelpreisträgerin von 1905, vorgedacht hatte. Von dieser bedeutenden Frau, Agitatorin des Friedens, sah sich May in der Tat sehr wesentlich beeinflusst! Der biographische Band 34, Ich, und insbesondere die Jahrbücher KMG von 1970 (S. 47 – 97) und 1971 (darin: Hans-Otto Hatzig, Bertha von Suttner und Karl May, S. 246 – 258) berichten detailliert davon. Hatzig zitiert einen Ausspruch der Begründerin der Friedensbewegung, ja – so darf man wohl trotz ihrer heutigen Nichtbeachtung sagen – der Friedensforschung, – einen zweifellos auch ihrerseits von May stark beeindruckten Ausspruch: „Wenn ich nur eines dieser Werke hätte gestalten können, dann hätte ich mehr erreicht!“ Sie wird also die einschlägigen Werke des „Geehrten Gesinnungsgenossen“ gekannt haben. May hatte ihr nach Erscheinen sein Drama „Babel und Bibel“ dediziert; ihr war sicher auch seine radikale Friedensforderung „Und Friede auf Erden“ aus dem Jahre 1901 bekannt, die bezeichnenderweise im Dritten Reich „vergriffen“ war!
Wir erinnern uns, dass bereits im Karl-May-Jahrbuch 1928 (S. 29ff.) Armand von Ozoroczy den Komplex „Karl May und der Friede“ dargestellt hat. Würde es sich nicht gehören, Mays Namen stets in diesem Zusammenhang zu nennen? Spricht doch in seinem großen Alterswerk „Ardistan“ (Ges. Werke, Bd. 31, Bamberger Ausgabe, 155. Tsd, S. 22) die uralte, weise Marah Durimeh von den „Friedenswissenschaften“ und prägt damit einen Begriff, der erst jetzt in unseren Wortschatz aufgenommen ist, als Friedensforschung!
Denn es hat sich ja seitdem nichts geändert: „Wie man den Krieg führt, das weiß jedermann; wie man den Frieden führt, das weiß kein Mensch“ („Ardistan“, a.a.O., S. 22). Hätte es unseren May überrascht, wenn er noch hätte erleben müssen, wie 1933 die deutschen Friedensgesellschaften wegen „landesverräterischer Tätigkeit“ aufgelöst wurden?
4. Esch Schakad und die Revolte des Oberst Arabi
Mag Karl May auch sein Leben lang der orientalischen Märchenwelt des Hakawati verhaftet geblieben sein, seinem sozialen Herkommen, seiner Entwicklung nach konnte er zwangsläufig den um ihn gezogenen Bannkreis des Alltags nie überschreiten. Sein Ardistan war ganz von dieser Welt! Zwar schlüpft er in die Maske esch Schakads, des Bettlers, der da hörend und schauend und ratend hockt unter dem Tor Bab Zuweileh in Kahira, Kairo. Doch auch hier nur Verkleidung, Flucht vor ardistanischem Ansturm:
„An den Gassen- und Straßenecken standen bewaffnete Militärwachen, und auf einigen Plätzen sah ich sogar Kanonen. Es war jener 9. September 1881, an welchem Arabi Pascha mit 4.000 Soldaten und 30 Geschützen den Abdinpalast umzingelte und den darin residierenden Vizekönig zwang, das Ministerium Riaz zu entlassen, eine Verfassung zu gewähren und das Heer auf 18.000 Mann zu vermehren. Das war das Vorspiel zu dem Europäermord in Alexandrien und der Beschießung dieser Stadt durch die englische Flotte. Jetzt wusste ich nun freilich, dass sich mein Leben in Gefahr befand.“
Das ist der sehr reale Hintergrund zur Erzählung „Der Kutb“, 1895 in „Benzinger’s Marien-Kalender“, Einsiedeln, publiziert und 1974 in „Der große Traum“, hrsg. von Heinz Stolte und Erich Heinemann (dtv 1034), S. 98-141; Zitat S. 120) wieder vorgestellt. Konkrete Daten, Zahlen, Namen, Fakten, die zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Erzählung keineswegs Historie waren.
Im Januar 1863 hatte der Herrscher des Osmanischen Reiches Ismail Pascha zum Wadi, Statthalter von Ägypten ernannt. Endlich konnte dieser mit Hilfe Napoleons seinen Traum verwirklichen und 1864 mit dem Bau eines Kanals südlich von Suez beginnen, der am 16. November 1869 unter kostspieligen Festlichkeiten eröffnet wurde. Durch einen später (8. Juni 1873) erneuerten Ferman des Sultans vom 5. Juni 1867 wurde Ismail zum Khedive, Vizekönig ernannt, der nun die völlige Unabhängigkeit von der Hohen Pforte anzustreben begann, aber dafür durch seine Verschwendungssucht und allzu aufwendige Verwaltung (sic!) in die Abhängigkeit von England geriet. Was nützten ihm die vier Millionen Pfund Sterling aus dem Verkauf seiner Suezkanal-Aktien an die Engländer? Der unglückliche Krieg gegen Abessinien 1875/76, der Aufstand Sulaimans und die Entsendung von 6.000 Soldaten in den russisch-türkischen Krieg steigerten die finanzielle Bedrängnis so, dass der Sultan sich auf Drängen der Großmächte gezwungen sah, Ismail am 26. Juni 1879 zu entlassen und durch seinen Sohn Tewfik Pascha zu ersetzen. Zur Konsolidierung der zerrütteten Finanzen wurden kurzerhand zahlreiche Beamte und Offiziere entlassen, ohne dass ihnen der rückständige Sold ausgezahlt wurde! Unter Führung von Oberst Arabi kam es schließlich 1881 zu mehreren Militärrevolten, die ihren Höhepunkt in „jenem 9. September“ fanden, an dem esch Schakad um sein Leben fürchten musste. Durch die Erfolge dieses Tages ermutigt, proklamierte sich der im Februar 1882 zum Kriegsminister ernannte Arabi Pascha, wie er sich nun nannte, zum Haupt der Nationalpartei, die das Volk gegen die europäische Finanzkontrolle, überhaupt gegen alle Fremden aufzuhetzen begann. Am 11. Juni 1882 kam es zu den von May erwähnten blutigen Exzessen in Alexandrien, und als die Übeltäter straffrei ausgingen, am 11. Juli zur Beschießung der von Arabi neu befestigten Forts durch die englische Flotte. Die Antwort war ein furchtbares Blutbad unter den Europäern; die Engländer landeten ein Heer, besetzten am 14. Juli Alexandrien und schlugen Arabis Truppen am 13. September bei Teil el Kebir in die Flucht. Die Empörer wurden nach Ceylon verbannt und Tewfik Pascha unter dem Schutz englischer Soldaten, die in Ägypten blieben, wieder in die Herrschaft eingesetzt. Der Haß gegen die Fremden schwelte weiter; der und die militärische Schwächung Ägyptens trugen in den folgenden Jahren entscheidend zur Ausbreitung der Macht des Mahdi im Sudan bei!
Hakawati – Märchenerzähler? fragen wir ein letztes Mal. Wunschtraum und Märchen sind bei May stets mit im Spiel. Aber – bekräftigt Heinz Stolte (Jahrbuch KMG 1972/73, S. 175) – „den Boden derTatsachen, den verlieren wir in seinen Büchern nicht. Sie sind vielmehr voll von verlässlicher Information, sie sind Lehrbücher der Geographie und Völkerkunde, Schatzkammern der Folklore“ – und den weltpolitischen Aspekten in seinem Werk sind wir auf der Spur!
5. Vom Schut zu Matthäus Aurelius Hampel aus Klotzsche
Kara Ben Nemsi reitet auf den Spuren des Schuts und seiner Verbrecherclique quer durch den unter türkischem Joch stöhnenden Balkan. Flugs konstruiert daraus eine moderne Polit„wissenschaft“ den Vorwurf, „warum May die skipetarischen Räuber zu Verbrechern abstempelt“, anstatt sie zu „mazedonischen Sozialbanditen“ zu erheben. Der so fragt – Malte Ristau in „Verbrecher oder Sozialbandit“ (Mitt. KMG 28/Juni 1976, S. 10 -14, Zitat S.13) – hat natürlich die Antwort parat: „Banditen aller Couleur werden in der Industriegesellschaft quasi per definitionem als Außenseiter gesehen, Unterschiede zwischen den einzelnen Spielarten des Banditentums werden nicht gemacht. Mit gutem Grunde, denn eine sorgfältige Analyse bedeutete beinahe zwangsläufig auch ein Fragen nach den Ursachen; und genau dieses Fragen könnte der Anfang sein eines In-Frage-Stellens auch der eigenen Herrschafts- und Besitzstrukturen.“ Der Schut und Horst Mahler also Banditen verschiedener Couleur.
Auf unseren Reisenden trifft der Vorwurf, die „Herrschafts- und Besitzstrukturen“ seiner Zeit nicht in Frage gestellt zu haben, gewiss nicht zu. Freilich bleibt er zurückhaltend in seinen Zugeständnissen und traut sich noch, einen Verbrecher auch Verbrecher zu nennen. Denn es bildete nur „der bewaffnete Kampf für nationale Befreiung eine heilige Ausnahme in den absolut pazifistischen Ansichten des Schriftstellers“ (Radkov in Mitt. KMG 21/ September 1974, S. 8). Dagegen verwarf May den „bewaffneten Kampf als Mittel für die Veränderung und Besserung einer Gesellschaftsordnung“ (Radkov a.a.O., S. 8). Wie sollte er auch nicht. Es gibt ja nicht einmal heute eine gemeinsame Resolution gegen den Terrorismus – mangels Definition!
Aber immer steht May auf der Seite der Unterdrückten, der Kurden zum Beispiel, mit deren Kampf gegen die brutalen „Kolonialherren“ in Mossul er durchaus sympathisiert. So in „Durchs wilde Kurdistan“ schon 1881 und noch 1898 in der Erzählung „Ein Rätsel“ (a.a.O., S. 427 f.):
„Wir hatten in Beziehung darauf, dass man die Kurden Räuber nennt, unsere eigenen, persönlichen Ansichten …“ und: „Wenn ich hier eine Art Ehrenrettung für den Kurden versuche …“
Wir erfahren von Ekkehard Bartsch (Jahrb. KMG 1975, S. 98), dass sogar in Presseberichten über die Kurden-Aufstände „die Nennung des Namens Karl May fast unvermeidlich“ sei. In seinem Beitrag „Der letzte große Rebell“ (Quick vom 9. Mai 1974, S. 11 – 18) charakterisiert Oskar Menke den 75-jährigen Kurdenführer Mullah Mustafa Barzani, den alten Mann mit dem rot-gewürfelten Kopftuch, den weiten Pluderhosen, so:
„Viele halten ihn für den letzten großen Abenteurer unserer Tage, für eine Gestalt, die aus Karl Mays Roman „Durchs wilde Kurdistan“ direkt in die Gegenwart verschlagen wurde.“
Und ohne dass Mays Name genannt wird, begegnen wir doch all seinen Romangestalten in Le Roy Woodson’s jr. Bericht über die Kurden bildhaft wieder: Kadir Bei, Dohub und seinen Verwandten, Sehm Aga, auch der schönen Schakara und der „holden“ Mersinah und wie sie alle heißen. Schauen wir einmal, wenn Gelegenheit sich bietet, das Märzheft 1975 des „National Geographie Magazine“ (Vol. 147, Nr. 3) daraufhin an.
In dem Band ‚Bei den Trümmern von Babylon‘, Ges. Werke, Bd. 27, Bamberger Ausgabe, 332. Tsd. (S. 442) ist auf die latente Kriegsgefahr zwischen Persien und der Türkei um den Besitz von Bagdad hingewiesen. Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel der Bezugnahme auf aktuelle tagespolitische Ereignisse findet sich in der wiederholt erwähnten Erzählung „Ein Rätsel“ (a.a.0., S. 379ff.), worin der Autor sich ausführlicher über den Babismus verbreitet. Das ist jene seit 1844 verbreitete pantheistisch-mystische Lehre des 1850 hingerichteten Persers Ali Mohammed, die noch heute starke Kraft im persischen Volksleben besitzt und Grundlage der Baha’i-Religion (Behaismus) wurde, der „Krone aller Religionen“, die Liebe, Duldsamkeit und die Einheit der Menschheit zum erklärten Ziel hat. Wir treffen die Verkörperung dieses Denksystems in vielen Details wieder in der Gestalt der Marah Durimeh. Nach Niederschlagung der Bewegung des „Bab“ kam es seit 1890 wiederholt zu Aufständen der verfolgten Anhänger, in deren Verlauf der Schah 1896 ermordet wurde. „Ein Rätsel“ Mays erschien zwei Jahre später, 1898.
Zwar bemängelt der ebenfalls erwähnte Wesselin Radkov in seiner bemerkenswerten Untersuchung über „Politisches Engagement und soziale Problematik in den Balkanländern Karl Mays“ (Mitt. KMG 21 + 22/Sept. und Dezember 1974, S. 4 – 9 und 3 – 8), dass „Karl May dem nationalen Befreiungskampf der Bevölkerung auf dem Balkan in seinen Romanen wenig Beachtung schenkte“ (21, S. 7). Verständlich auch, dass der Bulgare Radkov Details aus den Unabhängigkeitskämpfen der Bulgaren und Serben vermisst, die zur Zeit der fiktiven Reise unseres Autors durch das Land der Skipetaren und die Schluchten des Balkans ihren Höhepunkt erreichten: 1873 wurde der Revolutionär Wassil Lewski in Sofia von den Türken gehenkt; 1876 fiel der bedeutendste Dichter der Bulgaren, Christo Botew, im Gefecht mit den Türken; 1878 schuf der Berliner Kongress das Fürstentum Bulgarien, und nach Kriegen gegen die Türken 1876 und 1877 entstand das unabhängige Serbien. Aber Radkov ist doch objektiv genug, aufgrund einer Reihe von Exempeln zuzugeben, „wie richtig und scharf er (May) die politische Situation auf der Balkanhalbinsel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einschätzte“ (21, S. 7). Ja, Radkov betont gleich zweimal auf einer Seite (21, S. 7) mit Nachdruck:
„Der Schriftsteller nimmt gegenüber den politisch-sozialen Verhältnissen auf dem türkischen Balkan eine ausgesprochen kritische Stellung ein“.
„Obwohl indirekt, nimmt Karl May eindeutig Stellung für die unterjochten Nationalitäten auf dem türkischen Balkan und für deren nationale Unabhängigkeit.“
Radkovs Belege sind nachzulesen, wir brauchen sie hier nicht zu wiederholen. Er geht aber schließlich noch einen Schritt weiter, wenn er (21, S. 7) bescheinigt:
„Karl May hatte ein offenes Auge für die politischen Entwicklungen seiner Epoche.“
Wenn aber May das unerbittliche Ed dem bed dem – Blut um Blut! der Wüstensöhne und den Racheschrei der roten Krieger den Regeln, „die unter gebildeten Völkern üblich sind“ („Allah il Allah“, a.a.O., S. 330), gegenüberstellt *), so ist das eine bitterböse Ironie, die noch nicht einmal von dem von Haß diktierten Versailler Frieden, weder von den Nürnberger Prozessen und einem Morgenthau-Plan noch von automatischen Schießapparaten längs einer Grenze zwischen zwei deutschen Staaten wissen konnte!
Aufklingen in der Tat immer wieder Mayscher Humor, Spott, Ironie – „eine mächtige Waffe“, das „Indiz für die Stellungnahme des Schriftstellers zur Wirklichkeit, zur gegebenen Person, sogar zu den sozialpolitischen Verhältnissen in einem Lande“ (Radkov 22, S. 5). Und der Autor weiß sich stets „augenzwinkernd mit seinem aufgeklärten Leser im Bunde“, so Gunter G. Sehm („Der Erwählte“ in: Jahrb. KMG 1976, S. 19). Ist es hier „ein deutscher Kavalleriewachtmeister“, der beim Anblick einer tapferen Beduinentruppe „gar nicht aus dem Kopfschütteln herauskommen“ würde („Maghreb-el-Aksa“, Reprint als Beilage des „Graff-Anzeigers“, Heft 10/2. Quartal 1976, S. 4); so ist es dort der gelehrte Dr. Morgenstern im „Vermächtnis des Inka“ und der Künstler in Gestalt des Herrn Kantor emeritus Matthäus Aurelius Hampel aus Klotzsche bei Dresden aus „Der Ölprinz“, die in ihrer politischen Einfalt fatale Ähnlichkeiten aufweisen mit den sich politisch und sozial so engagiert gebärdenden Intellektuellen unserer Tage.
Der überzeugte Demokrat und Pazifist May konnte vieles auch im eigenen Land nicht gutheißen. Wie er selbst in mancherlei Masken schlüpft, um eigenem Alltag zu entfliehen, so ersteht ein preußischer Beamter oft in der Figur eines türkischen Kiaja, Baschi bosuk oder Mütesellim wieder. Radkov erkennt:
„Die Korruption, die Bestechlichkeit, die Brutalität, die May durch die Staatsgewalt damals erfuhr, finden eine hyperbolisierte, meisterhaft verschleierte Widerspiegelung in den von ihm geschilderten Verhältnissen im Osmanischen Reich, wo Bakschisch und Stock eine hervorragende Rolle spielen“ (Radkov 21, S. 6). Die Plagen der Balkanbevölkerung waren dem deutschen Volk Mays so ungeläufig nicht.
„So liefern die Reiseerzählungen im negativen Spiegelbild eine Diagnose ihrer Zeit,“ der Gründerzeit (Claus Roxin in: Jahrb. KMG 1974, S. 53).
Anmerkung: Im Original „Deutsche Heizen, deutsche Helden“, Bd. 2 „Die Königin der Wüste“ lautet die Szene sehr ähnlich wie folgt:
„Dankt mir dadurch, dass ihr die besiegten Beni Suef menschlich behandelt.“ – „Das werden wir. Eigentlich müssten sie unsere Sklaven sein. Wir könnten ihre Palmen zerstören, ihre Brunnen zuschütten und ihnen alles nehmen.“ – „Das werdet ihr nicht.“ – „Nein. Wir werden ihnen unsere Beute nehmen und alle Waffen, damit sie nicht wieder gegen uns kämpfen können, doch lassen wir ihnen von ihren Herden und Vorräten so viel, dass ihnen genug zum Leben übrigbleibt, aber auch nicht mehr. Sie müssen in allem von uns abhängig sein, dürfen keinem anderen Menschen etwas bezahlen können und sollen gezwungen sein, alles von uns zu kaufen. So sind sie nicht Sklaven, aber doch abhängig von uns.“ – „Erzieht sie immerhin zu Kriegern. Ihr könnt sie gebrauchen. Hoffentlich seid ihr stets gute Freunde des Vicekönigs.“
(Fortsetzung folgt)