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|11| I. Wie spät ist es für die Volkskirche?

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Nimmt man die gegenwärtige Kirchenreformrhetorik im Bereich der protestantischen Kirchen wahr und ernst, dann drängt die Zeit wie noch nie. In Zweifel steht nicht weniger als die Zukunft der Kirche überhaupt – mindestens in ihrer gegenwärtigen sichtbaren Sozialgestalt.

Vor allem die Volkskirche und all das, was sich um diesen Begriff rankt, wird zunehmend infrage gestellt: Die Rede ist dann nicht mehr nur ganz unaufgeregt von einer späten Zeit der Volkskirche2, einer Volkskirche im Wandel3 oder deren notwendiger Modernisierung4. Sondern im zugespitzten Sinn wird von einer Volkskirche »ohne Volk«5 und einem Auslaufmodell gesprochen, dem keine gute Zukunft, sondern das absehbare Ende beschieden sei. Für manche zeichnet sich ein eindeutiger und notwendiger Weg von der Volkskirche zu »personalgemeindlichen Organisationsformen, […] zielgruppenorientierten Gemeinschaftsbildungen und zur Entwicklung alternativer Projekte«6 ab. Ausgerufen wird schließlich die baldige Umwandlung von der Mitgliedschafts- und Servicekirche des Volkes hin zu einer entschieden bekenntnis- und freiwilligkeitsorientierten »Kirche für das Volk«7 in »nach-volkskirchlicher Zeit«8 sowie hin zu ganz neuen Manifestationen der »Gemeinde der Heiligen«9.

Begründet werden solche negative Zukunftsprognosen zum einen mit Zahlen und Fakten, konkret mit den kaum bestreitbaren demographischen Kennziffern eines stetigen Mitgliederschwundes sowie den damit verbundenen finanziell folgenreichen Entwicklungen.10 Zum anderen beruhen die Schreckensszenarien gleichsam auf gefühlten negativen Trends: So wird etwa ein spürbar geringer gewordener öffentlicher Einfluss der Kirche auf gesellschaftliche Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse konstatiert sowie der weitreichende Verlust des kulturellen Gedächtnisses in Bezug auf biblische |12| Überlieferungsgehalte und kirchliche Traditionen im Sinn eines massiven und unumkehrbaren Traditionsabbruchs beklagt.

Prinzipiell gilt nun allerdings: Ob die faktische Lage der protestantischen Volkskirche so schlecht ist, wie es gegenwärtig in oftmals erheblicher Aufregung suggeriert wird, bedürfte jedenfalls eines Blickes weit über die faktischen Zahlen hinaus. Apokalyptische Visionen, was im Fall einer ausbleibenden oder erfolglosen Kirchenreform an Haupt und Gliedern passieren könnte, helfen nicht wirklich, sondern steigern eher die Hysterie und führen über den beklagten Reformstress11 im schlimmsten Fall sogar zur Reformparalyse.

Gleichwohl kann man angesichts aktueller Zahlen in der Tat fragen, ob der Begriff »Volkskirche« als Signatur eines bestimmten empirisch belegbaren Struktur- und Praxisbegriffs12 sowie der damit verbundene Anspruch nicht tatsächlich ausgedient haben – man denke hier etwa nur daran, dass in der Schweiz die Mitgliedschaftsquote der Protestanten und Katholiken von 98 Prozent im Jahr 1970 inzwischen um ein Drittel niedriger ausfällt und auch die Zahl der jährlichen Austritte aus den deutschen evangelischen Landeskirchen in etwa derjenigen der Dauerteilnehmenden eines Deutschen Evangelischen Kirchentages entspricht.

Allerdings ist mindestens Vorsicht geboten, wenn bestimmte gefühlte Einschätzungen sogleich als harten Fakten ausgegeben werden. Denn das Gefühl einer fundamentalen Krise der Kirche sagt über die Realität der Verhältnisse nicht unbedingt schon alles aus. Zudem ist zu bedenken, dass gerade eine pessimistische Sicht auf die Kirche in Art einer self-fulfilling prophecy einem solchen Szenario möglicherweise überhaupt erst den richtigen Schub verleiht.

Wie auch immer man nun die Bedeutsamkeit der Fakten und die Dramatik der Wahrnehmungen bestimmt, ist doch von einer grundlegenden institutionellen und vor allem theologischen Orientierungskrise13 auszugehen, die sich in den vergangenen Jahren sicherlich weiter verschärft hat und deren Ende man zwar erhoffen, aber mit dem man realistischerweise kaum rechnen kann.

Besteht also noch Grund für eine Vorstellung von Volkskirche, die von der Öffentlichkeitspräsenz der Kirche als relevantem Teilsystem der Gesellschaft ausgeht? Kann noch von der Hoffnung auf eine Kirche geredet werden, die sich durch eine prinzipielle Erreichbarkeit für alle Menschen zu |13| erkennen gibt? Und kann dies dann zugleich Pluralität innerhalb ein und derselben Kirche in einer solchen Weise gewährleisten, dass auch eine eher distanzierte Mitgliedschaft als legitime Form, Kirchenzugehörigkeit wahrzunehmen, respektiert wird? Und wie kann dabei zukünftig die Spannung des Verhältnisses von Kirche und Staat zwischen Unabhängigkeit und Kooperation konstruktiv gestaltet werden?14

In der hier vorgelegten Abhandlung soll die These entfaltet werden, dass die Grund- und Ursprungsidee von Volkskirche im Sinn eines normativen Konzeptbegriffs15 einer gesamtgesellschaftlichen Deutungs- und Handlungsinstanz immer noch ein ebenso bedeutsames wie plausibles und zukunftsfähiges Modell von Kirche darstellt16 – allerdings unter einer bestimmten Voraussetzung: Eine positive Zukunftsvision muss einen gleichsam anderen Aggregatzustand von Kirche mit sich bringen: Die konzeptionelle Form einer öffentlichen Kirche als zivilgesellschaftlich relevanter, intermediärer Institution, die sich ihrer Artikulations- und Handlungsverantwortung bewusst ist und diese auch von der Grundlage ihres ekklesiologischen Selbstverständnisses her auszuüben versteht.

Von einer Bestimmung als intermediäre Institution her soll öffentliche Kirche als Raum freier, verantworteter und hoffnungsvoller kirchlicher wie zivilgesellschaftlicher Deutungs- und Vermittlungspraxis näher gefasst werden. |14| Durch diese konzeptionelle Näherbestimmung als intermediäre Institution im Sinn einer die Gesellschaft kritisch interpretierenden und mitgestalteten Kirche wird der Charakter des hier anvisierten kirchentheoretischen Anspruchs in der Linie einer »theologischen Gesellschaftstheorie«17 zum Ausdruck gebracht. Diese umfasst dann ihrer Sache nach sehr viel mehr als Fragen des Gemeindeaufbaus und einer Kybernetik im engeren Sinn18, sondern versteht sich als Beitrag zu einer weiterreichenden Grundlagenbildung im Sinn einer umfassenden »Gestaltungstheorie aller kirchlichen Ebenen, Handlungspositionen und Handlungsmedien«19.

Eine solche konzeptionelle Profilierung macht in praktisch-theologischer Hinsicht die kirchentheoretische Verständigung über die Bedeutung und Bedeutsamkeit einer öffentlichen Kirche ebenso notwendig wie die genauere Betrachtung der jeweiligen Möglichkeiten und Zuständigkeiten, was durch eine differenzierte Darstellung der kirchlichen Makro-, Meso- und Mikroebene zur Sprache kommen wird.

Angestrebt ist damit zwar keine grundsätzliche Neubestimmung, aber doch eine theologische Neubesinnung auf die Grunddimensionen der unterschiedlichen Sozialgestalten von Kirche, um so die Strategieentwicklung hin zu einer wirksameren öffentlichen Präsenz des Protestantismus inmitten der Gesellschaft zu befördern. Diese Neubesinnung unter der Signatur einer öffentlichen Theologie lässt sich – um es hier schon einmal anzudeuten – von evangelischer Seite her in den theologisch relevanten und auf die je individuelle Lebensführung und die gemeinsamen Handlungsvollzüge beziehbaren Leitperspektiven Freiheit, Verantwortung und Hoffnung konkretisieren. Zudem wird zu zeigen sein, inwiefern sich dies auf die Kommunikations- und Gestaltungsprozesse auf den unterschiedlichen kirchlichen Handlungsfeldern auswirkt. Vor dem Horizont einer theologisch profilierten Deutungs- und Kommunikationsoffenheit kommt folglich die konzeptionelle Grundidee von Volkskirche zum Vorschein – als einer öffentlichen Kirche, die den Blick auf die Gesellschaft und alle in ihr lebenden Menschen richtet.20 Welche Herausforderungen |15| dies für eine Praktische Theologie als Wissenschaft mit sich bringt, wird abschließend entfaltet werden.

Der Entfaltung der einzelnen Grunddimensionen liegt dabei ein bestimmtes Verständnis von Öffentlichkeit zugrunde, das zur Orientierung über das Ganze im Folgenden kurz erläutert werden soll: Unter Öffentlichkeit wird im vorliegenden Zusammenhang eine wahrnehmungs- und handlungsleitende Beschreibungskategorie verstanden, durch welche die kirchliche, konstruktiv-kritische Mitverantwortung und Mitgestaltung an den Belangen der Zivilgesellschaft nicht nur ihren konkreten »Sitz im Leben« erhält, sondern durch die das mögliche grundsätzliche Selbstverständnis von Theologie und Kirche als öffentlichen Orientierungskräften überhaupt begründet werden soll.

Dabei ist zuallererst an einen gleichsam säkularen Begriff von Öffentlichkeit anzuknüpfen: In diesem Sinn bezeichnet Öffentlichkeit nicht primär den Aspekt medialer Erregung von Aufmerksamkeit oder einfach den Marktplatz unterschiedlicher politischer Interessen. Vielmehr ist damit im Habermas’schen Sinn die gesellschaftliche Gestaltungssphäre bezeichnet, in der sich unterschiedliche Akteure und Institutionen mit ihren je eigenen Profilen und Handlungsabsichten mit der Zielsetzung engagieren, diese Sphäre durch die je eigene Wirklichkeitsdeutung diskursiv entscheidend mitzuprägen.

Öffentlichkeit in diesem Sinn meint folglich weniger eine eindeutige oder gar feststehende topographische Größe und lässt sich schon gar nicht auf den Bereich staatlich-institutionellen Handelns reduzieren, sondern bezieht sich in diesem säkularen Gebrauch auf den konkret immer wieder neu zu deutenden zivilgesellschaftlichen Gestaltungsraum des Öffentlichen, der seine Bedeutung und Profilierung erst durch diese Deutungs- und Handlungsaktivitäten selbst gewinnt. Dabei wird in jüngster Zeit im Zusammenhang zivilgesellschaftlicher Aufbrüche nochmals ganz neu nach den politischen und gesellschaftlichen Wirkmächten gefragt. Hier tritt neben die klassische Vorstellung repräsentativer Demokratie ein neues Politikmodell, in dessen Zusammenhang mit ganz neuen Kommunikations-, Partizipations- und Entscheidungsformen experimentiert wird. Öffentlichkeit fungiert hier also Signatur unterschiedlicher politischer Diskursorte und zugleich als Möglichkeitsraum alternativer gesellschaftlicher und politischer Gegenöffentlichkeiten.

|16| In dieser so verstandenen Sphäre zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit können nun eben auch durch die Kirche als einem Akteur unter vielen aktive Signale gegen die zunehmende Intransparenz und Anonymität bestehender elitärer Macht- und Entscheidungsstrukturen gesetzt werden. Der Überzeugung, dass Kirche aus guten Gründen in dieser Öffentlichkeit agiert und diese mitgestaltet, liegt die These zugrunde, dass bestimmte religiöse Traditionen und Gehalte aufgrund ihres zivilisierenden Grundpotentials zur Entwicklung und Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen und sogar eines demokratischen Bewusstseins beitragen können und sollten.21 Konkret wird etwa durch die Annahme und Anerkennung des je Anderen nach Maßgabe christlicher Nächstenliebe in einer spezifischen Weise zivilgesellschaftliche Mitverantwortung übernommen.22

Grundsätzlich ist zu bezweifeln, dass sich »Kirche« gleichsam als Größe außerhalb der weltlichen Verhältnisse positionieren oder sich womöglich in den vermeintlich sicheren inneren Raum der eigenen Sprach- und Handlungssphäre zurückziehen könnte. Alle Leitbilder, die von einer solchen Gegenüber-Sicht ausgehen, sind schon insofern defizitär, als sie suggerieren, dass Kirche und ihre Mitglieder in einer eigenen, weltabgewandten Sphäre existierten und womöglich mit einem ganz eigenen, qualitativ besonders hohen Relevanzanspruch auftreten könnten.

Der im vorliegenden Zusammenhang verwendete Öffentlichkeitsbegriff führt über die säkulare Fassung und ein zivilgesellschaftliches kirchlich-öffentliches Engagement nun aber noch einmal grundlegend hinaus, indem er hier als ein unabdingbares Merkmal der Bestimmung theologischer Reflexion in den Blick kommen und stark gemacht werden soll. Dabei wird grundsätzlich an D. Tracys soziologisch gefasste Leitidee angeknüpft, wonach Theologie selbst per se öffentlicher Diskurs ist und sich danach unterscheiden lässt, worauf der jeweilige Sinn und das theologische Artikulationsinteresse gerichtet sind – seien es nun Gesellschaft, Wissenschaft oder Kirche.23

Allerdings soll hier Tracys eher methodologisch-soziologische Unterscheidung in dezidiert theologischem Sinn ins Spiel gebracht werden. Anders gesagt: Es sind eben nicht etwa nur die berufsbiographischen Verortungen und Kontexte, die den Theologen zum jeweils unterschiedlich verorteten öffentlichen |17| Theologen machen, sondern es ist ganz entscheidend auch die damit jeweils verbundene theologische Prägung und Reflexion, die das Wesen und die Bedeutung einer öffentlichen Theologie am Ort des Individuums ausmachen. Dies kann dann auch über das Individuum hinaus auf die Frage der öffentlichen Kirche hin Verwendung finden: Kirchliches Engagement ist eben nicht nur soziologisch zu beschreiben, sondern lebt entscheidend von der permanenten theologischen Selbstorientierung, Selbstpositionierung und Selbstvergewisserung der verantwortlichen Akteurinnen und Akteure.

Die theologische Deutung und kirchlich verortete Mitwirkung an der Gestaltung von Öffentlichkeit stellen somit kein irgendwie geartetes zusätzliches Bestimmungsmerkmal theologischer Reflexion und kirchlicher Praxis dar, sondern eine sinnvolle und notwendige Querschnittsperspektive.

In der vorliegenden Studie wird die These vertreten, dass öffentliche Theologie und öffentliche Kirche einen wesentlichen Einfluss- und Gestaltungsraum nur dann für sich zu legitimieren vermögen, wenn sie sich einerseits so intensiv wie möglich auf die Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse einlassen, andererseits ihrem eigenen Selbstverständnis nach aber alle Artikulations- und Kommunikationsformen unbedingt an einer möglichst klaren und profilierten theologischen Grundlegung orientieren.

Auf dieser Basis wollen die im Folgenden angestellten Überlegungen über die Tagesaktualität hinaus zu einer kirchentheoretischen Profilierung des Verständnisses und der Praxis von Volkskirche als public church sowie der reflektierenden Praxis einer public theology inmitten der gesellschaftlichen, universitären und kirchlichen Öffentlichkeit beitragen.

Fatal wäre es übrigens, würde man die folgenden praktisch-theologischen Überlegungen etwa primär als Lösungsstrategie zu Rückgewinnung abgewanderter Mitglieder ansehen. Die hier skizzierte Profilierung ist unabhängig von der konkreten Mitgliedersituation und der aktuellen Frage der Kirchenreformen zu betrachten. Noch weniger ist eine solche Profilierung im Sinn einer funktionalistischen Marketing-Strategie zu verstehen.

Was sind aber nun die konkreten Herausforderungen, die es nahelegen, programmatisch und konzeptionell im Sinn einer kirchentheoretischen Querschnittsperspektive von einer öffentlichen Kirche im theologischen Sinn zu sprechen – und dies unter Berücksichtigung der gegenwärtigen empirischen Erkenntnisse über die sinkenden Zahlen sowie der nicht mehr nur wohlwollenden, sondern immer stärkeren beziehungs-, kenntnis- und interesselosen Distanzierung ihrer (einstmaligen) Mitglieder? Kurz gefragt: Gibt es überhaupt noch genügend volkskirchlichen Raum für einen solchen öffentlichen |18| Mitgestaltungsanspruch und was sind die eigentlichen Herausforderungen?

Wie stellen sich nun, um damit einzusetzen, jenseits der angedeuteten demographischen und finanziellen Entwicklungen die Herausforderungen für eine öffentlich präsente Volkskirche und für eine kirchentheoretische Profilierung dieses Leitbilds einer öffentlichen Kirche als intermediärer Institution dar?

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