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Mooreichen 1873 – Inge und Friedrich

Eine Familie in zerlumpten Klamotten kam mit ihren drei Kindern auf den Gutshof. Der junge Baron von Streselitz trat aus dem Pferdestall und fragte grob: «Was wollt ihr hier, für Bettler gib es nichts.»

Er hatte, nachdem sein Vater im letzten Jahr verstorben war, das Gut Mooreichen übernommen.

«Nein, werter Herr, wir betteln nicht! Braucht ihr vielleicht eine junge Dienstmagd? Hier unsere Älteste, sie heißt Inge, sie ist fleißig und folgsam.» Damit deutete er auf ein schmächtiges in schmutzige Lumpen gehülltes Mädchen.

«Nein bitte, ich will nicht! Lasst mich bei euch», bettelte die etwa Achtjährige.

«Kind, du must jetzt tapfer sein, es geht nicht anders», der Mutter liefen die Tränen über das Gesicht, «Wir können dich nicht mehr mit durchfüttern, sonst verhungern wir alle. Du bist doch ein großes Mädchen, sorge für dich selbst. Hier hast du es bestimmt gut!»

Inge schmiegte sich an die Mutter, der Vater packte unsanft ihre schmutzige Hand und zog sie fort: «Für fünf Goldmark gehört meine Kleine euch, ihr könnt mit ihr tun, was ihr wollt.» Zweideutig zwinkerte er dem Gutsherrn zu.

Mittlerweile war der Verwalter zu der Gruppe getreten.

«Herr Baron, nachdem die alte Resi gestorben ist, fehlt eine junge Magd in der Küche. Das Kind füttern wir, dann wird sie kräftiger.»

«Drei Mark, keinen Pfennig mehr! Schlagt ein!», angewidert hielt Streselitz dem Mann die Hand hin, der zögerte kurz und schlug ein.

«Peter zahl ihn aus und schick das Mädchen in die Küche!», hinter vorgehaltener Hand flüsterte er ihm noch zu, «Sieh zu, dass dieses Lumpengesindel schleunigst den Hof verlässt.»

Der Verwalter zählte die Münzen dem Mann auf die Hand, der packte sie in seinen Beutel und verließ rasch den Gutshof.

«Man weiß ja nie, große Herren überlegen es sich oftmals wieder anders», flüsterte er seiner Frau zu und trieb sie mit den Kindern zur Eile an.

Fedor, war im Februar 1873, unmittelbar Zeuge dieses Handels. Schüttelte den Kopf, wenn er daran dachte, wie traurig die Kleine sehnsüchtig ihren Eltern nachgeschaut hatte. In seinen Augen grenzte das schon an Sklavenhandel, er verstand Menschen nicht, die ihre eigenen Kinder verkauften. Das käme ihm nie in den Sinn.

Inge Sofia Rudnik fügte sich in ihr neues Leben ein, sie blühte auf. Die Arbeit gefiel ihr, die Küchenmamsell Alex erklärte ihr die Örtlichkeiten sowie ihre künftigen Aufgaben.

«Später bringe ich dir sogar etwas Lesen und Schreiben bei. Bei uns darfst du dies in der Küche lernen, so hat es bereits der alte Herr Baron angeordnet. So - sei’s drum, jetzt heißt es sich sputen, genug gequatscht.»

Sie schob der Jungmagd einen großen Korb Kartoffeln zu: «Bis Mittag müssen die alle geschält sein. Heute gibt es für die Dienstboten Bratkartoffeln mit Kraut.»

Das Essen für die Herrschaften bereitete die Küchenchefin Alex eigenhändig zu. Inge war für die bescheidenen Mahlzeiten der Angestellten zuständig.

Das Mädchen entwickelte sich langsam zu einer jungen Frau. Sie lernte fleißig.

«Inge, ich bin überrascht, wie fabelhaft du dich in den letzten Jahren eingelebt hast. Du wirst einmal eine exzellente Partie abgeben», neckte sie die Köchin.

Beim Ausleeren des Küchenabfalls auf dem Misthaufen bemerkte sie den Schweinehirten das erste Mal und wechselte ein paar belanglose Worte mit ihm. Sie dachte sich nichts dabei, war nur freundlich zu dem über zwanzig Jahre älteren Mann. Ab und zu begegneten sie sich im Hof. Legte er es darauf an, passte er sie ab? Immer hatte sie ein paar nette Worte für ihn, genauso wie zu jedermann.

Spät abends war sie, wie alltäglich, auf dem Weg zur Misten und zog davor ihre Schuhe aus, damit die nicht schmutzig wurden. Sie klemmte den Zipfel ihres langen Rockes hoch in den Gürtel, rannte den Brettersteig vom Dunghaufen rauf und leerte oben auf dem dünnen Brett balancierend ihren Abfalleimer aus. Bei dem Gestank schüttelte es sie jedes Mal, sie versuchte, die Luft anzuhalten. Eilig lief sie herunter, direkt zum Brunnen an der Scheune, wusch sich wie gewohnt die verschmutzten Füße und spülte ihren Eimer aus.

Sie roch ihn eher, als dass sie ihn sah. Er stand plötzlich hinter ihr, hatte sich heimlich angeschlichen. Erschrocken wich sie einen Schritt zurück.

Friedrich packte sie mit seinen kräftigen Händen an der Schulter, drängte sie in Richtung Scheune.

«He Mädchen stell dich nicht so an! Du willst es doch auch!»

Sie versteifte sich und versuchte sich zu befreien: «Was will ich? Ich, nein, lass mich, ich muss in die Küche.»

«Was ist los mit dir? Mit deinen schönen Worten verdrehst mir den Kopf und nun willst du nicht», rabiat schob er sie in die Scheune, warf sie grob ins Stroh. Inge schrie entsetzt auf und versuchte zu fliehen. «Halt die Klappe, du dumme Gans. Meinst vielleicht, du bist was Besseres, nur weil du in der Küche arbeitest!»

Gewaltsam drückte er sie zu Boden, zerrte ihr derb den Rock hoch, drang brutal tief in die sich verzweifelt Wehrende ein, dabei grunzte er wie seine Schweine. Die Vierzehnjährige wusste überhaupt nicht, was mit ihr geschah.

«Nein, nein - lass mich!», schluchzte sie.

Je mehr sie bettelte, umso wilder wurde er. Rechts und links verpasste er ihr Ohrfeigen, schlug ihr roh auf den Mund, ihre Lippen sprangen auf, bluteten.

Sie schrie laut kreischend: «Hilfe! - Hilfe!»

Er lachte hämisch, hielt ihr den Mund zu: «Miststück sei endlich still!»

Wie aus dem Nichts stand unvermittelt der Schweizer[Fußnote 9] Robert in der Tür, er hatte die Schreie bis in den Kuhstall gehört.

«Friedrich, du Schweinehund!» Er riss ihn von der jungen Frau runter.

«Mädchen, Mädchen, was hast du getan?», er half der heftig Zitternden auf.

«Ich, ich weiß nicht», stotterte sie schluchzend, «ich - ich habe nichts gemacht, der hat mich von hinten überfallen!» Empört und wütend deutete sie auf den Schweinehirten.

Robert nahm sein Taschentuch und drückte es Inge auf den Mund, «Hier trockne das Blut ab!»

«Danke!» Vorsichtig tupfte sie sich die Lippen ab.

«Warum läufst du auch so herum!» Er deutete auf ihren noch im Gürtel steckenden Rock. «Ihr jungen Dinger denkt euch nichts dabei, reizt uns Mannsbilder mit euren bis übers Knie nackten Beinen.»

Fassungslos starrte sie den Mann an.

«War doch nur wegen des Schmutzes auf dem Misthaufen, damit mein Rock sauber bleibt. Es war bestimmt nicht meine Schuld!» Tränen kullerten ihr übers Gesicht, sie schniefte und lief heulend in die Küche. Knallte den Eimer hin, den sie die ganze Zeit am Henkel festgehalten hatte.

«Was ist passiert?», fragte die hinzueilende Spülmagd.

«Nichts, bin nur hingefallen, ich geh jetzt in meine Kammer.»

Sie schruppte sich in ihrer Waschschüssel das Blut und den Schmutz ab, bis alles wehtat. Der Ekel blieb, den konnte sie nicht so einfach abwaschen.

Was habe ich falsch gemacht, war doch immer nur freundlich zu ihm? Leise heulte sie sich in den Schlaf.

Sie bemerkte, dass ihre Blutungen ausblieben. In ihrer Verzweiflung vertraute sie sich der Küchenmamsell an.

«So ein Scheißkerl, der wird dafür gerade stehen. Komm mit, wir berichten dies der alten Baronin.»

Drei Wochen später wurden die beiden vom Pfarrer getraut. Niemand hatte Inge gefragt, ob sie heiraten wollte, es wurde über ihren Kopf hinweg beschlossen. Das ist Sünde, wenn man einen Mann vor der Ehe verführt und dann ein Kind bekommt.

Sie fügte sich, genauso wie damals, als ihr Vater die Achtjährige hierher verkauft hatte. Inge hatte ihre Eltern nie wieder gesehen.

Im Spätsommer 1878 wurde ihre Tochter Frieda geboren, es folgten in schnellen Abständen Sabine und Johann.

Sie klagte der Küchenmamsell ihr Leid: «Ich will nicht jedes Jahr ein Kind von diesem Saufbold. Was soll ich machen? Wenn ich mich ihm verweigere, schlägt er mich grün und blau.»

«Rede mit der Hebamme, die weis da Rat.»

Einzig ihr Schwiegervater Fedor, der alte Hirte, gab ihr Trost, stand ihr bei, wenn ihr Mann wieder einmal brutal wurde.

Er tadelte seinen Sohn: «Was bist du nur für ein Mensch? Du hast eine anständige fleißige Frau, warum schlägst du sie? Ich habe deine Mutter nie geschlagen.»

«Was geht´s dich an. Hör auf, dich einzumischen! Das ist meine Frau und mit der kann ich tun und lassen, was ich will!»

Inge flehte ihren Schwiegervater an: «Vater, bitte lass es sein, jedes Mal, wenn du ihn tadelst, muss ich es büßen, dann prügelt er mich brutaler.»

Die Zeit verging, Fedor wurde im März neunundsechzig Jahre alt, war zufrieden. Im Sommer würde sein Sohn, die mittlerweile auf über zweihundert Stück angewachsene Schweineherde übernehmen. Freilich würde er ihm weiterhin dabei helfen, aber die Hauptarbeit lastete dann auf Friedrich. Fedor übernahm schwerpunktmäßig die Stallungen und die Räucherei. Der Schinken war auf den Märkten in Schlesien, ja selbst in Berlin, der Renner.

Fedor schaute auf ein reiches und erfülltes Leben zurück. Wenn er zurückdachte, stimmte es ihn traurig, dass seine Frau so bald verstorben war. Fast täglich wechselte er die Blumen auf ihrem Grab, besprach Probleme mit ihr – was hätte Adelheid dazu gesagt.

Einzig allein Friedrich bereitete ihm Kopfzerbrechen.

An seiner Schwiegertochter und den drei Enkelkinder hatte er viel Freude. Die beiden Mädchen halfen schon ihrer Mutter im Haushalt und der kleine Johann lief dem Opa wie ein Hündchen hinterher.

Fedor verbrachte wie so oft, seinen Feierabend in der Schwitzhütte, genoss den mit Fichtennadeln und Heublumen angereicherten Dampf.

«Grüß dich Vater, heute brauche ich auch ein Dampfbad.» Inge betrat die Hütte.

«Komm nur herein, gieß aber bitte noch einmal kräftig auf.»

Sie bückte sich nach dem Wasserschöpfer, dabei verrutschte ihr Handtuch und Fedor sah den geschundenen Körper, überall Blutergüsse, alles grün und blau: «Dieses Schwein, was hat er dir angetan?»

«Nichts, lass! Misch dich bitte da nicht ein!»

«Nein, so geht das nicht weiter! Der schlägt dich noch tot!»

Wutentbrannt verließ Fedor die Sauna und suchte seinen Sohn. Er fand ihn im Saustall sturzbesoffen im Stroh liegen.

«Scheißkerl!» Wütend goss er dem Suffkopf einen Eimer eiskaltes Wasser über. Der grunzte nur und schlief weiter. Fedor wandte sich ab, lief zum Weiher und sprang hinein.

Im Schnee- und Eiswinter 1885, rutschte Fedor beim Baden unglücklich im kleinen See unter das Eis. Es dauerte lange, bis die Helfer ihn befreiten. Der fast Neunundsechzigjährige erlitt aufgrund des Sauerstoffmangels einen Hirnschaden, blieb geistig für immer abwesend und auf Pflege angewiesen. Seine Schwiegertochter sorgte für ihn.

«Ihr müsst mir beide dabei helfen, ich schaffe es nicht alleine», bat Inge ihre zwei Töchter. Die halfen ihr, so gut es ging. Sie fütterten und beaufsichtigten gerne ihren Großvater. Als er noch gesund war, hatte er oft kleine Tiere für sie geschnitzt und ihnen Geschichten vorgelesen.

Mürrisch erledigte Friedrich nun alleine die Arbeit als Schweinehirte. Der neue Verwalter hatte ihn nicht gefragt. Es war selbstverständlich, dass der Sohn, die Aufgaben des Vaters mit übernahm.

Täglich bei Sonnenaufgang trieb er fluchend die Schweine auf die Hutung, schnauzte jeden an, der ihm über den Weg lief. Er vergriff sich einmal beim Baron im Ton, da drohte dieser ihm mit Rausschmiss: «Ich bin nicht auf solche Sauf- und Querköpfe wie dich angewiesen! Dein Vater war ein ganz anderes Kaliber, auf ihn konnte man sich verlassen, hättest dir lieber ein Beispiel an ihm nehmen sollen. Du bist nur ein ungehobelter Taugenichts.»

Brummend drehte sich der Schweineknecht um, ließ Baron von Streselitz einfach stehen, scherte sich nicht um dessen Schimpftirade.

Mit seinen knapp fünfundvierzig Jahren sah Friedrich schon aus wie ein alter Mann mit Siebzig, das faltige Angesicht braun gebrannt von der täglichen Arbeit im Freien. Schmutz hatte sich in den tiefen Furchen seines Gesichtes festgesetzt.

Der einst stattliche Mann war mit den Jahren immer dürrer und griesgrämiger geworden. Er sprach ein abgehacktes, mit polnisch durchmischtes Deutsch. Bemühte sich nicht etwas zu lernen. War mit sich und der Welt unzufrieden, hätte gerne mehr erreicht. Dazu bedurfte, es aber einer gewissen Anstrengung. Er gab allen anderen die Schuld an seinem verpfuschten Leben. Die ehemals rotblonde Lockenpracht war einer Glatze gewichen, auf der immer eine speckige vor Schmutz strotzende Kappe saß. Nur seitlich hingen ein paar lange Zotteln fahl und aschgrau schlampig herunter. Da der Bartwuchs bei ihm nicht so ausgeprägt war, sah er immer unrasiert aus. Die zu groß gewordene Kleidung schlotterte an ihm herum. Er roch penetrant nach Schweinestall, war ein aufbrausender jähzorniger Zeitgenosse. Widerrede vertrug er absolut nicht.

Wenn Friedrich abends ins Wirtshaus ging, schloss sich die junge Frau mit ihren Kindern meist in der Wohnung ihres Schwiegervaters ein. Die Kleinen ängstigten sich vor dem wütenden betrunkenen Vater, der sie alle vier prügelte, wenn er sie erwischte.

Traurig beerdigten sie nach Ostern 1886 Fedor Scholty, einen von allen geschätzten freundlichen, friedliebenden und arbeitsamen Schweinehirten. Gott hat ihn endlich erlöst, sagte der Pfarrer in der Predigt.

Friedrich verschwand gleich nach der Beerdigung.

Lange noch standen die Kinder am offenen Grab des Großvaters.

«Kommt, lasst uns heimgehen.» Inge nahm ihre Kleinen in den Arm und drängte zum Ausgang des Friedhofes.

«Mama was wird nun, wer beschützt uns vorm Vater?», fragend schaute die achtjährige Frieda zu ihrer Mutter.

«Wir reißen aus und verstecken uns!», schrie ihr Bruder angsterfüllt.

«Johann sei still! Ich weiß nicht Kinder, wie es weitergehen soll.»

Langsam trotteten sie nach Hause.

«Ich habe Angst, verkriechen wir uns in der Wohnung vom Opa und schließen die Tür ab.» Sabine nahm ihren Bruder an der Hand und zog ihn hinter sich her.

«Halt bleib da! Heute oder morgen kommt euer Vater nicht zurück, er hat in der Schublade das Haushaltsgeld für diesen Monat gegrapscht, nun wird er sich ordentlich die Hucke vollsaufen.»

Mooreichen 1888 – Johann als Kind

Johann erinnerte sich gerne an den geliebten Großvater, er fehlte ihm. Mit allen seinen Sorgen und Nöten konnte er ihn behelligen. Immer hatte der alte Mann ein gutes Wort oder eine Lösung parat gehabt.

Mit acht Jahren wusste er, dass er hier wegmusste, er wollte nicht wie seine Eltern in der Leibeigenschaft enden - obwohl es die offiziell nicht mehr gab.

Johann thronte auf einem etwa eineinhalb Meter hohen abgebrochenen Baumstumpf zwischen den Schweinen. Den schweren Eichenknüppel griffbereit neben sich, um die blöden gefräßigen Viecher, wie sein Vater sie nannte, abzuwehren.

Der kleine, schmächtige, immer hungrige Junge trieb, jeden Mittag nach der Schule, die Ferkel auf die Eichenhutung.

«Hau ihnen eins aufs Kreuz, wenn sie nicht folgen», wies sein Vater ihn an. Aber die etwa ein halbes Jahr alten Tiere gehorchten trotzdem nicht. Johann fand heraus, dass er mit Eicheln oder Zuckerrübenstückchen mehr Erfolg hatte. Wenn er losrannte und die Leckerstückchen fallen ließ, folgten ihm die Schweine mit lautem Grunzen und Quicken von alleine. Am Gatterende rettete er sich, indem er schnell auf seinen Hochsitz kletterte.

Dort oben träumte er von einem besseren Leben. Er lernte eifrig lesen und lieh sich oft heimlich ein Buch aus der Bibliothek des Barons. Seit einem Jahr füllte er als einer von drei Feuerholzbuben, in aller Herrgottsfrühe vor der Schule, die Holzvorräte neben den Kaminen und Kachelöfen im Schloss auf. Johann war für die Bibliothek, das Speisezimmer und den grünen Salon zuständig. Oberstes Gebot war es für das Gesinde, nur die Dienstbotentreppe zu benutzen, unsichtbar für die Herrschaften zu bleiben.

Anfangs murrte er, aber mittlerweile freute er sich darauf, sah darin seine Chance, um genügend Zeit mit den Büchern verbringen zu können, darum sputete er sich, nahm größere Mengen Holz auf einmal. In der Bibliothek standen an allen Wänden bis an die Decke reichende weiße Holzregale, nur unterbrochen von drei raumhohen Fenstern. Gefüllt mit Unmengen an verschiedenster Literatur. Das geschickt ausgerichtete nördliche Oberlicht spendete die perfekte Lesebeleuchtung.

Heute war die schwarzgefleckte Herde gehörig aggressiv. Johann kletterte hurtig auf seinen Sitz und schlug sein Lieblingsbuch auf. Im vorletzten Monat hatte er die «Die gesammelten Märchen», von Hans Christian Andersen das erste Mal gelesen. Die Geschichte: «Der Schweinehirte» hatte ihn sofort angesprochen. Fasziniert betrachtete er die fantastischen bunten Bilder und fing an zu träumen:

Er war der gutaussehende Prinz, der sich als Schweinhirte verkleidet hatte. Die Baroness bewunderte ihn, wollte unbedingt mit ihm spielen.

«Ach, du lieber Augustin», trällerten sie gemeinsam, «alles ist hin ...»

Jäh wurde er aus seinem Traum gerissen, als ihm das Märchenbuch aus der Hand rutschte und genau zwischen den Schweinen landete.

«Oh weh, wie konnte mir das passieren?» Er hatte die Bücher immer sorgfältig in einen Einband aus Papier eingeschlagen, damit keine Flecken daran kamen. Erschrocken bemerkte er die zwei Jahre jüngere Baroness Frederike, im hellblauen spitzenbesetzten Kleidchen. Sie schielte auf dem Weg zu den Pferden, ihren weißen Tüllsonnenschirm drehend, zu ihm herüber und stolzierte weiter. Er streckte sich, um dem hintern Wald entschwindenden Mädchen nachzuschauen, hoffentlich hatte sie nichts bemerkt.

Die Tiere hatten sich sofort auf das Buch gestürzt, zerfetzten es und mampften alles auf.

«Scheiße! Ihr Blödiane! Wenn das der Baron merkt, kann ich was erleben», brüllte er.

Vorsichtshalber nahm er in den nächsten Tagen kein Buch mehr mit.

Endlich wurde es etwas wärmer, der Frühling kündigte sich an. Seine schwere dicke, aus schwarzer Wolle bestehende Hose kratzte. Mutter hatte die alte Arbeitshose vom Vater abgeschnitten, sodass sie kurz unterm Knie endete. An eisigen Frosttagen hatte er darunter eine viel zu große Männerunterhose, dazu an den Füßen gestrickte Strümpfe und Holzschuhe getragen. So war er halbwegs durch den Winter gekommen.

Träumend hockte er, die ersten warmen Sonnenstrahlen genießend auf seinem Thron, nahm das Schmatzen der Schweine nicht mehr wahr. Sein Blick schweifte in die Ferne zu den mächtigen Bäumen des Parks, hinter dem lang gezogenen Stallgebäude.

Einmal hatte er Heinrich, dem Gärtner, im herrlichen Schoßpark beim Heckenschneiden geholfen, wobei ihm dieser erklärte, dass der Park im englischen Stil angelegt worden sei. Das hieß, weite Wiesen, facettenreiche Baum- und Buschgruppen, kleine natürliche Seen, dazwischen sich schlängelte blumengesäumte Kieswege.

Johann seufzte tief: «Wenn ich einmal reich bin, baue ich mir auch so einen Park mit Schloss.»

Er liebte seine Heimat, dieses Anwesen war sein Zuhause. Aber sie besaßen so gut wie nichts, selbst die wenigen Habseligkeiten in ihrer Behausung gehörten dem Baron.

Sein einziger Schatz, waren ein paar bunt bemalte Kistchen, die der Großvater für ihn gefertigt hatte. Damit baute er sich seinen Gutshof auf, die Menschen sowie Tiere bastelte er sich immer im Herbst geschickt aus Eicheln und Kastanien.

Er sinnierte, in diesem Jahr fällt das aus, große Jungen spielen doch so etwas nicht mehr!

«He Bengel hör auf zu träumen, da kommt ein Wetter, treib die Saubande rein!», unsanft riss ihn das Brüllen seines Vaters zurück in die Wirklichkeit. Der schuftete als oberster Stallknecht, jahrein jahraus von Sonnenaufgang bis zum Untergang in den Schweineställen des Barons von Streselitz. Trotzdem gab es nicht viel zum Essen. Glück war, wenn die Küchenmamsell zusätzlich Essensreste an die Kinder verteilte.

Seine Mutter Inge sah im Gegensatz zu ihrem Mann, mit dem sie fast siebzehn Jahre verheiratet war, immer nur das Gute in den Menschen. Mit ihrer schlanken Figur, dem freundlichen Gesicht, den strohblonden, adrett zu Zöpfen geflochtenen hochgesteckten langen Haaren, war sie trotz all ihrer Mühsal noch eine ansehnliche Frau.

Nie kam ein böses Wort über ihre Lippen, sie ertrug ihren Mann klaglos. Erledigte täglich ihre Pflichten, ohne zu murren. Sie suchte Hilfe in den Gebeten, in ihrer Religion, fand Trost im Glauben.

Ihre Kinder, Frieda, Sabine und Johann wurden von ihr geliebt. Sie war von der täglichen Mühe abgestumpft, durch den Mann, den sie nie gewollt hatte, der sie erniedrigte und schlug.

Großzügig, wie der Herr Baron meinte, bekamen sie zu Lichtmess zumindest ein Handgeld von dreißig Reichsmark im Jahr. Für die Kinder, die mitarbeiteten, gab es zusätzlich jeweils zehn Mark. Einen Großteil des Geldes versoff Friedrich innerhalb kürzester Zeit.

Gott sei Dank erhielten sie freie Kost und Logis. Sie war froh und dankbar, dass sie mit ihren Kindern in einer winzigen Wohnung überm Stall in der ehemaligen Futterkammer hausen durfte.

Seit fast fünfzig Jahren gab es die staatliche Sozialpolitik in Preußen. Das Mindestalter arbeitender Kinder war auf neun Jahre festgesetzt, die Arbeitszeit der unter Sechzehnjährigen auf zehn Stunden täglich beschränkt. Durch die Bildungspflicht kamen selbst einfache Leute nicht umhin, ihre Kinder im Alter ab sechs Jahre vormittags in die Schule zu schicken. Wer es sich leisten konnte, vornehmlich der Adel und die reichen Geschäftsleute, ließ die Sprösslinge von Hauslehrern unterrichten. Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck setzte dies nun auch in den entlegenen Landesteilen um. Die Deutsche Freisinnige-Partei im Reichstag hatte ihn immer wieder bedrängt, da auf dem Land in den hintersten Winkeln des Staates, die Gesetze nicht befolgt wurden.

Friedrich schob gerade den Mist zusammen und genehmigte sich einen kräftigen Schluck aus der Flasche, die immer in seiner Jackentasche steckte, als der Verwalter Schulze wild fuchtelnd hinzukam und schimpfte: «Schule, neumodisches Zeugs, das haben wir nur den Sozis zu verdanken, gehören alle weggesperrt.» Er wusste, dass der Schweinehirt ein Anhänger der Sozialisten war, «Was bezwecken deine Roten mit der Bildung, das ist, wie Perlen vor die Säue werfen. Dafür werde ich euch fünf Mark vom Handgeld abziehen.»

«Sklaventreiber, Leutausnutzer! Bismarck hat gesagt, jedes Kind hat ein Recht auf Bildung», brüllte Johanns Vater lallend, denn seine drei Kinder besuchten auf Betreiben von Inge die Schule.

Betrunken stieg bei ihm der Mut, er traute sich etwas zu sagen, auch wenn es nicht immer passend war.

«Was fällt dir ein, du Rote Socke! Kommunisten und solches Gesindel brauchen wir hier nicht. Ich hätte dich zum Großknecht vorgeschlagen, aber wenn es dir nicht passt, dann nimm deine Tschelotka, deine Sippschaft und verschwinde, ich will euch hier nicht mehr sehen.»

Inge, die aus dem Haus tretend die letzten Worte hörte, bettelte inständig: «Nein, nein, bitte Herr Schulze, der hat das nicht so gemeint.» Sie stieß ihren Mann an und flüsterte ihm zu, «Entschuldige dich!» Sie hatte Angst, undenkbar für sie, von hier wegzuziehen.

Mit hochrotem Kopf presste Friedrich widerwillig hervor: «Entschuldigung Herr Schulze, war nicht so gemeint, nicht gegen euch gerichtet.»

«Ist immer dasselbe mit euch, erst aufregen und dann den Schwanz einziehen. Ich werde mir das merken! Jetzt macht, dass ihr schleunigst an die Arbeit kommt! Fahrt endlich die Luhsche, die Schweinescheiße, weg», wütend stapfte Schulze davon.

Johann, der versteckt hinter einem Heuwagen kauerte, sah und hörte alles mit. Warum ließ sich Vater so etwas gefallen? Meint der Schulze, er sei was Besseres?

Er hämmerte mit den Fäusten an seinen Kopf: «Ich gehe hier weg!»

Ihm wurde bewusst, nur Lernen bringt ihn weiter, so lieh er sich weiterhin heimlich aus der Bibliothek Bücher und las in jeder freien Minute.

Beim Abendessen erklärte er: «Ich erlerne einen Handwerksberuf, werde kein Schweineknecht, wie du Vater.»

«Für solche Spinnereien haben wir kein Geld! Es Jingele träumt davon, ein feiner Herr zu werden, hat große Ziele, wir sind ihm nicht gut genug!» Knallrot vor Wut schüttelte Friedrich den Kopf, sprang auf und hetzte in Richtung Stall. Dort nahm er einen kräftigen Schluck aus seiner Schnapsflasche.

Inge strich Johann übers Haar, «Du erreichst bestimmt, was du dir vorgenommen hast. Er versteht dich nicht.»

Heimlich, sich nach dem Vater umsehend, schob sie ihm ein Stück Brot zu.

«Komm erst mal zu Kräften, sonst wird das nichts!», flüsterte sie.

Friedrich zurückkehrend, hatte es mitbekommen, es hagelte ein paar kräftige Watschen für Johann.

«Meint ihr, ich bin blind und taub? Wer nicht schwer arbeitet, braucht kein extra Brot! Deine Bücher verstehst du auch mit knurrendem Magen», aufgebracht zeigte er mit seinem erhobenen Finger auf seine Frau und drohte, «Hör auf, unterstütze den Bengel nicht ständig!»

Selbstbewusst schaute Johann dem Vater in die Augen, stellte sich schützend vor die Mutter.

«Glotz nicht so frech! Dir werde ich schon deine Flausen austreiben!» Abermals schlug er auf den Jungen ein.

Johann biss die Zähne zusammen, unterdrückte die aufsteigenden Tränen, sein Gesicht brannte. Der kriegt mich nicht unter.

Vor Wut schäumend stapfte der Vater davon, suchte Entspannung bei den Schweinen und wie üblich beim Schnaps. Dann schaufelte er Mist und grölte ein Sauflied laut vor sich hin.

Dies sollte nicht die letzte Auseinandersetzung gewesen sein. Mit den Jahren wurde es schwieriger, oft prügelte er den Knaben grundlos.

Mithilfe seiner Mutter und der Köchin, die ihm auch immer wieder etwas extra zusteckten, «Es Jingele muscht wat esse, sonst wird der nix», wuchs der Junge heran. Er schoss in die Höhe, wurde aber nicht kräftig.

An seinem zwölften Geburtstag schenkte ihm die Mutter mit den besten Wünschen für die Zukunft einen Heidelbeerpudding. Sein Vater überreichte ihm ein paar schwere abgetragene Arbeitsschuhe mit der Aufforderung: «Nach dem Frühstück kommst du gleich mit in den Stall, damit du endgültig lernst, wo dein Platz ist.»

«Aber ich muss zur Schule?»

«Verkauf mich nicht für doof, die Schulpflicht gilt nur bis Zwölf. Heute bricht für dich der Ernst des Lebens an, basta – keine Widerrede!»

Fragend schielte Johann zu seiner Mutter, aber die senkte resigniert den Kopf, unfähig ihrem Mann Widerpart zu bieten.

So trieb der Junge schon am frühen Morgen bei Sonnenaufgang die Schweine auf die Hutung, mistete aus, versorgte die Muttersauen und die Ferkel. Vergeblich versuchte er, sich sauber zu halten, durchdringend stank er nach Schweinekot.

Der Nachmittag verlief wie immer, wenn er sonst aus der Schule gekommen war, auf dem schnellsten Weg hinaus in den Eichenwald zu den Schweinen. Hier legte oder setzte er sich in den Schatten und las ein Buch.

Ein paar Wochen später, im September, fuhr Johann mit einem Karren Mist auf den großen Haufen zwischen den Stallungen und rutschte vom steilen Brett ab. Unglücklicherweise kippte er auf die falsche Seite, entleerte seine Fuhre direkt dem Baron von Streselitz vor die Füße.

«Hoppla», rief dieser überrascht, «ist doch ein bisschen zu schwer für dich mein Junge. Überlass das besser deinem Vater und bleib bei den Büchern – meinst du nicht? Die sind leichter als der Mist.»

Johann hätte sich am liebsten verkrochen und wusste nicht, was er erwidern sollte.

«Du bist doch mein Bücherdieb?», lachte von Streselitz. Der Junge schaute ihn mit großen Augen an. «Hast du gemeint, ich bemerke es nicht? Du hast alle immer sorgfältig behandelt und wieder ordentlich zurückgestellt, darum habe ich geschwiegen. Bin gespannt, wie dies mit dir einmal endet.»

Johann hatte es die Sprache verschlagen, er starrte verlegen den Baron an.

«Entschuldigung Herr Baron, kommt nicht wieder vor», eilends zog Friedrich, der gerade aus dem Stall kam, seine Mütze, gab dem Sohn eins kräftig hinter die Ohren und verbeugte sich.

«Na, na, ist doch nichts passiert», amüsierte sich der Gutsherr und grinste zu den beiden Männern, die ihn begleiteten. «Ist dies der Knabe, von dem ihr so geschwärmt habt, Kaplan?»

«Ja Herr Baron, das ist der Johann», antwortete der Lehrer Weldig.

«Ihr meint, ich werfe hier im wahrsten Sinne des Wortes, Perlen vor die Säue

«Ja, Herr von Streselitz. Der Junge ist einer der besten Schüler, die ich je unterrichtet habe», betonte der Schulmeister.

«Johann, komm mal näher, sag dem Herrn Baron einen Guten Morgen.»

Der Bub wischte seine schmutzigen Hände an der Hose ab.

«Lass gut sein», Streselitz winkte ab: «Soso, du möchtest ein Handwerker werden.»

«Jawohl, Herr Baron!»

«Der Eberhardt Kramer, das Baugeschäft in Dembiohammer, gleich an der Landstraße, der würde ihn für wenig Geld nehmen», mischte sich Kaplan Müller ein. «Lasst mich das regeln – und wir sind quitt – oder?» Er streckte die Hand hin, «Schlagt ein Streselitz!»

«Wie oft gedenkt ihr mir dies noch aufs Butterbrot zu streichen?»

«Das ist das letzte Mal!»

«Meine Herren, ihr habt es gehört! Ihr seid die Zeugen!», meinte der Freiherr zu den beiden anderen Männern.

«Aber, um was handelt es sich denn?», fragend schaute der Lehrer den Baron an.

«Das geht Euch nichts an! Hauptsache ihr bezeugt, dass ich mit dem Kaplan einig bin!», damit wandte er sich an den Hilfsgeistlichen: «Ihr vermittelt das – und ich möchte davon nichts mehr hören!»

«Eins noch, Herr Baron, der Maurermeister verlangt den Einschreibegulden und Lehrgeld, nicht viel.»

«Was zahlen soll ich auch noch!»

«Ja, ist doch nur eine Kleinigkeit für euch und später zahlt sich ja ein fleißiger Maurer aus.» Durchdringend schaute der Kleriker ihn an.

«Gut, regelt alles», ohne die Männer weiter zu beachten, stolzierte Streselitz zielstrebig zum Herrenhaus.

Der Lehrer und der Kaplan folgten ihm langsam.

«Was hast du gegen den Baron in der Hand?», fragte der Schulmeister neugierig seinen Freund.

«Nichts! Zumindest nichts, das dich was angeht. Ist ein Beichtgeheimnis!»

Eine Woche später nahm Johann leichten Herzens Abschied von Eltern und Geschwistern, Hauptsache weg vom Vater und den Schweinen. Er bestieg ein Fuhrwerk, welches Kartoffeln nach Oppeln lieferte, der Bauer würde ihn bis Dembiohammer mitnehmen.

«Ich werde es einmal besser haben wie meine Eltern», jubelte er innerlich. Einen anständigen Beruf erlernen, sein Traum erfüllte sich. Trotzdem wurde es ihm bange vor dem, was auf ihn zukam.

Es war nicht meine Schuld

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