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Pepe, das Zigarrenkistchen

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Nein, ein Kolonialwarenladen war das Kaufparadies Morgenroth gewiss nicht. Die meisten Dinge zählten zu den Einheimischen. Sie waren nämlich mit der Bahn gekommen. Dennoch gab es weitgereiste Burschen, die nach Fremde rochen und düstere Geschichten erzählen konnten. Das waren vor allem die Zigarren, braungebrannte, windgegerbte Kerle, die sich vor nichts fürchteten und eine raue Stimme hatten.

Sie kamen aus Übersee und hatten nach einer langen Reise die Freie und Hansestadt Hamburg erreicht, die Königin der Hafenstädte. Wer von dort nach Themar kam, wurde besonders beneidet. Denn in Hamburg gab es nicht nur feine Leute und mehrstöckige Kaufhäuser, sondern vor allem ein berühmtes Bordell, das ganz anders war als die billigen Absteigen sonstiger Hafenmetropolen. Obwohl es eingerichtet war wie ein Hotel erster Klasse, fanden selbst Leichtmatrosen aus Ostfriesland dort Aufnahme, sofern sie ihre Heuer noch beisammen hatten. Freilich mussten sie sich zunächst in einem der Bäder des Hauses ausgiebig reinigen. Erst danach erwählte man sich die Dame des Abends und stillte das lange gezügelte Begehren.

Wer aus Hamburg kam, der hatte zwar oft kein Geld mehr, konnte aber von einer Liebe berichten, für die man gern bezahlt. Auch die abenteuerliche Reise der Zigarrenkiste Pepe hat mit diesem Ort käuflicher Lüste zu tun.

Aber beginnen wir die Geschichte an ihrem Anfang:

Pepe wurde am 26. April des Jahres 1921 in Rio von dem achtfachen Familienvater Julio gefertigt, und zwar aus sehr dünnen Brettchen, die in einem neu entwickelten Verfahren gefalzt, geklebt und schließlich am Deckel mit Messingbeschlägen verschraubt wurden. Julio hatte darin eine solche Fertigkeit entwickelt, dass er pro Tag an die zwanzig Kistchen mehr herstellte als seine Kollegen. Deshalb konnte er sowohl seiner drallen Frau wie auch seinen dunkeläugigen Kindern manche Freude bereiten, freilich in sehr bescheidenem Maße, denn der Lohn war karg und nur die Firmenbosse wurden fett.

Julio stellte das fertige Produkt auf ein Förderband. Nun konnte die runde Maria mit einem geschickten Griff genau achtzehn dicke Zigarren in das Behältnis legen, es verschließen und mit einer roten, bedruckten Banderole bekleben. Am Ende wurde die brasilianische Herkunft durch einen Echtheitsstempel bestätigt, den ein Herr vom Zoll mit bedeutungsvoller Miene aufdrückte.

Pepe war die zweiundvierzigste Kiste, die vom geschickten Julio an diesem 26. April 1921 fertiggestellt, von Maria verschlossen sowie von der Staatsmacht gestempelt wurde. Ein ganzer Fuhrpark langer Kutschen wartete schon auf dem Hof, so dass Pepe ohne Verzögerung zu einem stolzen Segelschiff namens „Antonia“ transportiert werden konnte. Zur Besatzung gehörten: der feige Kapitän Jens Leid, der versoffene Steuermann Per Bodenstein, der Schiffskoch Bodo Belter und nicht weniger als 16 Leichtmatrosen, darunter Fritz Teumer, und natürlich der Schiffsjunge Martin Winter, der in unserer Geschichte noch eine herausragende Rolle spielen wird, ein Waisenknabe aus dem Allgäu, der im Gegensatz zu zwei Dritteln der Besatzung die kommende Tragödie überlebte.

Schiffsjunge Martin und Leichtmatrose Fritz freundeten sich bereits am Anfang der langen Seereise an. Beide waren aus einer bösen Kindheit gekrochen und hatten nun tollkühn ihr Schicksal in die eigene Hand genommen.

Während eines windstillen Tages erzählte Martin seinem väterlichen Freund vom Waisenheim „Theodor Fontane“, dessen menschenverachtende Pädagogik den Ruf des unschuldigen Dichters in den Herzen der Kinder gründlich ruiniert hatte. Von entsetzlichen Strafen berichtete Martin dem erstaunten Fritz: Vom Barfußlaufen im Schnee und den Nächten, die man stehend im stillgelegten Kamin des Südflügels verbringen musste. Außerdem erzählte Martin von jenen Dingen, die der Herr Direktor mit einigen Mädchen machte, wenn sie zwar erst zwölf, aber schon erblüht waren. Fritz Teumer, der sich Kinder wünschte, spuckte dreimal aus.

„Schiffsratten allesamt“ fluchte er laut und schwor eine Rache, die er nicht mehr vollstrecken musste. Der Herr Direktor starb wenig später an einer Pilzvergiftung. Er hatte die Todsünde begangen, eines seiner Mädchen in der Küche anzustellen, als es für seine Gelüste schon zu alt war.

„Die Herren Großmäuler sind das schlimmste Saupack in dieser verkommenen Zeit“, fluchte der Leichtmatrose.

Nun hatte die Erwähnung des Missbrauches in dem liebestollen Fritz aber ein heißes Begehren entfacht. Er begann, dem Schiffsjungen Martin von dem herrlichen Haus der Freuden in der Hamburger Innenstadt zu erzählen. Er pries die bildreichen Tapeten und schwärmte davon, dass die Betten immer sauber rochen.

Außerdem fände man stets Sekt und Salziges auf den Tischchen. Am wichtigsten allerdings sei, dass die Dame eigener Wahl immer zwei geschlagene Stunden für ihren Liebhaber Zeit habe. Das alles sei in dem stolzen Preis enthalten. Drei Viertel seiner Heuer müsse man dort hinlegen, sagte Fritz mit leuchtenden Augen. Er fahre also von hundert Seemeilen fünfundsiebzig nur für diese zwei fröhlichen Stunden. Aber das sei es ihm allemal wert.

Der jungfräuliche Martin hörte mit fiebrigem Gesicht zu.

„Dann ist es also unmöglich vom Lohn des Schiffsjungen“, sagte er traurig. Aber sein Freund Fritz wusste eine Lösung.

„Halt mir den Rücken frei!“, sagte er und stieg in den Laderaum hinab. Dort war eine Wache aufgestellt, Alois, ein versprengter Bayer mit Liebe zur See.

„Alois“, sagte Fritz, „ich sing dir die Bayrische Hymne, wenn du mir ein einziges Kistchen voller Zigarren überlässt.“

Alois, der Sehnsucht nach der See hatte, wenn er in Pasing war und Sehnsucht nach Pasing, wenn er auf den Meeren segelte, schwankte kurz in seinem Entschluss. Mit Geld war er nicht zu bestechen. Mit Musik schon.

„Aber du nimmst eines aus der hinteren Reihe“, sagte er, „da fällt es nicht so auf.“

Nun sang Fritz Teumer, der Ostfriese, die Hymne der Bayern, und dem träumerisch veranlagten Alois rollten die Tränen über die Wangen.

„Da sieht man das ganze Gebirg’ vor sich stehen“, stöhnte er und winkte den Sänger nach hinten. Der griff fröhlich zu und hielt das Zigarrenkistchen Pepe in der Hand, das den Beginn unserer Geschichte bildete, weil es im Morgenrothschen Hause steht bis auf den heutigen Tag.

Alois, den wir noch weinend vor uns sehen, hat das Gebirg’ nicht mehr erblickt. Fritz dagegen, der glücklicherweise überlebte, kam nun mit dem Kistchen nach oben und versteckte es unter einem losen Brett in seiner Kajüte.

„Dafür bekommst du deine zwei Stunden“, sagte er zu dem Schiffsjungen Martin, der sich nun in einem Zwiespalt zwischen Vorfreude und Furcht befand, denn er hatte noch keinerlei Erfahrungen im Rätselreich sinnlicher Liebe. Also ließ er sich von dem kundigen Fritz allerlei Erklärungen geben, wobei der Leichtmatrose merkwürdigerweise ein wenig kurzatmig wurde.

In jene etwas schwüle Unterrichtsstunde krachte die erste Kugel aus der Kanone eines portugiesischen Piratenschiffes. Sie riss den Leichmatrosen Bernhard Polt vom Mast und trennte seinen Kopf vom Rumpf, wobei nur letzterer auf die Planken stürzte. Als man an die eigenen Geschütze eilte, war es im Grunde schon zu spät. Der zweite Treffer führte innerhalb weniger Minuten zu einer ordentlichen Schlagseite. Backbord ließ der feige Kapitän gemeinsam mit dem betrunkenen Steuermann ein Boot zu Wasser. Während die Besatzung in Panik durcheinander rannte, sagte der schlaue Fritz zu seinem jungen Freund Martin: „Es ist Zeit, zu gehen.“

Er holte seinen Schiffssack und verstaute das Kistchen Pepe fachgerecht darin. Dann ließen sich Fritz und Martin an Seilen herab ins Boot. Der Kapitän war zu dick, sie abzuwehren, der Steuermann zu besoffen. Fritz und Martin kämpften sich ans Ruder. Bald jagten sie durch Pulverdampf und aufkommenden Abendnebel aus Sichtweite der Piraten und nahmen Kurs auf ein Eiland, von dem sie nur hoffen konnten, dass es nicht das Zuhause der Seeräuber war. Der betrunkene Steuermann war inzwischen rittlings über Bord gegangen und sofort gesunken.

Pepe, das Zigarrenkistchen, spürte die Gefahr der Stunde, denn bei Nässe stirbt jede gute Zigarre einen grausamen Tod. Mehrere hundert Kameraden, deren Umladen in das Piratenschiff nicht mehr gelungen war, erlitten gerade dieses entsetzliche Schicksal. Aber Pepe wurde durch die erotischen Sehnsüchte eines hübschen, aber noch unerweckten Schiffsjungen gerettet.

Als sich das Gemisch aus Nebel und Pulverdampf lichtete, sehen sie die Insel, ein tellerflaches Ding ohne Vegetation.

„Grundgütiger!“, rief Fritz, „Nicht mal Wasser wird man dort finden.“

Nun war der Kapitän zwar feige und ohne jedes Pflichtgefühl, hatte aber eine ganze Seekarte im Kopf, was sich jetzt als höchst nützlich erwies. Mit etwas Glück navigierte er die kleine Besatzung tatsächlich in einen sicheren Hafen. Hier erzählte er einem Kollegen die furchtbar erlogene Geschichte seines heldenhaften Kampfes gegen das elende Seeräuberpack. Fritz Teumer spuckte dreimal aus, beschloss aber ansonsten, sich nicht weiter darum zu kümmern und heuerte zwölf Tage später gemeinsam mit dem Schiffsjungen Martin bei einem englischen Frachter an, der seine Ladung im Hamburger Hafen löschte.

Dort kamen die beiden Freunde am 11. Mai 1921 glücklich an. Im Gepäck hatten sie die Heuer eines Leichtmatrosen und Pepe, das Zigarrenkistchen. Der Schiffsjunge Martin sah den Hamburger Hafen zum ersten Mal. Er zählte die Zwölfmaster und die gewaltigen Dampfschiffe. Er sah den Männern bei ihrer schweren Arbeit zu und entdeckte die ersten leichten Damen, hochbeinig und mit bemalten Augenwimpern.

„Davon lass die Finger und was du sonst noch so hast!“, knurrte Fritz.

Dann warf er sich den Seesack über die Schulter und lief davon. Martin, der Schiffsjunge, hätte sich gern noch ein bisschen umgesehen. Die Bierkutscher standen in langer Reihe und warteten.

Riesige Werbeschilder prangten von den Wänden: „Schneeweiß – der Gardinenkönig: Sicher, sauber, schnell“, hieß es da. Oder, in dicken Buchstaben: „Der Motor machts – Rothstein und Söhne: Mit uns kommen Sie um die Welt!“

Fritz saß etwas abseits und wartete. Er behielt seinen jungen Freund immer im Auge. Und da, tatsächlich, eine der knapp bekleideten Damen ging direkt auf Martin zu: „Na, Kleiner, gerade angekommen?“

„Ja, eben in diesem Moment“, erwiderte Martin, der sie gar nicht wahrnahm, weil er den Hafen in den Augen hatte.

„Bist du zum ersten Mal in Hamburg?“

„Ja“, sagte er, „hier ist die ganze Welt beisammen, nicht wahr?“

„Sicher“, sagte sie, „und alles Schöne auch. Du bist noch so jung. Für dich mache ich einen Sonderpreis.“

Jetzt erst blickte Martin sie an, eine korpulente Dame, die seine Mutter hätte sein können.

„Tut mir leid“, stotterte er verlegen, „mein Freund sagte ...“ Aber da war Fritz auch schon zwischen ihnen.

„Komm, Junge, wir sind besseres gewohnt“, sagte er.

„Elender Sauhund“, fluchte die Frau und schickte noch eine erstaunlich reichhaltige Kanonade an Schimpf- und Schandeworten hinter ihnen her: „Schiffsratten, elende! Pestbeulengesichter! Eunuchenpack, versifftes! Schweinebande! Scheißkerle ...!“ Martin hörte die Tiraden noch, als sie schon um die Ecke gebogen waren.

„Jetzt geht es ihr wieder besser“, sagte Fritz trocken.

Es wurde dunkel, und die Geschäfte zeigten ihre beleuchteten Auslagen: Der Juwelierladen mit seinen funkelnden Kostbarkeiten, das Haus des Hutmachers Paroli, in dem gerade umdekoriert wurde. Das Pralinengeschäft Mayer, aus dem es so süß duftete, und schließlich das amerikanische Kaufhaus, in dem es vom Hausschuh bis zum Pelzmantel nicht weniger als alles gab.

Jetzt wurde es lauter. Straßenbahnen kreischten und die Marktschreier am unteren Ende konnte man auch schon hören:

„Bananen bester Qualität, frisch aus Übersee! Einen Groschen billiger als gestern. Brezeln, frische Salzbrezeln!“

„Wiedergeburt“, schrie eine heisere Männerstimme, „das Haarwuchsmittel mit Erfolgsgarantie!“

„Hier gibt es reinweg alles“, sagte Fritz zu seinem staunenden Freund, der nur so dahintaumelte vor Schaulust. Die Straßenlaternen flammten auf, große, milchgesichtige Ballons, die über den Menschen hingen. Ein Kriegsversehrter hockte am Brunnen und verkaufte Schwefelhölzer mit seiner verbliebenen Hand.

„Es ist der Unterschied“, murmelte Fritz, „er macht einen so meschugge, Kleiner. Der Unterschied.“

Martin wusste nicht, was sein Freund meinte, aber er ahnte es natürlich.

„Gerade Seeleute verstehen es oft nicht“, begann Fritz wieder, „sie fahren Monate auf den einsamen Meeren herum. Dann kommen sie nach Hamburg. Die erste Hure nimmt ihnen schon die Hälfte der Heuer für einen elend schnellen und lieblosen Dienst. Dann kommen sie hierher, werden aufgesogen und ausgepresst, versinken in all dem Überfluss und kommen leer wieder nach oben wie eine Flasche, die sich unter Wasser verschüttet hat. Schon nach der ersten Nacht haben sie keinen Groschen mehr in der Tasche. Dann nehmen sie irgendeine Schinderarbeit am Hafen an oder fahren gleich mit dem nächsten Kahn wieder ab. Es ist der Unterschied, Kleiner! Er raubt dir die Vernunft. Merk’ dir das!“

Sie bogen in eine Seitenstraße ein. Die Schaufenster wurden kleiner: Ein Schuster, ein Schneider und die Leuchtschrift des Messerschmiedes Dörfer in dritter Generation.

„Da drüben ist es!“, sagte Fritz feierlich.

Martin war ein bisschen enttäuscht. Von außen machte das Haus nicht viel her: Kleine Fenster, vor denen blaue Gardinen hingen, eine schwach beleuchtete Tür und ringsum keine Menschenseele.

„Wir sind noch etwas früh dran!“, sagte Fritz. „Erst ab zehn geht es so richtig los. Aber wir können schon unsere Karten holen.“

Sie schritten forsch in die Empfangshalle. Auf dem Teppichboden konnte man allerlei Badeszenen beobachten. Martin lief gedämpften Schrittes auf den Bildern nackter Damen und Herren herum. Fritz kümmerte sich inzwischen um das Geschäftliche.

„Die Herren wünschen sich zu amüsieren?“, fragte eine Dame in die Untiefen ihres Dekolleté hinein.

„Jawohl“, sagte Fritz Teumer, der Leichtmatrose und hinterlegte das geforderte Geld. Nun bekam er eine Karte mit Bändchen an der Seite.

„Und was ist mit dem verträumten Jüngling dort?“, fragte die Dame.

„Ein Anfänger, mit Verlaub!“, sagte Fritz. „Geld hat er kaum, aber mit dieser kleinen Kostbarkeit wird es schon gehen, nicht wahr?“ Die Dame nahm das Kistchen Pepe in die Hand und prüfte das Gewicht.

„Ihr Kerle habt doch keine Bambushölzchen drin?“

„Wo denken Sie hin!“

„Man erlebt hier so manches, mein Lieber. Ich habe schon eine vollständig versiegelte Flasche Champagner entgegengenommen, in der nichts als Seifenwasser war. Nun gut, der Kleine muss es sowieso mit seiner Erwählten selbst aushandeln. Gib ihm die Kiste zurück!“, sagte die Vollbusige und händigte die zweite Karte aus.

„Junge, das sind doch nur Bilder!“, sagte Fritz zu seinem in den Fußboden versunkenen Freund. „Das kommt alles noch viel besser. Hier, nimm!“

Und so kam das Zigarrenkistchen Pepe in den Genuss, das erlesenste Freudenhaus der Freien und Hansestadt Hamburg kennen zu lernen. Es schritt mit dem verklärten Martin durch den Saal. Dort saßen allerlei elegant gekleidete Herren und rauchten Pfeife oder lange Zigaretten. Auch ins Casino schlenderte Fritz mit seinem Freund, wo die Großkopfer, wie er sagte, ihr Geld verspielten. Die Herren saßen an einem riesigen Tisch und starrten so fiebrig auf den Lauf der Kugel, als ob ihr Schicksal davon abhinge.

„Der Reeder Emsmussen hat hier im Laufe der Zeit seine neun Schiffe verloren und sich dann im Stadtpark aufgeknüpft. Spielen ist noch schlimmer als Saufen. Lass am besten von beidem die Finger!“

Wir sehen bewundernd: Fritz Teumer war seinem jugendlichen Gefährten ein wirklich guter Freund. Er bemühte sich, ihn vor dem Schlimmen zu bewahren und zum Schönen zu verführen.

Das Schöne war freilich noch nicht da. Es war gerade mal acht und die Damen marschierten erst Punkt Zehn in einer langen Parade ein. Aber die so genannten Badenixen arbeiteten schon. Gegen ein kleines Trinkgeld massierten sie sogar die müden Schultern und Rücken. Sie trugen hochgeschlossene Kleider und ließen sich auf keinerlei Wünsche eines verfrühten, durch Baddämpfe und eigene Nacktheit erwachten Begehrens ein. Im Badesaal war um diese Zeit noch wenig los. Martin hatte zunächst Probleme mit dem Entkleiden, denn es bestand noch eine beträchtliche Unausgewogenheit zwischen seinem männlichen Sehnen und seiner kindliche Scham.

„Das erste Mal?“, fragte eine Frau, die schon jenseits der mittleren Jahre war.

„Ja, sozusagen.“

„Delegiert?“, fragte sie.

„Bitte?“

„Ob du vom Vater geschickt worden bist, Kleiner?“

„Ich habe keinen Vater.“

„Ach so, weißt du, die vermögenden Väter schicken ihre Söhne gern zu uns. Sie sollen das Handwerk von Professionellen lernen. Und nun setz dich da rein! Es dampft zwar ordentlich, aber du wirst dich nicht verbrühen.“

Martin ließ sich in das Schaumbad fallen. Es war wunderbar. Nicht weit von ihm sang Fritz Teumer aus vollem Halse die Hymne der Bayern, die noch vor wenigen Tagen der gerührte Alois unter allerlei Tränen gehört hatte, bevor er gemeuchelt auf den Meeresgrund sank, wo er das Gebirg’ nun endgültig nicht mehr sehen wird.

„Na, wie ist es?“, rief Fritz, als er seinen Gesang beendet hatte.

„Wunderbar“, erwiderte Martin aus dem Schaum heraus, „aber sie hat meine Sachen fortgetragen.“

Fritz lachte: „Die bekommst du schon zurück. Nach der Wanne geben sie einem immer Bademäntel. Die muss man sich später, wenn die Bescherung kommt, nicht einmal selbst ausziehen.“ Martin verspürte wieder dieses flaue Gefühl in der Magengegend. Man konnte sich furchtbar blamieren bei diesen Dingen.

„Hier Kleiner, ich leg alles auf den Stuhl“, sagte die Badedame.

„Deine Zigarren stehen auch dabei. Du lässt sie wohl niemals aus dem Auge?“

„Ich brauche sie zum Bezahlen!“

„Das dachte ich mir. Mach’ sie nicht nass, sonst gehst du heute Abend leer aus!“

Das Zigarrenkistchen Pepe hörte die Bewegungen des Wassers, das Singen des Leichtmatrosen, der nun zu frivolen Seemannsliedern überging, und das Lachen der beiden Damen, die etwas abseits saßen. Irgendwann brachten sie den Herren große Handtücher, massierten sie mit einem Duftöl, das die Atmung beschleunigte, und gaben ihnen lange, weiße Bademäntel mit tiefen Taschen, in die nun das Zigarrenkistchen Pepe wanderte. Es ging auf halb Zehn, und die ersten Herren aus dem Billardzimmer trafen ein. Sie schauten etwas abschätzig auf Fritz und Martin in ihren sorgfältig geschlossenen Morgenmänteln und setzten sich auf die andere Seite.

„Saupack, elendes!“, knurrte Fritz und verbat sich, auszuspucken.

„Wenn du einmal reich wirst, Kleiner, dann bleib immer auf deinem Korridor. Mach’ es nicht so wie die da drüben!“

Jetzt traten die ersten Tänzerinnen auf. Sie warfen die Beine in die Höhe und bückten sich rittlings, die Röcke über den Rücken nach oben schleudernd.

„Das sind nur die Anheizerinnen!“, sagte Fritz.

Die Herren aus dem Spielcasino trafen ein, sofern sie nicht, vom Spiel berauscht, die ganze Nacht hocken blieben. Die Kapelle spielte einen Tusch, die Tänzerinnen verschwanden und nun war es kurze Zeit still. Nur die Ungezogensten riefen Unflätiges, wurden aber sogleich ermahnt. Es war ein bisschen wie Weihnachten im bürgerlichen Heim: Die Spannung riss an der Stille, die Erwartung machte das Atmen schwer. Die weiße Garde in ihren Bademänteln, fast alle von irgendeinem stolzen Schiff im Hamburger Hafen ausgespuckt, verknotete die Hände, bis sie weiß wurden. Amor, der Geiger, fiedelte mancherlei jauchzenden Ton und endlich, endlich zogen die Damen ein. Jetzt begannen die Bravorufe, die Pfiffe und das Gejohle. Einige klatschten, andere hatten die Hände nicht frei. Die Herrlichkeiten betraten die Bühne, eine nach der anderen, bis sie in einer langen Reihe standen und hinabwinkten. Alle trugen hohes Schuhwerk, das die Beine noch mehr streckte, die ja ohnehin bis zu den Bäuchen langten. Einige verrauschten sich in durchsichtigen Strümpfen, die auf halber Höhe der Oberschenkel endeten.

Die nackten Hälse zeigten wie Finger nach unten, wo die Brüste durch aufgeklebte Goldsterne mehr verziert als verdeckt wurden.

„Kruzitürkennochemol!“, rief Fritz Teumer im Dialekt des verblichenen Alois. „Hat sich die ganze Schinderei doch wieder gelohnt!“ Martin, unser Schiffsjunge mit Pepe in der Tasche, bestaunte die Bäuche der Damen, auf die man Zahlen gemalt hatte. Von der 1 bis zur 42 war mancherlei zu sehen: ganz Schlanke fast ohne Wölbung, richtig Fette, deren Wülste überhingen, und natürlich auch die dazwischen, denen das Schicksal die göttliche Idealziffernkombination geschenkt hatte.

„Siehst du die 17?“, flüsterte Fritz. „Das ist Helene. Die hatte ich beim letzten Mal. Ein bisschen albern, aber sehr eifrig, Die könnt ich dir empfehlen.“

Die ersten Herren riefen ihre Nummern. Hier musste man schnell sein. Die Nummer 21 beispielsweise war sofort weg. Ein blondes Traumweib mit Beinen, die bis zum Himmel gereicht hätten, wären sie nicht von anderem aufgehalten worden. Auch die 9 hatte keine Not, sich zu verdingen. Ein reiferer Herr mit Monokel zog mit ihr davon.

„Die wird nicht viel Freud’ haben mit dem Gockel da!“, sagte Fritz ärgerlich. Er hätte die 9 auch gern gehabt. Jetzt nahm er halt die 12, schwarzhaarig, voll in den Hüften und oben herum das Gebirg’ des verstummten Alois.

„Du musst dich ranhalten, mein Junge“, sagte Fritz im Gehen, „am Ende stehen nur noch die Ladenhüter im Schaufenster.“

Aber Martin hockte trockenen Mundes wie festgeklebt auf seinem Stuhl. Er hatte ein zartes Mädchen mit wunderschönen Augen entdeckt, kaum älter als er selbst. Auf der Bühne standen nur noch siebzehn Damen. Martin fürchtete bei jedem weiteren Ruf, nun werde Nummer 31 wohl erwählt. Aber sie blieb stehen, und endlich gab sich Martin einen kräftigen Stoß, rief, so laut es ihm sein kratziger Hals erlaubte: „Einunddreißig.“

Da erschrak die Schönäugige ganz entsetzlich. Sie sah mit ihren flehenden Augen zu ihm hin. Aber er war schon aufgestanden, um sie zu holen, seinen Preis des Abends. Und so ging sie mit ihm. Auch das Zimmer, in dem sie verschwanden, war die 31. Es gab ein breites Bett darin, ein Tischchen mit Gebäck und Wein, einen Kleiderständer und die gedämpfte Lampe. Martin setzte sich.

„Es tut mir leid“, sagte er, „ich bin zum ersten Mal hier und kenne die Gepflogenheiten nicht. In Wahrheit war ich überhaupt noch nie mit einer Frau zusammen. Mir fehlt die Erfahrung in diesen Dingen.“

Jetzt erst wagte er aufzublicken.

„Mir auch“, sagte die Zarte leise.

„Aber Sie sind doch hier angestellt!“, sagte Martin verwundert.

„Ja, seit Montag, aber es hat mich nie jemand genommen, und mir wars recht so.“

Martin blickte auf, sah ganz tief in die braunen Pupillen hinein und verliebte sich zum ersten Mal in seinem jungen Leben gleich dermaßen heftig, dass ihm ganz schwindlig wurde. Er nahm die Decke und legte sie dem Mädchen um die Schultern. Jetzt war ihr kleiner Sternenbusen ebenso bedeckt wie die schlanken Beine. Martin griff verlegen in die Tasche, wo er auf Pepe, das Kistchen stieß, einen Voyeur wider Willen.

„Das habe ich als Bezahlung mitgebracht“, sagte er. „Rauchen Sie?“ Sie lachte: „Auch darin bin ich noch unschuldig. Bei uns im Heim war es streng verboten.“

Plötzlich sah der Schiffsjunge Martin das Waisenheim „Theodor Fontane“ wieder vor sich und wurde hellhörig.

„Sie waren auch im Kinderknast?“

„Ja, sozusagen.“

„Dann verbindet uns ja doch etwas. Im übrigen bin ich Martin Winter, der Schiffsjunge.“

„Angenehm“, sagte sie, „Irene Friedenthal. Verhinderte Prostituierte.“

Sie sahen sich lachend in die Augen, und plötzlich begann in Zimmer 31 ein langes, bitteres und doch unerhört vertrautes Fragen und Antworten, Kichern und Schluchzen und vor allem ein heißes Verlieben in den gequälten Herzen. Als die zwei Stunden verstrichen waren und draußen der Gong ertönte, da saß das Mädchen Irene noch immer dicht bei dem Schiffsjungen Martin, in die Decke gehüllt, jungfräulich beide nach wie vor, aber glücklicher als alle anderen in diesem freudenreichen Haus. Pepe hatte mancherlei gehört, aber wenig gesehen und wars zufrieden. Was interessiert sich ein Zigarrenkistchen auch für die fleischlichen Dinge?

Fritz Teumer, der selige Leichtmatrose, hockte schon fertig angezogen da, als Martin mit der schönäugigen Irene kam.

„Aber Kumpel“, sagte Fritz, „du darfst die Dame des Abends doch nicht einfach mitnehmen. Wo denkst du hin?“

„Mach ich aber“, sagte Martin übermütig, „und vielen Dank für alles!“

Fritz sah ihn entgeistert an: „Die Lust hat dich doch nicht zum Narren gemacht, mein Freund?“

„Wenn schon, dann die Liebe!“, erwiderte Martin, seine Irene fest im Arm haltend.

„Hast du denn nicht ...“

„Nein, wir mussten einfach zu viel reden.“

„Und die Zigarren?“

„Die sind noch da“, sagte Martin.

Nun wurde Pepe mitten im Hamburger Nobelbordell geöffnet, denn man findet hier genügend Abnehmer für brasilianische Zigarren.

Bis auf eine einzige wurde Pepe leer gekauft und das verliebte Paar beschloss nun in seinem fröhlichen Übermut zu verreisen. Am Bahnhof las man einander allerlei mögliche Ziele laut vor: Hameln, Querfurt, Rothenstein. Aber am verheißungsvollsten klang Sonneberg in Thüringen. Als Martin zum Fahrkartenschalter ging, erklärte man ihm dort, dass sein Geld nicht bis Sonneberg reichte. Man könne auf dieser Strecke allenfalls bis Themar kommen.

Das klang zwar vom Namen her nicht so schön, wie es dann in Wirklichkeit war, aber die beiden Hochverliebten waren in so ausgelassener Stimmung, dass sie nun eine Fahrkarte von Hamburg nach Themar lösten. Martin bestaunte die riesige Dampflok ausgiebig und plauderte mit Lokführer Ludwig. Am Ende stellten beide erfreut fest, dass die Bahn einen unbestreitbaren Vorteil hat: Sie kann nämlich niemals untergehen.

Die zarte Irene, die vollständig angezogen viel bezaubernder aussah als unter ihren Goldsternen, schenkte dem Lokführer Ludwig die letzte Brasil, so dass unser Kistchen Pepe nun leer, aber durchaus sehr erleichtert war.

Auf der langen Fahrt mit mehrmaligem Umsteigen schmiegten sich die beiden Liebenden aneinander. Die schöne Irene legte ihren Lockenkopf auf Martins Schoß. Im benachbarten Abteil der dritten Klasse führte eine Bäuerin zwei Gänse in einem Käfig mit sich. Das Federvieh machte einen so entsetzlichen Lärm, dass Martin seine großen Hände über die Ohren der Liebsten legte, ihren Schlaf zu behüten. Er wusste schon damals, dass er sie beschützen musste – ihr ganzes Leben lang. Allerdings ahnte er noch nicht, wie nötig sie seine großen Hände einmal haben würde. Irene war nämlich Halbjüdin von Geburt, und es kamen bald die Jahre ganz anderer goldener Sterne in ihrem Leben. Sie wurden auf die Jacke genäht und bedeuteten das sichere Todesurteil. So fuhr Martin schließlich im Jahre 1937 noch einmal mit dem Schiff, und zwar mit Irene und den Kindern nach Amerika. All seine Ersparnisse langten nicht, aber es gab Menschen mit offenen Händen im kleinen Themar, den Schnitzer und den Geschäftsinhaber eines gewissen Kaufladens.

Aber so weit sind wir noch nicht.

Irene schlief noch, beschützt von einem Liebsten, den sie auf höchst ungewöhnliche Weise kennen gelernt hatte. Die Gänse stiegen jetzt aus und ein Offizier ein. Er schaute das Paar durch seinen Feldstecher hindurch an und eine kleine Sehnsucht regte sich in ihm. Aber seine Seele war bei Verdun gestorben und lag verschüttet in einem der eingestürzten Schützengräben.

Auch Martin war nun eingeschlafen. Das Kistchen Pepe stand neben ihm, leer an Zigarren, aber reich an Erfahrungen eines kurzen und doch ereignisreichen Lebens.

Der Zug rumpelte dahin. Manchmal pfiff die Lok laut auf. Ein andermal hörte man die Bahnschranken klirren. Im Ozean sank gerade das letzte Zigarrenkistchen, durch eine freundliche Strömung bisher immer in Bewegung gehalten, auf den Meeresboden hinab, wo schon Alois, der Bayer, und fünfzehn Leichtmatrosen ruhten. Nur den Schiffskoch hatten die Piraten mitgenommen, denn ihr Fraß war bisher schauerlich, und das rettete ihm das Leben.

In Erfurt stiegen Irene und Martin zum vorletzten Mal um. Irene streichelte Pepe ganz zart: „Mein Glückskistchen!“, sagte sie leise.

Die beiden Liebsten hatten noch niemals einen Tunnel passiert. Nun stürzten sie plötzlich in Finsternis, erschraken, hielten sich aneinander und lachten, als es wieder hell wurde.

Und so kamen sie schließlich in Themar an, ein leeres Zigarrenkistchen im Gepäck. Als sie vom Bahnhof aus Richtung Kirche gingen, da standen sie plötzlich vor Morgenroths Haus. Pepe entdeckte in der Auslage einen Bruder, das Zigarrenkistchen Rio, das schon vor einem halben Jahr angekommen war.

„Ich habe noch drei Pfennige“, sagte Irene, „wir wollen sehen, was wir dafür bekommen können.“

Im Laden standen zwei Männer in sägemehlweißen Latzhosen. Sie drehten sich natürlich um, denn die Liebe kommt auch hier nicht jeden Tag so fröhlich hereinspaziert. Die eifrige Frau Morgenroth fragte nach dem Begehr und Irene legt das letzte Geld auf den Ladentisch.

„Ich hab da auch noch ein leeres Zigarrenkistchen“, sagte Martin.

„Hm“, murmelte Frau Morgenroth „nun gut. Als Behältnis immer willkommen.“

Sie kochte Kaffee, belegte einige Brote mit Wurst und schaute zufrieden, als die beiden aßen. Dann holte sie den Kuchen vom Sonntag und Martin aß ihn ganz allein auf, denn Irene war immer viel zu schnell satt. Als die beiden schließlich hinter einem der Arbeiter herzogen, weil er ein Zimmer für sie hatte und Arbeit für den kräftigen Martin, blieb das Zigarrenkistchen Pepe endgültig zurück. Aber wenn Irene später in Morgenroths Haus kam, um einzukaufen, dann warf sie stets einen dankbaren Blick auf Pepe.

Als sie im Jahr 1937 mit der Bahn nach Hamburg zurückreisen und nach Amerika auswandern mussten, weil es Martin glücklicherweise so wollte, sagte Irene zu den traurigen Morgenroths:

„Ich komme wieder. Hebt mir den Kleinen auf!“

Und die tüchtigen Ladeninhaber nickten, allerhand Tränen in den Augen. Es war nach der kalten Nacht der Kristalle, als der Mob sich austobte und mit Lust brandschatzte. Der kluge Martin, einst Schiffsjunge und verhinderter Liebhaber, erkannte die Unheilszeichen der Zeit und handelte. Diesmal hatten sie den treuen Pepe nicht im Gepäck, aber sie hatten einander, die Kinder und allerlei Erinnerungen, die eine Rückkehr versprachen. In Themar wartete eine Tischlerei, ein Kaufmannsladen und eine gut gehütete Zigarrenkiste, die der dreijährige Kaufmannssohn Arnd Morgenroth im Jahre 1945 zum ersten Mal ganz bewusst wahrnahm. Dass er daraufhin sofort „Pepe“ sagte, ist nur ein Gerücht, aber ein sehr liebenswertes.

Irene, Martin und die Kinder Johanne, Annemarie und (wir erinnern uns, aus welchem Grunde:) Fritz kehrten im Jahre 1952 zurück nach Themar und zu Pepe, dem alten hölzernen Kameraden in Morgenroths Haus.

Warum? Weil diese Geschichte einen guten Schluss haben muss. Basta und Pepe!

Morgenroths Haus

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