Читать книгу Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee - Thomas Riedel - Страница 14
ОглавлениеKapitel 10
Charles Finch und Stanley gingen unbemerkt durch die Küche hinaus. Selbst Miss Uppingham, der ja sonst nie etwas entging, beobachtete sie nicht. Ihre scharfen Augen folgten sonst jedem Paar, das den Raum verließ, insbesondere wenn die ›skandalöse‹ Violett Stamford die eine Hälfte des Pärchens war.
Finch mühte sich noch mit den Ärmeln seines Mantels ab, als er mit Stanley im Hof ankam. Er bemerkte den frisch gefallenen Schnee. Die Flocken waren jetzt kleiner und kamen dichter herunter – sogar Stanleys Spur zum Haus war nur noch undeutlich zu erkennen.
»Wer ist es, mein Junge? … Wer ist der Kranke oder Verletzte?«, wollte Finch wissen.
»Das weiß ich nicht« Stanley sah ihn verängstigt. »Ich habe mich nicht getraut, nachzuschauen.«
Finch glaubte nicht an Vorahnungen, aber den ganzen Abend hindurch hatte er eine unbestimmte elektrische Spannung in der Luft gefühlt, und nach allem, was er aus seiner Unterhaltung mit Clark Marshall wusste, war er auf eine gewaltige Gewitterentladung vorbereitet gewesen. Er fragte sich, ob die beunruhigende Entdeckung des jungen Kennedy damit zusammenhing …
Trotz seines Schocks hatte Stanley daran gedacht, eine Sturmlaterne vom Haken im Flur mitzunehmen. Er hielt sie in Richtung des Schwimmbassins. »Dort, Dr. Finch!«, sagte er und schwenkte sie wiederholt nach vorn.
Finch, der mit dem hiesigen Terrain nicht vertraut war, konnte zunächst in den von Schnee bedeckten Hügeln und Vertiefungen nichts Ungewöhnliches erkennen.
»Dort drüben liegt er, Doktor … mit dem Gesicht nach unten«, wiederholte Stanley und wies erneut auf die Stelle. »Die Arme sind ausgestreckt.«
Erst jetzt bemerkte Charles Finch im Schnee die Umrisse einer Gestalt, die in ihrer Haltung stark an die Form eines Kruzifixes erinnerte. Er legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Sind das deine Spuren, die vom Stall herführen, Stanley?«, erkundigte er sich, und als dieser nickte: »Wir müssen in deinen Spuren gehen, damit wir andere nicht zerstören.«
Der Sechzehnjährige war viel zu aufgeregt, um die Bedeutung dieses Befehls zu verstehen oder zu bemerken, wie sehr sich der Ton des Doktors geändert hatte. Sie gingen in Stanleys Spuren auf den leblosen Körper zu. Ein paar Schritte davor blieb der Junge stehen. Seine auf den kleinen Hügel gerichtete Hand mit der Laterne, fing an zu zittern.
»Bleib hier stehen und halt das Licht ruhig«, wies Finch ihn an. »So ruhig, wie du kannst.« Hier, wo die Spuren des Knaben aufhörten, musste er im Neuschnee stapfen, der ihm bis zu den Waden reichte. Als er auf dem kleinen Hügel angekommen war, kniete er nieder und hob eine der ausgestreckten Hände unter der Schneedecke auf – aber schon bevor er mit seinen Fingern den Puls zu suchen begann, wusste er bereits, dass sie keinen finden würden. Das Gesicht des Toten war noch verborgen. Finch zögerte, dann stand er auf und wandte sich an den Jungen. »Ich fürchte, es ist sehr ernst, mein Sohn.«
»Ist er … ist er … tot?«
»Ja, Stanley«, bestätigte Finch mit ruhiger Stimme. »Du musst jetzt ganz genau tun, was ich dir sage.« Er sah ihm fest in die Augen. »Geh schnell ins Haus und hol mir Mr. Chapman her. Sage ihm, dass ein Unglück geschehen ist und dass ich ihn hier draußen brauche.«
»Ja, Dr. Finch«, erwiderte Stanley und wollte bereits gehen als Finch ihn zurückhielt.
»Halt, Stanley! … Ich möchte nicht, dass du irgendeinem anderen etwas sagst. Nicht einmal deiner Mutter. Die Feier soll weitergehen, bis wir herausgefunden haben, was vorgefallen ist. Hat du verstanden?«
Der junge Kennedy nickte.
»Gut. Dann komm gleich mit Mr. Chapman zurück«, betonte Finch, der unbeweglich stehenblieb, während er wartete. Auch ohne das Gesicht des Toten gesehen zu haben, wusste er genau, um wen es sich handelte. Wie seltsam ist doch das Leben, fuhr es ihm durch den Sinn. Vor ein paar Stunden ist das hier noch ein lebender, atmender, denkender Mensch gewesen, der gelacht, getanzt und auf einer Kindertrompete närrische Geräusche hervorgebracht hat. Die Plötzlichkeit und Endgültigkeit des Todes machte immer wieder den gleichen tiefen Eindruck auf ihn, sooft er ihm auch begegnet war. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Die Haustür war ins Schloss gefallen und er drehte sich herum. Stanley und Mr. Chapman eilten auf ihn zu. Er formte seine Hände zu einem Sprachrohr und rief: »Machen Sie bitte keine neuen Stapfen, Mr. Chapman! Halten Sie sich genau in unseren Spuren!«
Chapman stoppte, kam der Anweisung nach und ging vorsichtig auf Finch zu. »Was ist los, Dr. Finch? … Was ist passiert?«
»Wir haben eine Leiche«, erklärte Finch knapp.
Chapman starrte auf den halbverdeckten Körper. »Wissen Sie schon, wer es ist?«
»Ich fürchte, es ist der Ehrengast«, seufzte Finch leise. »Mr. Harold Stamford.«
William Chapmans Augen zogen sich in einem ungläubigen Erstaunen zusammen. »Harold? … Aber was ist geschehen? Ein Herzschlag?«
»Das ist kaum anzunehmen«, entgegnete Finch ernst. »Allerdings habe ich ihn noch nicht genauer untersucht. Ich wollte nichts anfassen, bevor Sie nicht genau dasselbe gesehen haben wie Stanley und ich. Deswegen habe ich Sie auch darum gebeten, dass Sie in unseren Spuren gehen. Sie werden bemerkt haben, dass es keine anderen im Schnee gibt … Das beweist uns, dass er schon eine gute Weile hier liegt.«
»Aber ich habe doch erst vor ein paar Minuten mit ihm gesprochen … so kommt es mir zumindest vor!«, erwiderte Chapman verwirrt. Er schien den Ernst der Lage noch immer nicht erfasst zu haben.
»Ich versuche gerade, Ihnen schonend zu erklären, dass ich es für einen Mord halte.«
Chapman starrte ihn an. Stanley stieß einen winselnden Laut aus, und er legte instinktiv den Arm um die Schulter des Jungen.
»Als ich herkam, konnte ich noch ein wenig sehen«, fuhr Finch fort. »Der Hinterkopf lag zum Teil frei.« Er zog ein Taschentuch aus seinem Rock und staubte den pulverigen Schnee von Harold Stamfords Kopf.
»Mein Gott!«, entfuhr es Chapman leise.
Stamfords Schädel war eingeschlagen worden. Selbst ungeübte Augen konnten auf Anhieb erkennen, dass es mindestens ein Dutzend Hiebe gewesen sein mussten, mit einem Gegenstand, der das Fleisch zu Brei und die Knochen zu Splittern geschlagen hatte.
Das haltlose Schluchzen des Jungen ließ Chapman aus seiner Trance erwachen. Er hielt ihn fest und murmelte: »Still, mein Junge … Ganz ruhig, Stanley.«
»Wir dürfen uns nichts vormachen«, bemerkte Finch. »Es kann sich auf keinen Fall um einen Sturz handeln. Er ist unzweifelhaft erschlagen worden … wild und sadistisch, … und mit einem schweren Gegenstand.«
»Aber warum?«, fragte Chapman und schüttelte verständnislos den Kopf. »Warum nur?« Sein Gesicht wirkte auf einmal alt und müde.
»Wenn man immer den Grund solcher Verbrechen wüsste, könnte man sie verhindern, Mr. Chapman, statt sie nachher zu bestrafen«, antwortete Finch trocken, aber auch er wirkte jetzt um zehn Jahre gealtert.
William Chapman schüttelte erneut den Kopf, diesmal deutlich langsamer. »Sehen Sie, Doktor, ich bin zwar Polizeivorstand, aber ich habe hier noch niemals mit einem derartigen Verbrechen zu tun gehabt. Höchstens mit Hühnerdiebstählen. Auf so etwas wie einen Mord bin ich nicht vorbereitet. Ich weiß nicht recht, was ich tun soll …«
»Ist Mr. Taylor nicht der zuständige Anwalt für diesen Bezirk?«, erkundigte sich Finch.
»Ja, ist er«, bestätigte Chapman. »Das fällt gewiss in sein Ressort. Ich werde ihn sofort holen.« Er wandte sich dem Haus zu. »Und vor allem werde ich den Musikern sagen, dass sie mit dem spielen aufhören sollen.«
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun«, gab Finch zu bedenken. »Es ist besser, wenn Mr. Taylor herkommt, ohne Aufsehen zu erregen. Je weniger Leute sich vorbereiten können, ehe Sie mit der Untersuchung beginnen, um so besser.«
»Aber der Mörder …«, warf Chapman ein.
»Der Mörder weiß bereits, dass sein Verbrechen entdeckt worden ist«, unterbrach ihn Finch. »Er hat gewacht und gewartet. Je länger wir ihn warten lassen, desto größer wird seine Unruhe … Und dieser Umstand wird für Sie arbeiten. Glauben Sie mir, Mr. Chapman … Lassen Sie ihn ruhig ein wenig schwitzen!«
***