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Kapitel 2

Seit mehreren Tagen waren Vorbereitungen für die Party getroffen worden. Sie hatten begonnen, als Miss Uppingham, die das Postamt in dem kleinen Dorf Little Gaddesden, in der englischen Grafschaft Hertfordshire, verwaltete, das Telegramm las, das Violett Stamford von ihrem Mann Harold erhalten hatte. Mr. Stamford sollte nach über einjähriger Abwesenheit nach Hause kommen. Er war inzwischen in Calais angekommen und wollte mit einem Schiff über den Kanal setzen, um am Freitag mit dem Nachmittagszug und einer Kutsche in Little Gaddesden einzutreffen.

Miss Uppingham gehörte nicht zu dem Schlag Menschen, dem die Berufsmoral vorschrieb, die Botschaften, die durch ihre Hände gingen, geheim zu halten, wenn sie irgendetwas von allgemeinem Interesse enthielten.

Und so kam es, dass die Nachricht von Mr. Stamfords Heimkehr eine Menge von Leuten erreichte, noch ehe seine Frau davon erfuhr. Zwei Meilen trennten das Postamt von Stamfords luxuriös umgebauten Landhaus, und Miss Uppingham entschloss sich, die Botschaft persönlich zuzustellen, was ihr gestattete, mit der Neuigkeit bei einem Dutzend Häusern stehenzubleiben, bevor sie schließlich Violett das Telegramm aushändigte.

Sie war nicht so zerfahren, wie sie aussah, und war sich des Knalleffektes ihrer Nachricht voll bewusst.

Sie hätte Marvin Coopers Reaktion voraussagen können. In seinen Augen funkelte der Ärger. »Er kommt ein bisschen spät!«, stellte er säuerlich fest und zerknüllte sein Taschentuch. »Aber besser spät als nie!«

Sie lächelte innerlich, als Elizabeth Cooper meinte: »Wie nett für Violett.« Sie wusste, dass Elizabeth ganz anders darüber dachte. Sie wusste auch im Voraus, wie der junge Kenneth Jackson erbleichen würde – und als sie ihn unterwegs traf und ihn aufhielt, um es ihm zu erzählen, sah sie, dass sie sich nicht geirrt hatte. Sie beobachtete ihn, als er mit zusammengekniffenen Lippen weiterging. Für Kenneth Jackson würde die Sache nicht so leicht sein, dachte sie bei sich.

Noch bevor sie zu den Kennedys kam, wusste Miss Uppingham genau, was Pauline dazu sagen würde. Und tatsächlich sagte sie: »Wir werden eine Feier ausrichten müssen.«

Raymond Kennedy, der sich im Armstuhl des Wohnzimmers räkelte und einen schalen Whiskygeruch verströmte, verzog seinen Mund zu einem schmalen grimmigen Lächeln. »Weiß Violett schon davon?«, erkundigte er sich.

»Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr, um ihr das Telegramm zu bringen«, erwiderte Miss Uppingham.

»Gott sei Dank, dass für mich niemals mehr Wichtiges oder Privates kommt!«, knurrte Kennedy darauf mit einem schrägen Seitenblick.

Miss Uppingham fuhr auf. »Die Depesche enthält nichts Privates!«, verteidigte sie sich.

»Der siegreiche Held kehrt heim!«, bemerkte Kennedy spöttisch.

»Das Sie jemals etwas Wichtiges oder Privates bekommen, ist höchst unwahrscheinlich«, fuhr Miss Uppingham fort. »Sie gehen nirgends hin, und Sie haben noch nie etwas getan.«

Raymond Kennedy schenkte ihr ein müdes Lächeln. Seine Augen zwinkerten etwas, weil ein wenig Rauch von seiner Zigarette eingedrungen war. »Arme Miss Uppingham! Wie Sie doch die Leute hassen, die dem Leben nur ein wenig Spaß abgewinnen«, meinte er gelassen. »Dieser Hass dürfte seine Ursache in der Vereitelung aller frühen, jungfräulichen Wünsche haben, vermute ich. Haben Sie jemals andere Freuden gekannt als ihren widerlichen Klatsch über Nachbarn, Miss Uppingham?«

»Ich danke meinem Schöpfer, dass ich nicht mit Ihnen zu leben brauche, Raymond Kennedy«, ereiferte sie sich.

»Das ist eine Quelle gegenseitiger Dankbarkeit, glauben Sie mir! Ja, das können Sie mir wahrlich glauben«, murmelte Raymond halblaut. »Und nun sputen Sie sich und überbringen Sie schon Ihre Unheilsbotschaft. Es wäre allerdings schön für Mrs. Stamford, wenn Sie das Telegramm noch vor Sonnenuntergang bekäme.«

»Ich werde meine Arbeit immer ordentlich erledigen«, gab sie schnippisch zurück, »und das ist weitaus mehr, als man von Ihnen sagen könnte, Mr. Kennedy!«

Miss Uppingham verließ die Kennedys mit gesträubten Federn, doch immer noch eifrig, denn sie hatte sich den besten Bissen für zuletzt aufbewahrt – und sie war äußerst gespannt, wie Violett Stamford auf die Botschaft reagieren würde. Niemand, so sagte sie sich, konnte behaupten, dass sie selbst nicht die toleranteste aller Frauen wäre. Aber Violett Stamford war in ihren Augen eine wirklich skandalöse Person. Sie fragte sich auch, wer es auf sich nehmen würde, Harold Stamford vom Treiben seiner Frau während seiner Abwesenheit zu berichten. Sie hätte es ja brennend gern selbst getan, doch viel Hoffnung, dass ihr dieses Privileg zufallen würde, hatte sie nicht. Stamford war ihr gegenüber immer sehr höflich gewesen, aber dabei hatte er stets auf einen gewissen – recht großen! – Abstand geachtet. Er mochte einfach keinen Klatsch, und er würde ihr vermutlich niemals Gelegenheit geben, ihm die Dinge zu erzählen, die sie wusste.

Man musste es Harold Stamford lassen, dass er aus dem baufälligen alten Landhaus etwas ganz Besonderes gemacht hatte, gestand sich Miss Uppingham ein, als sie mit ihrem wackeligen Einspänner die Auffahrt entlangfuhr. Warum auch nicht, wenn man über solche Mittel verfügte? Er hatte wunderschöne Möbel gekauft, sogar Strom für Licht, Küche und fließend Wasser eingeleitet, für Abdichtungen gegen die Kälte und damit für ausreichende Wärme gesorgt. Dann hatte er Violett heimgeführt – Violett, die nach ihrer Ansicht ebenso wenig hierher passte wie etwa ein paar bunte Pfauen, die zur Sommerzeit über den nicht vorhandenen englischen Rasen stolzieren würden.

Miss Uppingham rutschte vom Kutschbock herunter und schritt über die Steinquader hinauf zur Eingangstür. Clark Marshall hatte den Schnee weggeschaufelt. Er machte alle Gelegenheitsarbeiten für die Stamfords – aber viele dieser Arbeiten konnte es in dem modernen Haushalt mit all seinen technischen Neuheiten wahrhaftig nicht geben! Clark Marshall verbrachte den größten Teil seiner Zeit auf den ausgetretenen Stufen des Postamtes, wo er von der letzten Jagdsaison und von der kommenden Forellensaison träumte. Er war faul – beinahe so faul wie Raymond Kennedy. Doch für ihn gab es wenigstens eine Entschuldigung: Er hatte nicht für Frau und Kind zu sorgen. Er war Junggeselle und wenn er primitiv leben wollte, so war das seine eigene Angelegenheit – obgleich Miss Uppingham vor vierzig Jahren gehofft hatte, es würde eines Tages auch die ihre sein. Von dieser enttäuschten Hoffnung wusste die ganze Stadt, und das war wohl der einzige Klatsch in Little Gaddesden, den Miss Uppingham nicht selbst ins Leben gerufen hatte.

Sie erreichte die Eingangstür und klopfte stürmisch mit dem Messingklopfer. Dennoch musste sie noch eine geraume Zeit warten, bis ihr geöffnet wurde. Als Violett Stamford endlich vor ihr stand, schnappte sie nach Luft. Die Hausherrin trug ein Nachtgewand.

Es war knallrot, mit Gold bestickt und hob Violetts üppige Formen nach Miss Uppinghams Ansicht mit wenig taktvoller Deutlichkeit hervor. Es war vorn so tief ausgeschnitten, dass Miss Uppingham nicht umhinkam zu erröten und ihre Augen sofort schamvoll abzuwenden. Im Nachtkleid, dachte sie, um vier Uhr am Nachmittag! Und man sagt sich, dass sie in dieser Aufmachung tatsächlich Besuch empfängt – sogar männlichen! Wie empörend!

Violett Stamford hatte dunkles Haar, das jetzt auf unverschämte Weise lose auf ihre Schultern herabfiel. Ihre Haut hatte die Farbe von altem Elfenbein und ihre Augen waren dunkelblau. Form und Farbe ihres Mundes waren unter dem in Mode gekommenen, dick aufgetragenen Lippenstift kaum zu erkennen.

In meinen Jugendtagen hätte man ein derart aufgemachtes Frauenzimmer glattweg eine liederliche Person genannt, ging es ihr durch den Kopf. Freilich, sie ist Schauspielerin gewesen, das erklärt so manches …

»Nun, Miss Uppingham?« Mrs. Stamfords tiefe Stimme schien, wie immer, eine Spur Hohn zu enthalten – und wie immer fühlte sich Miss Uppingham in ihrer Gegenwart unbehaglich.

»Ich habe ein Telegramm für Sie, Mrs. Stamford«, erklärte sie.

»Danke«, erwiderte Mrs. Stamford und streckte ihre Hand nach dem Telegramm aus.

Miss Uppingham wartete unbewegt. Sie hatte es fertiggebracht, sich so in die Tür zu stellen, dass ihr Gegenüber sie nicht schließen konnte.

»Gibt es sonst noch etwas, Miss Uppingham?«, erkundigte sich Mrs. Stamford.

»Wollen Sie es nicht öffnen?«

»Meine liebe, Miss Uppingham, das scheint mir kaum nötig zu sein«, reagierte sie mit einem süffisanten Lächeln. »Mr. Jackson hat mir bereits vor über einer Dreiviertelstunde mitgeteilt, dass Sie sich auf dem Weg zu mir befänden. Er wusste auch schon zu berichten, was das Telegramm enthält, denn Sie haben es ihm vorgelesen … Wäre es nicht einfacher, Sie versuchten die Neuigkeiten amerikanischen Eingeborenen gleich, mit Rauchsignalen zu verbreiten? Ich bin sicher, Sie würden auf diese Weise sehr viel Zeit gewinnen!«

»Da hört sich ja wohl alles auf!«, echauffierte sich Miss Uppingham und trat verärgert einen Schritt zurück, worauf Mrs. Stamford die Tür direkt vor ihrer Nase ins Schloss warf. »Was für eine unverfrorene Frechheit!«, rief sie ihr noch hinterher, ehe sie sich umwandte und zu ihrem Gespann zurückkehrte.

***

Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee

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