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Eins, zwei, drei, vier Eckstein

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Lola, Frank, Ulli, Andreas und ich hockten auf dem Platz vor Morgenroths Haus. Wir hatten viel Blödsinn im Schädel:

Liebespaare am Bahnhof beschleichen, Mutproben beim Eisloch, Raubzüge in den Kirschbäumen. Wenn uns gar nichts mehr einfiel, dann spielten wir eben Verstecken.

Ja, wir spielten noch richtig: Es gab keine Computer, und der Fernseher in Müllers guter Stube durfte auch nicht angerührt werden. Also ging es in den Ferien schon am Morgen raus.

Treffpunkt Kino, Bahnschranke oder Morgenroths Haus.

„Ich suche aber nicht wieder als erster“, sagte Andreas.

„Ich auch nicht“, maulte Frank, der noch nicht ausgeschlafen hatte und schlecht gelaunt war. Blieben also Lola, Ulli und ich. Natürlich fanden sich in meiner Tasche Streichhölzer.

„Losen wirs halt aus!“, sagte ich mit unschuldiger Miene.

„Du machst das aber nicht!“, rief Ulli. „Du betrügst immer.“

Ich wollte protestieren, aber es hatte keinen Zweck. Betrogen habe ich schon immer ein bisschen. Heute allerdings in der Regel nur noch mich selbst.

„Gib her!“, sagte Frank. Er legte ein Streichholz in den Handteller, und schon begann die Qualifikation. Natürlich blieb ich übrig. Wer sonst? Ich bleibe immer übrig, wenn ich nicht schummle.

„Und jetzt zählst du laut bis zwanzig“, sagte Lola drohend. Sie durfte das. Die anderen nicht.

Also lehnte ich den Bauch an Morgenroths Hausmauer und schob den Kopf zwischen die Arme. Es hatte ja gar keinen Sinn zu schummeln. Das Gelände reichte auf der einen Seite bis zur Werra, auf der anderen bis zu Morgenroths Haus. Wer suchen musste, war die ärmste Sau. Er kam nur mit Glück wieder aus dieser Rolle heraus. Ständig flitzte jemand irgendwo lang. Dann ertönte das nervtötende:

„Ulli frei! Lola frei“, und so weiter.

„Du sollst den Vers sagen!“, rief Andreas.

Also begann ich „Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein, Kopfnuss, Beinschuss, Hasenscheiße, Hosenstall, Doofe findste überall. Eins, zwei, drei, vier Eckstein ...“

Ich zählte bis fünfzehn. Das musste genügen. Es waren ja alle längst weg.

Ich stellte mich strategisch günstig. Freischlagen war an der oberen Ecke von Morgenroths Haus. Langsam lief ich Richtung Werra. Ullis Schuhe mit den Metallkanten waren in diese Richtung geklackt.

Unüberhörbar. Vielleicht hockte er hinter der alten Schule? Nein, kein Ulli. Lag er auf der Mauer? Nein, auch nicht. Weiter unten hörte ich jetzt den ersten ernüchternden Schrei: „Frank frei.“ Na toll, der hat sich wieder nicht an die Regeln gehalten, dachte ich. Wir hatten nämlich eine Sperrfrist festgelegt, weil der Suchkreis so groß war. Aber wer hält sich schon an Sperrfristen, wenn es um die persönliche Freiheit geht!

Irgendwo hier musste Ulli stecken. Darauf hätte ich meinen Lederhosenarsch verwettet und meine Glasmurmeln noch dazu. Am Wehr war Schluss – weiter oben konnte er also nicht sein. Vielleicht lag er ja im Wasser wie Bernhard damals, dieser verrückte Kerl: Hielt sich am Rand fest und tauchte ab, wenn man kam.

Aber das war im Sommer. Jetzt, im April, konnte man es nicht aushalten.

„Lola frei“, brüllte es aus der Stadt unten.

„Scheibenkleister“, zischte ich durch die Zähne. „Jetzt kreischt gleich Andreas, und dann hab ich nur noch diesen einen Schuss.“ Ulli musste hier sein. Vor der Mauer hatte ich alle Möglichkeiten abgegrast, da war ich mir ganz sicher. Also weitersuchen!

Auf dem Baum hockte der Kerl auch nicht. Hatte ich mich etwa doch geirrt? Nein, da war etwas: Ein Ton, oder besser ein Wimmern, aber außerhalb der Suchgrenze. Tja, mein Freund, das hast du nun davon, dachte ich. Bist irgendwo da draußen umgeknickt oder auf die spitzen Steine gekracht. Jenes kommt halt von diesem!

Ich lief trotzdem hin, Kumpel bleibt Kumpel. Da lag er tatsächlich, der Ulli, aber merkwürdig verkrümmt. Irgend jemand hatte ihn gefesselt und ihm einen Knebel in den Mund geschoben. Jetzt konnte er nur noch laut stöhnen.

Ich rannte schneller. Ulli wollte mich mit heftigen Kopfbewegungen davon abhalten. Aber es war zu spät. Plötzlich packte mich eine gewaltige Hand an der Schulter, zog mich zu Boden und schnürte mir die Hände auf den Rücken.

„Eins, zwei, drei, vier Eckstein ...“ flüsterte eine merkwürdig tonlose Stimme in mein Ohr. „Nicht umdrehen! Wer mich sieht, der muss sterben.“

Ich hoffte zunächst noch, es könnte Paul sein, aber der war niemals so kräftig. Das war kein Kind! Das war ...

Nein, dachte ich. Nicht Ruben! Nicht der Kinderfresser! Alle sollten es sein: Der dicke Stefan von der Brückenbande meinetwegen. Dann gab es halt ein paar Beulen, na und? Auch den langen Lothar hätte ich noch ertragen können. Nur nicht Ruben, den Kinderfresser!

„Eins, zwei, drei, vier Eckstein ...“, flüsterte es. Ich hätte am liebsten geschrien, aber es ging nicht. Der Kerl benutzte sein ekliges Taschentuch als Knebel. Es musste doch eine Möglichkeit geben, heil aus der Sache herauszukommen! Mir fiel schon manches ein: Vom Fußtritt in die unteren Regionen bis zum Stoß ins Wasser.

Aber die Möglichkeiten sind sehr eingeschränkt, wenn man fest verschnürt auf dem Werraufer liegt.

Das Schlimmste fiel mir zuletzt ein: Er hatte uns die Augen nicht verbunden. Ich wusste aus Abenteuergeschichten, dass damit das Todesurteil über uns gesprochen war. Alle Verbrecher verbanden ihren Opfern die Augen, um später nicht erkannt zu werden. Es sei denn ...

Ja, es sei denn, sie wollten sie ohnehin umbringen. Dann war es ja egal. Die Erkenntnis jagte mir den Schweiß auf die Stirn und nahm mir den letzten Krümel Hoffnung.

„Eins, zwei, drei, vier Eckstein“, flüsterte es jetzt hämisch über mir.

„Alles muss verreckt sein.“

„Verreckt sein?“, rief ich in das versiffte Taschentuch hinein. „Nein, nur das nicht!“

Wurden die anderen denn nicht endlich stutzig da unten? Und wieso kam eigentlich hier niemand vorbei? Die Leute waren vermutlich alle auf Arbeit oder am Tresen in Morgenroths Haus. Dort wäre ich jetzt auch am liebsten gewesen. Nirgends auf der ganzen Welt fühlte man sich so sicher wie dort. Selbst in der Kirche war es immer ein bisschen unheimlich.

„Eins, zwei, drei, vier Eckstein“, schnarrte die böse Flüsterstimme wieder los.

Ich hatte es ja nie glauben wollen. Schon seit Wochen lief in Themar das Gerücht vom Kinderfresser um. Erst war Peter, der Sohn des Schornsteinfegers, verschwunden. Dann die Marie, das Goldköpfchen. Gut, sie waren beide heimgekehrt. Aber man erzählte sich unter den Kindern, dass sie den Fängen des bösen Ruben nur mit knapper Not entronnen waren. Nun hielt er sich also an uns schadlos: An Ulli und mir.

„Gott im Himmel“, betete ich im Stillen. „Ich will nicht gegessen werden. Ich gebe alles zu, was mein verdorbenes Kinderleben an Sünden angesammelt hat: Ja, ich war an der Zigarrenkiste meines Onkels. Auch habe ich bei den alten Leuten an der Mauer den wassergefüllten Luftballon durchs offene Fenster geworfen. Er ist drin auf dem Sofa explodiert, so dass sie vier Tage nicht mehr gemütlich sitzen konnten. Und, obwohl ich es ja immer tapfer abgestritten habe: Ich sah der göttlich gewachsenen Tochter des Bürgermeisters von einer Setzleiter aus zu, wie sie sich entkleidete. Ja, das war ebenfalls ich mit weit aufgerissenen Augen vor einem verbotenen Fenster, lieber Gott“, sprach mein heißer Kindermund nach innen, denn nach außen ging es ja nicht.

„Es tut mir auch furchtbar leid und ich reudige mich sehr“, fügte ich in einer kleinen Falscherinnerung an das Beichtbekenntnis in der Kirche an. „Wenn du mich jetzt rettest, Allprächtiger, dann will ich zwar nicht Priester werden, weil man dann nicht heiraten darf, aber wenigstens Feuerwehrmann oder Glöckner in der Themarer Kirchturmwohnung.“

Offenbar waren meine Angebote an den lieben Gott entweder nicht ausreichend oder falsch zusammengestellt. Hilfe kam jedenfalls nicht, weder von oben, noch von meiner treulosen Kinderhorde vor Morgenroths Haus. Neben mir stöhnte der arme Ulli, über mir flüsterte der Kinderfresser. Jetzt ging er weg, und ich bemühte mich die ganze Zeit, ihn nicht anzublicken.

„Wer mich sieht, der muss sterben.“

Nein, sterben wollte ich noch nicht und geschlachtet werden schon gar nicht. Wäre mir doch nur die Sache mit der Bürgermeisterstochter nicht passiert! So was erzürnte die Gottheiten immer maßlos. Ruben, der Kinderfresser, kehrte schweren Schrittes zurück. Er schob irgendetwas vor sich her. Es war ein gummibereifter Wagen, und als ich hinblickte, war es auch schon geschehen. Ich hatte den Kinderfresser gesehen. Im Grunde war ich nun schon tot.

Das war er also, Ruben, der die kleinen Kinder verzehrte. Ein Ausbund an boshafter Hässlichkeit: Zwei feuerrote Augen, die noch in der Nacht leuchteten. Eng anliegende Ohren, in denen Ringe steckten, die aus der Schädeldecke heraus spießten und dann durch die Ohrläppchen geführt wurden. Aber das Schlimmste an diesem menschlichen Ungeheuer war die Nase. Eigentlich gab es sie nämlich nicht. Da waren nur zwei tiefe Löcher mitten im Gesicht, aus denen es unentwegt schniefte. Das war nun also unser Schicksal: eine Hausschlachtung beim Lochgesicht.

Der breite, böse Mund sprach genüsslich vor sich hin:

„Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss verreckt sein.“

Ich begann, in Panik an meinen Fesseln zu reißen, aber sie waren hart geschnürt und bewegten sich nicht. Neben mir weinte Ulli, der doch sonst so viel vertragen konnte. Die Werra rauschte herzlos vor sich hin, und vom Turm der Themarer Kirche schlug es elf. Die anderen saßen sicher längst zuhause.

Ruben, der Kinderfresser, beugte sich zu uns herab. Er hob zunächst den schluchzenden Ulli auf seine Karre. Dann legte er eine Decke über den Verurteilten und beugte sich zu mir herab. Ich sah den weit geöffneten Mund auf mich zukommen, die schwarzen, fauligen Zähne, roch die entsetzliche Gaumenkloake. Aber als er mich dann um die Hüften packte, hörte ich plötzlich eine hohe, warme Frauenstimme. Die sprach:

„Schauen Sie nur, Herr Doktor, der Junge ist doch tatsächlich in meinem Laden eingeschlafen. Während Sie mit den Männern geredet haben und ich im Keller Kraut holte, ist der Bengel eingenickt. Hat wohl gestern Abend noch lange gelesen?“

Schweißnass von meinen Träumen sah ich mich um und jubelte in meinem Herzen wie die Engelschar zur Weihnacht: Ich saß auf einem Hocker in Morgenroths Kaufladen. Über mir das freundliche Gesicht der großherzigen Verkäuferin, neben mir das Regal mit den Lappen und Bürsten, auf der anderen Seite die Männer vor ihren Gläsern und mein Lieblingsonkel mit erloschener Zigarre im Mund. Einer der Männer hatte etwas gerötete Augen, aber glücklicherweise eine richtige Nase im Gesicht. In meinem ganzen Leben war ich nie wieder so erleichtert, in Morgenroths Haus zu sein.

„Vielleicht bekommt der Junge ja ein kleines Fieber“, sagte einer der Männer.

„Das denke ich nicht“, erwiderte mein Onkel, der ein Fieber auf hundert Meter erkennen konnte. „Ich befürchte eher, dass in seinem Bett eine Taschenlampe versteckt ist. Er liest nämlich gerade die Schatzinsel, und da haben wir doch alle keine Sperrstunde gekannt, nicht wahr, Jungs?“

Er nahm mich bei der Hand, und wir verließen Morgenroths Haus.

„Wollen wir Verstecken spielen?“, fragte Klaus, der draußen gewartet hatte.

„Nein, sei mir nicht bös’!“, erwiderte ich hastig. „Aber heute hab ich irgendwie keine Lust dazu.“

Morgenroths Haus

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