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Mannsbilder im Freibad
ОглавлениеSchaut euch das mal an“, sagte Ulli, „fünfzig laufende Meter Unterwäsche.“
Frank pfiff ordentlich durch die Zähne, denn fünfzig laufende Meter Unterhosen, Seidenstrümpfe und manches mehr auf einer Wäscheleine unweit der Ladestraße, das ist schon was. Selbst wenn es eigentlich nur zwölf Meter waren.
„Und wo sind die BHs?“, fragte ich.
„Die hängt sie nicht raus! Die müssen auf dem Dachboden trocknen.“
„Aber bei der Tochter des Bürgermeisters nicht.“
„Nein“, sagte Frank, „bei der hängen sie zwischen den Obstbäumen.“
Die Tochter des Bürgermeisters hieß Ellen und war das unerreichbare Ziel unserer verfrühten Männersehnsüchte. Sie hatte alles, was man sich mit zwölf Jahren erträumt.
„Ich hab sie schon mal fast nackt gesehen“, sagte ich.
„Ja, ja, die Geschichte kennen wir schon.“
„Sie hatte ja noch was an!“, maulte Andreas.
„Nur ein rotes Höschen und einen Büstenhalter.“
„Toller Erfolg, echt!“, spottete Ulli.
So ging das oft. Wir drangen nur bis in den Vorhof all der Geheimnisse, die sich mit den großen Damen verbanden. Frauen waren rätselhafte Fabelwesen, was ihre Körper betraf, Sirenen, die unentwegt lockten und dennoch keinerlei Erfüllung schenkten.
Auch die Mädchen in unsere Klasse waren zum Teil um Lichtjahre weiter und lachten uns aus, wenn wir beim Umziehen schief auf ihre Bäuche starrten. Sie schwärmten für Kerle aus der neunten oder zehnten Klasse, nicht für uns. Und wir berauschten uns an der drallen Tochter des Bürgermeisters, außerdem an Marion, die in käuflichem Ruf stand, und an Sebastians Mutter, Mitte dreißig schon, aber mit dem Körper einer Göttin gesegnet. Der Schöpfer hatte die Welt mit allerlei Reizvollem ausgestattet, unter anderem auch mit Lippen, Augenwimpern und Wölbungen unter engen Pullovern, die mehr versprachen als die Gleichberge bei Römhild. Die ganz Kecken unter uns behaupteten, alles schon zu wissen. Das waren die schlimmsten Lügenbolde.
„Die Marion machts mit den Kerlen für Geld“, meinte Ulli mit einem leichten Schaudern in der Stimme.
„Ja, das sagt man“, nickte Frank.
„Wir könnten sie ja mal fragen“, sagte ich.
Andreas war dagegen. Er war ja auch noch ein bisschen jünger als wir.
„Man muss doch nur bis zur siebenten Klasse warten. Dann kommt das in Bio dran!“, sagte er trotzig.
„Das geht doch nicht theoretisch.“
„Wieso nicht?“
„Weil mans machen muss, sonst hat es keinen Zweck.“
„Mein Bruder sagt, man muss dabei an Urlaub denken“, sagte Frank.
„Quatsch!“
„Doch, an Palmen oder so was eben. Sonst geht es nicht.“
„Große Brüder lügen bei solchen Themen immer“, behauptete Ulli.
„Die tun wer weiß wie und dann haben sie noch gar keine Frau gehabt.“
„Also, stimmen wir ab!“, sagte ich ungeduldig. „Wer ist dafür, dass wir Marion fragen? Wir können doch unser Taschengeld zusammenlegen, und wenn es nur für einen langt, dann gucken die anderen halt zu.“
Andreas war dagegen, Ulli wollte nur zuschauen. Also mussten Frank und ich es ausknobeln. Es erwischte natürlich wieder mich. Ich hatte ja auch den Mund zu voll genommen.
„Gut, und jetzt?“, fragte Frank.
„Jetzt bringen wir uns erst einmal in Stimmung!“, sagte ich.
„Was soll das denn nun wieder werden?“, fragte Andreas.
„Wir gehen ins Waldbad und schauen durch die Löcher in die Umkleidekabinen!“
„Das letzte Mal hast du uns den nackten Hintern unseres Mathematiklehrers gezeigt.“
„Gut, das war halt Pech. Diesmal klappt es besser.“
Wir liefen also in einem großen Bogen von hinten an das Themarer Waldbad heran. Dort, wo der Zaun am niedrigsten war, kletterten wir drüber und schlenderten auffällig sorglos über die große Liegewiese.
„Guck mal, die Brigitte!“ hauchte Ulli aufgeregt.
Tatsächlich, da lag die schöne Schlanke aus der neunten Klasse, ein Traumweib mit Beinen, so lang wie die heißen Gedanken daran.
„Sie liegt auf dem Bauch und der Rücken ist frei!“, stammelte nun sogar Andreas.
„Wenn die sich jetzt umdreht!“
Sie drehte sich aber nicht um. Die aufregende Brigitte las gerade in einer Romanzeitung und lag rückenfrei vor uns.
„Was glotzt ihr denn so?“, fragte sie unvermittelt, ohne auch nur einmal von ihrer Lektüre aufzublicken.
„Wir wollten nur ...“, stotterte Frank, aber es fiel ihm nichts ein.
„Macht die Mücke, Babys!“, sagte sie in hartem Befehlston, und wir gehorchten natürlich.
„Die spinnt wohl. So spricht man nicht mit einem Mann!“, sagte Ulli, als wir in sicherer Entfernung waren.
„Nee, mit einem Mann nicht“, spottete Andreas, „aber mit uns schon.“
„Du hast genauso hingeglotzt!“, maulte Frank.
„Hab ich nicht!“, behauptete Andreas.
Immerhin, es war ein richtiger Festtag für uns. Auf der linken Seite lag nämlich die Schwarzhaarige aus der Eisdiele, Waltraut, die Weiche. Ein bisschen zu füllig, aber immer an den richtigen Stellen.
„He, die Waldi ist auch da!“, sagte Frank.
„Ja, schon!“, erwiderte ich. „Aber wenn alle hier draußen rumliegen, dann kann ja nur noch der Magerquark in den Kabinen sein.“ Das war unser Wort für die Kleinen und Dürren, an denen man überhaupt keine vernünftigen Sichtstudien betreiben konnte.
„Jetzt sind wir einmal hier, da versuchen wir es auch!“, sagte Ulli.
„Klar“, meinte Frank, „wir verteilen uns. Wer einen Treffer hat, gibt Zeichen.“
Es war gar nicht so einfach, im Freibad einen Treffer zu landen. Es zogen sich ja nicht alle Damen gleichzeitig um, und die Auserwählten schon gar nicht. Man musste viel Glück haben.
Wir verteilten uns und schlichen von hinten an die Holzkabinen heran. Ulli hatte wieder Pech. Seine war leer. Andreas durfte den Bauch eines Klempners aus Reurieth bewundern, aber Frank hob den Daumen, während ich gerade vorsichtig mein rechtes Auge an einen ordentlich breiten Spalt legte. Man musste nämlich höllisch aufpassen. Die Damen konnten ausgesprochen brutal zu Werke gehen, wenn sie sich ertappt fühlten. Einmal war der kleine Bodo Binsenstein schreiend auf die Wiese gelaufen, das rechte Auge wild reibend. Ein Mädchen aus der Achten hatte ihm durch das Guckloch Shampoo in die Pupille gespritzt und der Bademeister spülte das Auge lange, bis die Schmerzen nachließen. Binsenstein musste nach Meiningen zum Augenarzt und war noch einige Tage der Dumme in der Schule mit seinem feuerroten Auge.
Frank hatte in seinem Sichtfenster eine halbnackte Mutter mit Kleinkind erwischt und die anderen wollten sie auch mal sehen. Reden durfte keiner, nur Zeichen geben oder Winken.
Ich blieb, wo ich war und spähte durch den Spalt. Als ich mich an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, traute ich meinen Augen nicht: Patrizia Weihmann, die Mutter aller unzüchtigen Knabenträume, splitterfasernackt! Ich wollte die anderen herbeiwinken. Sie würden mir nachher sowieso nicht glauben bei all dem, was ich immer erfunden habe. Endlich kam wenigstens der Ulli angerannt und sah durch den Spalt. Ich dachte schon, er würde wieder sein blödes
„Sau, noch mal!“ herausbrüllen, aber er nahm sich glücklicherweise zusammen. Patrizia Weihmann rieb sich mit Sonnenöl ein. Das dauerte glücklicherweise eine ganze Weile. Sie fuhr mit ihren Fingern über alle möglichen Erdteile. Als die anderen endlich begriffen hatten, dass wir nicht schummelten, entbrannte ein mörderischer Kampf um den Durchblick zum Paradies. Selbst Andreas mischte nun mit. Das Ungestüme aber ist in solchen Momenten immer das Falsche. Und dann war es auch schon passiert.
„Saubande, elende!“, schrie Patrizia, die Göttliche, von innen. Dummerweise hatten wir nicht bemerkt, dass auf der anderen Seite Patrizias Beschützer wartete, fast zwei Meter groß und von entsprechenden Kräften. Der kam nun um die Ecke geflitzt. Frank floh nach hinten, Ulli und ich nach links, und so erwischte es Andreas, der wie versteinert stehen blieb. Er musste es nun ausbaden. Wir warteten in sicherer Entfernung. In solchen Fällen gibt es nur eine begrenzte Solidarität. Da muss jeder selbst klarkommen.
Jetzt bog auch noch Patrizia, in knappem Badeanzug, um die Ecke und mischte mit. Dem guten Andreas ging ordentlich die Muffe, das konnte man sehen. Es nutzte ihm jetzt auch nichts mehr, dass er als einziger dagegen gestimmt hatte. Abweichlern geht es irgendwann immer an den Kragen.
„Soll ich ihm die Birne einschlagen?“, fragte der Kerl triumphierend.
„Verdient hätte er’s ja, aber wir wollen gnädig sein. Wir stechen ihm nur die Augen aus“, sagte Patrizia.
Mein Freund Andreas wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Patrizias Liebhaber hatte nämlich tatsächlich ein Taschenmesser. Der Kerl fuhr mit der Klinge vom Bauchnabel bis zum Kinn.
„Wie heißt du?“, fragte er.
„Äh, äh, ich heiße Andreas.“
„So, in Zukunft heißt du blinder Andreas.“
„Aber das können Sie doch nicht machen!“
„So, kann ich nicht?“
Mir reichte es. Ich verließ das Gebüsch, die anderen folgten.
„Du lässt das jetzt!“, rief ich.
„Oh, da sind ja die anderen Spanner!“, sagte Patrizia. „Seid ihr wenigstens auf eure Kosten gekommen?“
„Es tut uns ja leid“, sagte Frank, „aber ein Staatsverbrechen ist das doch nun auch wieder nicht.“
„Nein, aber einen von euch müssen wir schon bestrafen, oder?“
Sie kam auf uns zu. Wir konnten gar nicht hinschauen. Wir hatten noch das andere Bild von ihr im Kopf.
„Es sei denn, ihr befreit ihn irgendwie aus dieser unangenehmen Lage“, sagte sie, dicht vor mir stehend.
„Das machen wir auch“, erwiderte ich kämpferisch. Andreas keuchte noch immer im Würgegriff des Riesen.
„Also, wer von euch Knalltüten hat genug Mut?“
Frank schaute zu Boden, Ulli kaute an seinen Fingernägeln.
„Tja, Kleiner, tolle Freunde hast du!“
Andreas schaute mich kurz an. Jetzt war es klar: Ich musste mich opfern. Sonst brauchte ich gar nicht mehr im ersten Stock Georgstraße 17 an die Tür zu klopfen. Das konnte ich mir dann für alle Zeiten abschminken. Also trat ich vor.
„Ich mach das.“
„Oh, doch ein Held! Na, dann wollen wir mal“, sagte Patrizia mit einem unheildrohenden Lächeln auf den tollen Lippen. „Siehst du die Frau da unten auf dem blauen Handtuch?“
„Die mit der Badekappe?“
„Ja, genau die. Kennst du sie?“
„Nö, nie gesehen.“
„Das ist meine Klassenlehrerin, ein fieses Raff, ein Ausbund an Gemeinheit. Sie hat ihre Lieblinge in der Klasse, die Streber und die Duckmäuser. Alle anderen sind am Arsch. Letzte Woche hat sie mir eine Fünf gegeben, obwohl ich fast alles richtig hatte. Du wirst
jetzt zu ihr gehen und ganz laut ‚fette, schmierige, alte Kuh‘ sagen.“
„Bist du verrückt geworden?“
„Toll, Patrizia, das ist echt fetzig!“, sagte der Riese plötzlich. „Das haut voll durch.“
„Aber die zinkt mich doch an!“, protestierte ich.
„Du musst dich entscheiden!“, lächelte Patrizia. „Der kleine Blinde wird es dir ewig übel nehmen, wenn du das Falsche tust.“
Das war natürlich nicht von der Hand zu weisen. Mein bester Freund Andreas, im Schwitzkasten und mit einer kühlen Klinge auf der Haut: Das war schon ein unschlagbares Argument.
Also ging ich langsam los.
„Und so laut, dass es alle hören können!“, sagte Patrizia. „Sonst gilt es nicht. Soll ich dir die Botschaft noch einmal vorsprechen?“
„Danke“, sagte ich, „das war nicht so schwer zu merken.“
Also lief ich schneller. Es hatte ja keinen Sinn, das Ganze in die Länge zu ziehen. Davon wurde es auch nicht besser. Also baute ich mich vor der Dame auf. Ich konnte ihren faltigen Körper sehen, den Hängebauch und die braunen Flecken darauf. Es konnte also gar nicht so schwer sein, zu ihr etwas ganz Gemeines zu sagen. Aber es war verdammt schwer. Ich sah mich um, entdeckte meine Freunde und blickte in das triumphal grinsende Engelsgesicht der schönen Patrizia. Dann sagte ich, so laut es mein zugeschnürter Hals erlaubte: „Sie fette, schmierige, alte Kuh!“
Bevor die Dame so richtig begriff, was geschehen war, hatte ich schon das Weite gesucht.
„Unverschämter Bengel“, schrie sie und erhob sich. Jetzt hieß es, schnell zu verschwinden. Ulli und Frank liefen schon, Andreas stieß zu mir vor, und dann legten wir die hundert Meter in neun Sekunden hin, so wahr ich ein Geschichtenerfinder bin! Die Oberschullehrerin war aber auch noch ganz gut zu Fuß. Sie forderte die Badegäste auf, das Gesindel festzuhalten, aber so weit geht die Übereinstimmung mit dem Amt des Schullehrers dann doch nicht, und so waren wir durch den Ausgang geflitzt, ehe sie ihn erreicht hatte.
„Saubande!“, schrie sie uns nach. „Ich geh zu euren Eltern!“
Aber sie hatte ja nur mich gesehen und ich war immer nur in den Ferien da.
Ich musste natürlich in der Stadt vorsichtig sein. Also lief ich mit weit aufgerissenen Augen und in ständiger Fluchtbereitschaft durch das schöne Themar.
Von Marion sprachen wir lange nicht mehr. Keiner wollte Unterricht in gekaufter Liebe. Aber die herrliche Patrizia, bei der die Jungs immer mit der Zunge schnalzten, hatten wir tatsächlich nackt gesehen. Das konnte uns keiner mehr nehmen, obwohl uns natürlich niemand glaubte, mir am allerwenigsten. Irgendwann zahlt man den Preis für sein fröhliches Münchhausenleben, und das hat man sich dann auch redlich verdient.