Читать книгу Es war nicht meine Schuld - Thomas Spyra - Страница 9
ОглавлениеDembiohammer 1902 – Franziska
Sie liebte den Geruch des reifenden Korns, das leise Rauschen, wenn der Wind darüber strich, Blütenstaub über den Feldern wie Nebelschwaden verwehte. Oft stand sie alleine zwischen den Weizenhalmen, genoss die Stille und den Duft.
Heute war es windstill und glutheiß, die Felder dufteten nach Mehl, wie beim Bäcker, wenn er frisches Brot aus dem Ofen holte.
Leider war sie nicht allein, zusammen mit ihren Basen, Luise und deren Schwester Maria, war sie auf dem Heimweg von der Sonntagsschule. Die Zwei plapperten in einer Tour.
«Ich muss mal.»
«Ich auch!»
«Wartet, ich komme mit!», damit sprang die sechzehn- jährige Franziska den beiden hinterher ins Kornfeld.
Sie rafften ihre Kleidung und hockten sich hin.
«So´n Mist!», schimpfte Luise, mit ihren zwölf Jahren die Jüngste, «Ich hab mir auf den Rock gepinkelt.»
Schadenfroh lachten die beiden anderen.
«Pst, da kommt wer!», flüstere Maria, die Größere der Drei, die beim Aufstehen über die Ähren schaute.
«Ein hübsch anzusehender Wanderbursche, der laut aber falsch singt!»
Franziska reckte den Kopf: «Der ist fesch, so ein schönes Lied, aber Singen ist nicht seine Stärke», wisperte sie amüsiert. Rasch richtete sie ihren Rock.
Alle drei kicherten – der Bursche blieb stehen, schaute herüber. Sie zogen ihre Köpfe ein und schlichen weiter durchs hohe Korn.
Ihr Kichern mischte sich mit dem Zirpen der Grillen, er rief in ihre Richtung: «Ist da wer?»
Mühsam unterdrückten sie ihr Lachen, trieben weiter ihren Schabernack mit ihm.
Brummend setzte er seinen Weg fort.
Am Feldrand schubsten Maria und Luise die voraus- gehende Franziska, sodass sie ausglitt und direkt zu Füßen des jungen Burschen auf ihren Hintern landete. Dabei rutschte der Rock so unanständig weit nach oben, dass sein Blick auf ihr blondes Haar zwischen den Beinen fiel.
«Hoppla, da schau her, was fällt da Hübsches vor meine Füße», verlegen lachte Johann und konnte seine Augen nicht abwenden.
Franziska ruderte mit ihren Händen, die sich im Rock verfangen hatten, um sich zu bedecken.
«Wartet Jungfer, ich helfe Euch!» Er löste sich aus seiner Starre und packte die Hände des Mädchens, zog sie mit einem Schwung hoch, sodass sie in seine Arme fiel.
Verlegen, mit einem hochroten Kopf stotterte Franziska gestelzt: «Grüß Gott! Danke holder Wandergeselle. Wohin des Weges?» Sir kehrte um und stob mit ihren Freundinnen davon.
Was Dümmeres ist mir nicht eingefallen, dachte sie. Fesch hat er in seiner Kluft ausgeschaut. Ein Handwerksbursche, das wäre es - etwas Besseres bekomme ich nicht.
Seit drei Jahren war sie schon bei ihrer Tante Martha Kramer, die sie zu sich geholt hatte, nachdem ihre Mutter Maria gestorben war. Andere Verwandte gab es nicht, auch keinen Vater, zumindest hatte Mutter den nie erwähnt. Niemand der sich um das Mädchen kümmerte. Manchmal, früh morgens wenn sie wach im Bett lag, phantasierte sie, dass ihr Vater ein reicher Mann, unter Umständen, ein Baron oder Graf sei.
«Wir hätten dich in ein Waisenheim stecken sollen, sei froh, das wir dich so großzügig aufgenommen haben. Nutze unsere Gutmütigkeit nicht aus!», zeterte die Meisterin, wenn sie sich über Franziska ärgerte. «Ich verlange absoluten Gehorsam von dir. Jetzt ab in die Küche!»
Sie war anfangs dagegen gewesen, als ihr Mann das Mädchen ins Haus gebracht hatte. Immer wieder schüttelte sie missmutig über den Störenfried den Kopf.
«Das ist das Kind deiner Schwester, die kannst du nicht einfach wegstecken», ereiferte sich Meister Kramer vor drei Jahren.
«Maria hielt sich für was Besseres, nur weil sie dort arbeitete. Hausdame, dass ich nicht lache, der Alte wird sie geschwängert haben, aber sie gab nicht preis, wer der Vater von dem Bankert ist. Soll doch der Graf von Schweinitz sie behalten.»
«Jetzt sei still, ich habe entschieden, das Mädchen wird dir im Haushalt helfen und mit unseren Kindern spielen.» Energisch unterband Eberhard damals die Widerrede seiner Frau.
So wuchsen die zwei eigenen Mädchen zusammen mit der ein paar Jahre älteren Base auf. Aber immer im Bewusstsein, wir sind die Meisterkinder, dies ist nur eine arme Verwandte. Die Kramers zeigten sich großzügig und schickten das Kind zur Schule.
Mit ihren Basen ging sie zwar zum Unterricht und manchmal spielten sie gemeinsam, wenn sich die beiden langweilten, aber sonst waren das arrogante Ziegen, die sie herum kommandierten und bei jeder Gelegenheit schikanierten. Sie waren neidisch, weil sie eindeutig die Hübschere war.
Die Meisterin bedachte Franziska als billiges Dienst- mädchen mit allerlei Pflichten, Aufgaben die zur Bewältigung des großen Haushaltes notwendig waren.
Einmal im Monat gehörte das Ölen der Fußbodendielen im ganzen Haus und das anschließende Abkehren mit Quarzsand zu ihren Pflichten. Eine anstrengende scheußliche Arbeit, die keiner gerne übernahm.
Vor einiger Zeit lauschte sie einem Gespräch zwischen dem Meister und seiner Frau, sie stand im Gang und wollte das Essen servieren.
«Wir verheiraten Franziska, so schnell wie möglich, dann sind wir sie los und haben keine unnötige Esserin mehr im Haus.»
«Nein Mann, das meine ich nicht! Soll sie doch eine alte Jungfer werden. Solange ich Franziska für Haushalt und Küche habe, spare ich mindestens eine Dienstmagd ein. Das Kind ist fleißig und hilft unseren Kindern bei den Hausaufgaben. Wenn ich dafür extra Jemanden einstelle, kostet das mehr, als das bisschen Essen.»
«Na, wenn du meinst, ich misch mich da nicht ein. Früher wolltest du sie doch unbedingt schnell loswerden, – Franziska! Wo bleibt mein Essen?», plärrte er verärgert und klapperte mit dem leeren Teller.
Seitdem träumte das Mädchen von dem Prinzen, der sie hier rausholen würde. Aber wo lernte man einen kennen, es fehlte an Gelegenheiten. Gab es einmal eine Einladung oder eine Gesellschaft, so musste sie bedienen.
Einzig die Mutter vom Meister, zu der sie Großmutter Sophia sagen durfte, unterhielt sich ab und zu mit ihr. Sophia Kramer, groß, vornehm gekleidet, trat selbstbewusst auf, ihr Mann hatte schließlich den Betrieb aufgebaut. Sie war die Frau Meisterin, kommandierte besonders ihre Schwiegertochter, die in ihren Augen arrogant und faul war, herum. Die beiden Enkeltöchtern behandelte sie spröde, kamen sie doch eindeutig nach der Mutter.
An Franziska hatte sie ihre Freude: «Aus dir wird mal was, Mädchen. So fleißig und hilfsbereit, wie du bist. Die Männer werden sich um dich reißen.» Sophia lachte und versuchte, sie weit gehend zu unterstützen. Schon mehrmals durfte sie die Großmutter nach Breslau begleiten. Dies waren die schönsten Tage in ihrem bisherigen Leben, besonders wenn sie mit der alten Dame nachmittags das Kaffeehaus am Markt besuchen durfte.
Beim letzten Mal begrüßte der Ober sie beide: «Küss die Hand Gnä´ge Frau», zu Franziska gewandt, «Meine Verehrung Komtess von Schweinitz, heute wieder einmal in der Stadt?»
«Nein, nein – sie verwechseln mich, ich bin Franziska Brand, eine Dienstmagd, keine Komtess», stotterte sie verlegen.
«Entschuldigung mein Fräulein, ich dachte - aber diese Ähnlichkeit!», er schüttelte den Kopf, «Sie sehen aus wie die junge Komtess Isabella von Schweinitz, wissen Sie, diese pflegt auch öfters ältere Damen aus dem Domfrauenstift ins Kaffeehaus zu begleiten.»
«Seltsam», die Großmutter schüttelte irritiert den Kopf, «war deine Mutter nicht bei dem Schweinitz in Stellung?»
«Ja, aber ich war seitdem nicht mehr dort. Der Graf hat, soviel ich gehört habe, zwei Töchter, die eine ist etwas jünger, die andere älter wie ich.»
«Wirklich merkwürdig!», murmelte die Frau.
«Was meint Ihr, Großmutter Sophia?»
Diese lächelte: «Ach nichts! Mach dir keinen Kopf, das ist etwas für alte Leute, so wie mich. Ich werde darüber nachdenken.»
Gerne wäre Franziska bei der alten Meisterin in Stellung gegangen, aber die lebte in einer winzigen Wohnung in Oppeln und führte ihren kleinen Haushalt noch selbst.
Dembiohammer 1902 - Maurer Johann
Am 22. Juni, einem Sonntagabend, erreichte er völlig durchgeschwitzt den Gutshof Mooreichen. Hier hatte er die Kinder- und Jugendzeit verbracht. Sein letzter Besuch bei den Eltern war kurz vor Beginn seiner dreijährigen Walz.
«Ach - der Herr Wanderbursche! Was willst du hier bei uns? Als es deinen Leuten beschissen gegangen ist, warst du nicht da! Deine Mutter hat sich wegen DIR umgebracht!», fertigte Verwalter Schulze, ein kleiner Giftzwerg, der sich immer aufspielte, ihn feindselig am Hoftor ab.
Johann senkte den Kopf und zuckte mit den Schultern, was sollte er da schon erwidern.
«Bist maulfaul?» Schulze drehte sich um und wies zur Küche: «Geh zur Hilde, die hat sich um die beiden gekümmert, nachdem auch deine Schwestern das Weite gesucht haben. Ein paar Klamotten hat sie aufbewahrt.»
«Danke Herr Schulze.»
«Gibt nichts zum Danken, hol die Sachen und dann mach, das du fortkommst – oder nimmst du bei uns eine Arbeit an? Könntest den Stall ausbessern.»
Johann schüttelte den Kopf.
«Hab ich mir gleich gedacht, dafür ist sich der Herr Geselle zu fein!»
Der junge Mann wandte sich zum Wirtschaftsgebäude.
«Warte, wenn du schon einmal da bist, solltst du dich bei der Baroness Frederike melden», rief er ihn zurück.
«Was will die von mir?»
«Keine Ahnung!»
Johann hastete die paar Schritte zur Haustür.
«Warte hier!», befahl Schulze.
Einige Minuten später kam er zurück, «Komm mit!»
Im kleinen Salon wartete eine attraktive junge Dame.
«Grüß dich Johann, gut dass du vorbeikommst. Wie ich sehe, bist du mit deiner Ausbildung fertig. Meine Gratulation, Herr Geselle, hier, das soll ich dir von meinem Vater geben, er ist im letzten Jahr verstorben.» Sie lächelte ihn an und hielt ihm ein kleines in rotem Samtstoff eingeschlagenes Päckchen hin.
Überrascht von ihrer Freundlichkeit griff er zögernd zu und murmelte: «Danke!»
«Ich hatte dich beobachtet, sah, wie das Buch von den Schweinen gefressen wurde.»
Das Blut schoss ihm in den Kopf.
«Damals?», stotterte er peinlich berührt, verabschiedete sich eilig und trottete zur Köchin.
«Ach, wie groß wäre die Freude deiner Eltern gewesen, wenn sie dich noch einmal gesehen hätten.» Hilde begrüßte Johann und stellte ihm wortlos eine Tasse kalten Tee hin. Er setzte sich und wickelte das Präsent aus.
«Ein Märchenbuch, bist du nicht ein wenig zu alt dafür?»
«Nein Hilde, dafür ist man nie zu alt! Das ist ein Geschenk vom alten Baron. Hier steht: Für meine Leseratte – das verschwundene Buch – das Einzige, dass du mir nicht zurückgestellt hast. Frederike hatte erzählt, was passiert war. Viel Glück für dein weiteres Leben.» Johann deutete auf die schwungvolle Unterschrift des Streselitz.
«Eine nette Erinnerung an den Baron. Aber jetzt erzähl, wie ist es dir ergangen? Warum bist du nicht zur Beerdigung gekommen?»
«Ich war in Königsberg, zu weit weg», murmelte Johann entschuldigend und schüttete seinen Tee in einem Zug hinunter.
«Eine faule Ausrede – aber das geht mich ja nichts an.» Hilde schenkte nach und knallte den Krug auf den Tisch.
«Der Schulze hat erzählt, meine Mutter soll sich umgebracht haben?»
«Ja! Hat dir das denn niemand geschrieben?»
«Nein, im Brief stand nur der Termin der Beerdigung, meine Rückfragen blieben unbeantwortet, sind vielleicht verloren gegangen. Was ist damals passiert?»
«Es gab wieder einmal Gezänk, Türen krachten, Schüsseln und Teller schepperten. Der heftige Streit hallte über den ganzen Hof. Deine Mutter schrie angsterfüllt, dein Vater wütete. Dann kam sie, blutend aus Mund und Nase, die Kleidung zerrissen, herausgerannt, lief in den Stall und verriegelte die Tür von innen.»
«Wütend donnerte dein Vater mit den Fäusten an die Tür und schrie: ‹Komm raus du Schlampe oder ich schlage dich tot!› Einige Männer packten den Wüterich und zerrten in fort. Er war sternhagelvoll, hatte sich vollgepinkelt und stank fürchterlich.»
Hilde legte Johann die Hand auf die Schulter, «Deine arme Mutter.»
«Schulze behauptet, es war meine Schuld?»
«Ach, der sagt eine Menge, wenn der Tag lang ist, deine Eltern stritten sich öfters, meist wegen dir. Wenn es nach Friedrich gegangen wäre, hättest du hier auf dem Hof bleiben, seine Arbeit übernehmen und für die Familie sorgen sollen. Lass den Jungen, der soll es einmal besser haben, verteidigte deine Mutter dich.»
Johann nickte bedrückt: «Davon hatte ich keine Ahnung!»
«Jedenfalls, als die Männer dann endlich die Stalltüre aufgehebelt hatten, da hing deine Mutter in der Dachbodenluke. Jede Hilfe kam zu spät.» Tränen liefen Hilde über die Wangen.
Still stierte Johann vor sich hin und flüsterte: «Das habe ich nicht gewollt.»
«Dein Vater heulte auf und raufte sich die Haare, als man ihm am nächsten Morgen dies berichtete. ‹Inge tot? Wegen mir?›, wieder nüchtern begriff er das Geschehene, tobte und raste auf den Schlossspeicher, sprang aus der Bodenluke in die Tiefe. Er knallte mit dem Kopf aufs Pflaster und war sofort tot.» Die Köchin legte beruhigend ihre Hand auf Johanns Arm.
«Die haben wegen mir gestritten! Das wollte ich nicht!»
Er wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht.
«Du kannst nichts dafür, es war nicht deine Schuld!»
Hilde stand auf: «So genug von den unleidigen Geschichten. Warte, ich hol dir den Sack mit den paar persönlichen Sachen. Die brauchbaren Kleider habe ich alle an die anderen verteilt, ich hoffe, du hast nichts dagegen.»
«Nein, ist schon recht so», Johann nahm den Kartoffelsack mit den wenigen Habseligkeiten seiner Eltern, den ihm die Köchin brachte.
«Vielen Dank, besonders für den Tee.»
«Bleibst du nicht? Wenigstens für heute Nacht? Wir feiern, wie jedes Jahr hinter der Scheune die Sommersonnwende, der große Holzstoß ist schon aufgerichtet.»
«Nein, der Schulze will mich hier nicht mehr sehen. Vielen Dank, dass du dich um die Eltern gekümmert hast.»
Fluchtartig verließ er den Gutshof Richtung Oppeln, wo es eine Herberge gab, die er kannte.
Immer wieder fragte er sich, ob es nicht doch seine Schuld war. Hätte er damals, nicht so weit weggehen sollen?
«Mal sehen, wie es weitergehen wird. Kommt Zeit - kommt Rat!»
Er hatte zwar die Zusage seines Meisters, dass er bei ihm wieder anfangen könnte, aber er wusste nicht, ob er sich das wünschte.
In der Gaststube der Herberge saßen schon fünf Rechtschaffende Gesellen am Tisch. Sie begrüßten ihn mit lautem Hallo und bestellten gleich eine neue Runde.
Nach der durchzechten Nacht wachte er erst gegen Mittag auf, seine Stimme heißer vom vielen Schallern und Trinken.
«Was treibe ich hier?», sein Schädel brummte, die Zeche hatte seine letzten Groschen verschlungen.
«Am besten ich wandere weiter.» Er hielt den Kopf am Brunnen vorm Gasthaus unter eiskaltes Wasser und schritt so erfrischt entschlossen los. Die normalerweise zwei Stunden Marsch nach Dembiohammer zogen sich heute lange hin.
Die Glocke vom nahen Kirchturm schlug fünfmal, als er auf dem Bauhof des Meister Kramer ankam.
«Grüß Gott, ist wer da?», rief Johann beim Eintreten in den Hausflur.
Ein strohblondes Mädchen kam angerannt und stockte abrupt: «Äh? - Was wünscht ihr», sie lief rot an.
«Ich bin ...», seine Stimme versagte, der Stenz fiel ihm aus der Hand, schlug krachend gegen die Tür, knallte zu Boden. Er bemerkte es nicht, starrte sie nur an – die Hübsche die ihm gestern vor die Füße gefallen war.
«Was ist denn das für ein Lärm? - Ja da schau her, der Johann!», rief die Frau Kramer beim Eintreten und schaute von einem zum anderen. «Hat´s euch die Sprache verschlagen?»
«Ich, ich – ja, ich bin wieder da, Meisterin», stotterte Johann.
«Na, das sehe ich!» Sie lachte.
«Franziska, setz einen Tee auf und mach den Rest der Suppe von heute Mittag warm.»
Das Mädchen rührte sich nicht.
«Mach schon den Mund zu, das ist doch bloß der Johann, unser bester Geselle, der von der Wanderschaft zurück ist. Der beißt nicht!»
Franziska erwachte aus ihrer Betäubung, wurde noch röter und hastete in die Küche.
«So komm rein in die gute Stube», forderte die Meisterin Johann auf, «mein Mann kommt jeden Augenblick nach Hause, der will bestimmt viel von dir wissen. Setz dich an den Tisch, Franziska bringt gleich die Suppe. Jetzt erzähl schon, wo warst du überall? Ich bin doch neugierig, wie es dir ergangen ist auf deiner Wanderschaft?»
Stockend berichtete Johann.
Nach über einer Stunde kam Meister Eberhardt Kramer, ein großer drahtiger wettergebräunter Mann in den besten Jahren, von der Baustelle und begrüßte den Gast.
«Freut mich, dass du wieder da bist. Darauf müssen wir einen trinken. Franziska – bring denn Schnaps!» Eilig stellte das Mädchen die Zwetschgenschnapsflasche auf den Tisch. Eberhard scheuchte sie mit einer Handbewegung wieder hinaus und füllte die Gläser randvoll.
«Prost! - Auf deine Heimkehr!»
«Prost!», gab Johann ihm Bescheid.
Der Meister schüttelte sich, schenkte nach, schob ihm wiederum das volle Glas hin: «Weg damit! - Wo warst du überall in den letzten drei Jahren und was hast du Neues gelernt?»
Ausführlich schilderte Johann ihm seine Erlebnisse.
«Morgen, das heißt, eigentlich heute», meinte der Kramer augenzwinkernd als er zum Fenster schaute und am Horizont die Sonne aufgehen sah, «kommst du mit auf die Baustelle nach Chronstau.»
«Ich weiß nicht», zögerte der junge Mann, benebelt vom Schnaps war er unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
«Wir haben jede Menge Arbeit und ich brauche gute Leute. Aber wenn du noch etwas zu erledigen hast, dann kommst halt einen Tag später.» Zum soundsovielten Male schenkte der Meister nach.
Ermüdet blinzelte Johann.
«Schau doch nicht so, wird dein Schaden nicht sein.» Die Stimme überschlug sich. «Du warst immer wie ein Sohn für mich.» Der beschwipste Kramer klopfte Johann redselig auf die Schulter: «Ich unterbreite dir ein hervorragendes Angebot: Ich lass dich als Anwärter auf die Meisterschaft im Innungsbuch eintragen. Nach deinen sechs Mutjahren[Fußnote 19] hast du dann die Möglichkeit zum Meisterstück.» Listig schaute er den Gesellen an, «Du weißt doch, ich habe nur zwei Töchter, mir fehlt der Erbe.»
«Mm», lallte Johann benommen. Schnaps trinken war nicht seine Stärke - vor allem so auf nüchternen Magen, der kleine Teller Suppe zählte nicht.
«Was mehr hast du da nicht zu sagen.»
In dem Moment kam die Meisterin mit einem Tablett voll Brot und Wurst herein: «Guten Morgen, nachdem ihr euch die Nacht um die Ohren geschlagen habt, bringe ich ein deftiges Frühstück. - Was redest denn für dumme Sachen Mann, hast wieder zu viel getrunken.»
«Nur ein paar Schnäpschen zur Begrüßung.»
«Na, na – die war gestern Abend noch voll!»
Kopfschüttelnd räumte sie die fast leere Flasche weg.
«Reg dich nicht auf, Frau. Ich hab doch recht, die Weiber dürfen das Geschäft nicht übernehmen. Johann ist mein bester Geselle. Der, - der schafft den Meister. In sechs Jahren sehen wir weiter, welche unserer zwei Grazien noch frei ist. Lang zu Johann, lass dir´s schmecken!»
«Aber du wirst doch die Zukunft der Mädchen nicht einfach so verschachern. Diese Zeiten sind vorbei, auch Frauen haben Rechte.»
«Spinnst du, wer redet dir denn so einen Unsinn ein. Ich bin der Meister und Herr im Haus - und ICH sage, wo es lang geht, verstanden!» Er schlug mit der Faust so kräftig auf den Tisch, dass sein leeres Glas zersprang.
«Aber, das ist ...», wandte Johann ein.
«Ruhe, du hältst dich da raus. Ich stehe zu meinem Wort. Hier die Hand drauf.»
Der junge Mann schlug zögernd ein.
Die Frau stürmte aus der guten Stube und knallte die Tür zu.
«Diese Weiber!», brummte Kramer.
«Meister ich mache mich auf, ist noch ein weiter Weg bis zur Herberge.»
«Nichts da, du bleibst heute hier. - Franziska!», schrie er, «Franziska - komm sofort her!»
Ängstlich lugte das Mädchen in die Stube, wusste sie doch, dass mit dem angetrunkenen Onkel nicht zu Spaßen war.
«Das ist die verarmte Nichte meiner Frau, schau sie dir an, wie die zittert.» Hämisch lachte der Meister, «richte für den Johann im kleinen Zimmer oben das Bett her - aber bisschen flott!» Er gab dem Mädchen einen Klaps auf den Hintern, die hastete erschrocken aus der Stube.
Der Meister hielt Wort, zwei Wochen später ließ er Johann ins Buch der Innung als Anwärter auf die Meisterschaft eintragen. Mit einem feierlichen Handschlag und einer nochmals durchzechten Nacht besiegelten beide die sechsjährige Mutzeit. Dazu gehörte, dass der Geselle im Hause wohnte und als Kostgänger mit am Tisch des Meisters saß. Freilich war das fast ausschließlich auf Samstagabend bis Sonntagmittag beschränkt, denn die übrige Zeit war der Maurertrupp auf den weit verstreuten Baustellen in Nieder- und Oberschlesien unterwegs.
Sonntagfrüh auf dem Heimweg von der Messe, versuchte es Johann in letzter Zeit so einzurichten, dass er mit Franziska vorneweg lief. Sie bereitete gewöhnlich das Mittagessen vor und er erfand immer einen Grund, das stille attraktive Mädchen heimzubegleiten.
Der Meister mischte sich mit seiner Familie gerne unter die Gottesdienstbesucher, hierbei erfuhr man immer den neuesten Tratsch. Seine Frau hoffte dabei, eine akzeptable Partie für ihre Töchter zu finden. Mit dem Gedanken an Johann als zukünftigen Schwiegersohn konnte sie sich, obwohl sie ihn mochte, nicht so recht anfreunden. Sie wünschte sich was Besseres für ihre beiden Mädchen.
Mit den Töchtern des Meisters fing Johann, obwohl er eine von den Beiden heiraten sollte, nichts an. Die jüngere, hübschere Luise war hochfahrend und arrogant, Maria eher eine graue Maus, der man die Worte aus dem Mund ziehen musste. Außerdem waren sie ihm zu oberflächlich, alberten nur herum, tyrannisierten ihre Base Franziska bei jeder Gelegenheit, dies störte ihn.
Pünktlich zum Osterfest am dritten April 1904 kam die Sonne heraus, verdrängte die dunklen Wolken, schnell trocknete die Erde, das Thermometer kletterte bereits vormittags über die Achtzehn-Grad-Marke.
Franziska hakte sich bei Johann unter: «Herrlich, endlich wieder warm.»
Beide schauten in den strahlenden Himmel, nicht ahnend, dass ihnen einer der heißesten Sommer bevorstand.[Fußnote 20]
Nach der festlichen Ostermesse begleitete er das Mädchen wieder nach Hause. Hübch sah sie aus in ihrem Sonntagsstaat, einem helltürkisblauen knöchellangen Rock und weißer mit Rosen bestickter Bluse unter dem schwarzen, ebenfalls mit Stickereien versehenen Samtmieder. Die goldblonden langen Zöpfe hatte sie mit bunten Bändern zu einer Krone hoch aufgesteckt.
Sie stolperte kurz vor der Haustür, über die ihr zwischen den Füssen durchhuschende Hauskatze. Er fing sie gerade noch auf und spürte ihre weichen fraulichen Rundungen.
«Hoppla», flüsterte sie und wollte von ihm abrücken.
Aber er hielt sie fest an sich gedrückt und küsste zart ihre süßen Lippen.
«Ja da schau her, zwei Turteltäubchen, das werde ich meinen Vater erzählen.»
Sie hatten nicht bemerkt, dass Luise, die gerne spionierte, hinter ihnen her geschlichen kam.
«Was meinst du? Er hat mich doch bloß aufgefangen!»
Luise lachte schadenfroh: «Ich weiß, was ich gesehen habe. Willst uns wohl den Mann ausspannen?»
«Bitte sag nichts, dein Vater jagt mich sonst davon.»
Johann hatte bisher kein Wort über die Lippen gebracht, er schaute nur von einer zur anderen.
«Das war eine blöde Abmachung», entgegnete er zaghaft zu Luise.
«Ha, du kneifst?» Sie kostete seinen Schrecken aus. «Sei beruhigt, weder ich noch Maria werden so einen armen Schlucker wie dich ehelichen.»
«Ja, aber was willst du?», Franziska hoffte auf einen Ausweg.
«Wenn ihr uns helft, den Vater zu überreden, werden wir auch für euch eine Lösung finden.» Luise wirkte zuversichtlich und entschlossen. «Ich habe schon mit Mutter gesprochen, ich heirate einen Anderen. Beim letzten Innungsfest habe ich einen stattlichen reichen Maurer- meister aus Breslau kennengelernt, der hat versprochen, in der nächsten Woche, um meine Hand anzuhalten.»
Johann zog die Augenbraue hoch, das verhieß nichts Gutes. Aber er schwieg - abwarten, wie sich der Meister verhielt.
Alle Drei eilten schnellstens ins Haus.
Eine Woche später nach der Sonntagsmesse, nahm ihn Kramer zur Seite, «Johann, heute schicken wir die Frauen alleine heim. Wir fahren nach Oppeln ins Wirtshaus, ich hab was Wichtiges mit dir zu besprechen und da red´ sich´s besser.»
Johann wurde es heiß, der Schweiß trat ihm aus allen Poren, er lockerte seinen Kragen: «Ich glaube, mir geht’s nicht gut, vielleicht ...»
«Nichts da, ein kräftiger Schluck wird dich wieder auf die Beine bringen!» Harsch befehlend duldete Eberhard Kramer keinen Widerspruch.
Er lenkte die Kutsche selbst, etwa fünfzehn Minuten später hielten sie vorm Goldenen Bären, dem größten und prächtigsten Gasthaus in der Stadt. Der herzueilende Stallknecht nahm ihm die Zügel ab und sie schritten rasch ins Wirtshaus. Johann war hier noch nie gewesen, dies war nichts für seinen Geldbeutel, hier verkehrten nur die reichen Händler, Handwerksmeister und Stadtobereren.
Zuvorkommend begrüßte der Wirt den Meister und wies ihm einen Tisch in einer Fensternische zu. Von hier hatte man einen herrlichen Blick über den Marktplatz und war ungestört.
«Johann, das hier ist Meister Alexander Schöner aus Breslau», damit begrüßte er einen jungen Mann, der, kaum das sie Platz genommen hatten, an ihren Tisch trat.
«Grüß dich Johann, wir sind ja fast gleich alt, sag Meister Alexander zu mir.» Er streckte dem Maurergesellen die Hand hin.
«Grüß Gott Meister Alexander», Johann ergriff die schlaffe Hand und nickte ihm zu.
Eberhardt wandte sich an Johann: «Ich habe dir die Meisterschaft versprochen, dazu stehe ich. Wenn deine Mutzeit rum ist, werde ich mich für dich verwenden.»
Johann wollte etwas einwenden: «Meister, ich muss Euch was ...»
«Nein lass mich ausreden! Ich habe den Heiratsantrag für die Luise angenommen. Das heißt, meine Tochter erbt einmal das Geschäft. Nach der Hochzeit, die in zwei Monaten sein wird, werde ich Meister Alexander als meinen Nachfolger einarbeiten. Wie meine Frau bemerkt hat, hast du dich ja nicht für eines unserer Mädchen erwärmen können.»
«Aber ich ...», setzte Johann nochmals an.
«Lass, die Meisterin hat mir alles erzählt. War eine blöde Idee. Nachdem sich Luise in den da verguckt hat und die Große auch einen anderen heiraten will, entbinde ich dich hiermit von deinen Pflichten.»
Der Meister stieß mit den beiden jungen Männern an, nahm einen kräftigen Schluck, bevor er weiter redete. «Bis zu deinem Meisterstück helfe ich dir. Falls ich von jemanden höre, der einen Meisteranwärter einstellt, vermittle ich gerne. Allerdings ist bei mir kein Platz für einen zweiten Meister, wie du sicher verstehst. Du kannst als Altgeselle weiter arbeiten, bis du was Neues gefunden hast, hier meine Hand drauf. - Gut wir sind uns einig, das besiegeln wir gleich mit einem kräftigen Schluck.»
Kramer winkte dem Wirt: «Alfons, wo bleibt das Essen, wir haben schon einen Mordshunger.»
Kaum dampfte das schlesische Himmelreich mit Semmelknödeln auf dem Tisch, fielen die beiden Meister darüber her. Johann stocherte auf seinem Teller herum, ihm war der Appetit vergangen.
Meister Eberhard standen die Schweißperlen auf der Stirn, er schnaufte schwer: «Hat´s dir nicht geschmeckt, Johann?»
Er nestelte an seinem Kragen, lockerte ihn etwas, «Das ist ja wieder so heiß heute.»
«Geht es euch nicht gut Meister?», fragte Johann besorgt.
«Ich brauche frische Luft, kommt, lasst uns aufbrechen.»
Gemeinsam verließen sie das Gasthaus.
«Der Alfons kocht schon verdammt erstklassig, es war wieder einmal ein vorzügliches Essen, das Him ...», Meister Eberhardt schritt auf die Straße, griff sich an die Brust, stöhnte und sackte in sich zusammen.
Die beiden jungen Männer sprangen erschrocken hinzu und riefen um Hilfe.
Der aus dem Gasthaus eilende Arzt kniete sich zu dem am Boden liegenden.
«Diese Hitze! Sie hat seinem Herz den Rest gegeben. Ich habe ihm oft genug gesagt, er soll kürzer treten, das Rauchen und Saufen aufhören, aber er hat einfach weiter gemacht. Hier kommt jede Hilfe zu spät», stellte der Doktor fest, nachdem er den Meister untersucht hatte.
Drei Tage nach der Beerdigung ließ der Obermeister Seitz aus Oppeln Johann zu sich rufen.
«Es tut mir leid, aber ohne Meister Eberhardt erlaubt dir die Zunft nicht deine Mutjahre abzuschließen. Einstweilen wird der Meister Gerhard Schöner im Auftrag der Innung das Geschäft führen. Wenn nächsten Monat die Hochzeit über die Bühne ist, übernimmt sein Sohn Alexander die Maurerfirma.»
Johann war wie vor den Kopf geschlagen: «Aber es war ausgehandelt? Ich kann doch trotzdem noch meinen Meister ablegen?»
«Nein, außer du findest einen älteren Maurermeister, der dich übernimmt. Alexander Schöner darf dies laut Zunft- ordnung nicht, er ist ein Jungmeister.»
Niedergeschlagen trottete Johann heimwärts. Die Kramerin und Tochter Maria saßen bedrückt mit verheulten Augen am Küchentisch. Franziska brachte einen stark nach Pfefferminzlikör duftenden Kräutertee.
«Setzt dich zu uns», forderte ihn die Meisterin auf, «es tut uns so leid für dich, aber wo die Liebe hinfällt ...»
Umständlich putzte sich Frau Kramer die Nase. «Maria hat auch einen anderen Mann in Aussicht, allerdings keinen Maurermeister.» Sie schniefte und trocknete sich die Tränen.
Die Tochter nahm ihre Mutter in den Arm.
«Wir ziehen weg von hier, Luise und Alexander wollen das Haus für sich alleine haben. Außerdem meint mein arroganter Herr Schwager, wir passen dann nicht mehr zu seiner Familie», Maria seufzte, «Mein Zukünftiger, Levi Rosenbaum ist ein guter Mann, er nimmt uns alle auf. Ihm gehören der elegante Modesalon und das Kaufhaus Rosenbaum, du weißt schon, vorne am Marktplatz in Oppeln. Er wohnt alleine mit seiner Mutter über dem Laden in dem großen Haus. Wir werden am nächsten Samstag heiraten.»
Johann sah sie erstaunt an.
«Glückwunsch!» Er hatte wieder mal überhaupt nichts mitbekommen.
«Du bist herzlich eingeladen, jedoch nur zu einer Ziviltrauung auf dem Standesamt.»
«Wieso das?», fragte Johann verwirrt nach.
«Na weil Levi Jude ist. Ich habe zwar vor Wochen heimlich den Glauben meines Zukünftigen angenommen und heiße jetzt Miriam, aber richtig heiraten dürfen wir trotzdem nicht – weder jüdisch noch katholisch», erklärte Maria bedauernd.
«Nochmals herzliche Gratulation! Das kommt alles sehr überraschend, hast du dir das reiflich überlegt? Ist schon ein drastischer Schritt vom Katholizismus zum Judentum.»
«Ja, ich bin mir sicher, was solls, wir glauben doch alle an den gleichen Gott. Aber so richtig jüdisch werde ich trotzdem nicht. Das kann man nur sein, wenn man da hineingeboren wurde.»
Johann nickte zustimmend.
«Alles fällt auseinander, was wird nun aus uns?», deprimiert schaute er fragend zu Franziska. Sie tätschelte seine Hand: «Das wird schon, du ziehst einstweilen als Kostgänger mit ins große Haus in Oppeln. Dann sehen wir uns wieder öfters.»
«Aber ich wollte, bevor wir heiraten, im nächsten Frühjahr meinen Meister ablegen, damit ich dir etwas bieten kann.»
«Du musst mir nichts bieten! Vergiss einstweilen die Meisterschaft. Du bist ein fleißiger Mann, wir werden schon zurechtkommen. Rede nochmal mit dem Obermeister, vielleicht sucht jemand einen Einheimischen Gesellen[Fußnote 21] als Vorarbeiter. Dann heiraten wir.»
Johann nickte: «Wenn du meinst. Etliches habe ich mir ja schon zusammengespart.»
«Na, siehst du, es gibt immer einen Ausweg!»
So zog Johann mit in das prachtvolle Bürgerhaus nach Oppeln. Aber immer wenn er am Samstagabend in die winzige Dachkammer heimkam, wurmte es ihn. Was für ein Luxus, die große Wohnung über dem Laden war mit allen erdenklichen Kostbarkeiten ausgestattet. An den hohen Wänden hingen Gemälde von vielen berühmten Meistern.
Miriam hatte ihm erzählt, dass Levis Vater einer der reichsten Geschäftsmänner in Oppeln gewesen sei und in ganz Europa Kunstwerke gesammelt habe.
Nach dem frühen Ableben des Vaters stieg Levi Jehoschua Rosenbaum, er hatte in Breslau an der Friedrich-Wilhelm -Universität Recht und Philosophie studiert, in das weitverzweigte, seit drei Gerationen in Familienbesitz befindliche Handelsimperium der Rosenbaums ein. Levi übernahm selbstredend neben der Geschäftsführung auch dessen Passion als Kunstmäzen, setzte die Tradition da fort, wo sein Vater aufgehört hatte, alles, was er anpackte, wurde buchstäblich zu Geld unter seinen Händen.
Levi wollte Johann auch für die Kunst begeistern, aber es gelang ihm nicht. Das war nicht dessen Welt. Lediglich Franziska, die ab und zu beim Servieren aushalf, zeigte Interesse dafür.
Johann hatte seine Mühe mit den Bildern, manchmal wusste er nicht, was es darstellte - für ihn eine nutzlose Geldverschwendung. Maria, jetzt Miriam, hatte schon in eine exzentrische Familie eingeheiratet.
Johanna Esther Rosenbaum, Levis Mutter, unterhielt einen der vornehmsten Salons in Oppeln. Alles, was Rang und Namen hatte, die Damen der Geschäftsleute, Beamten und Offiziere, verkehrten bei Madam Esther, wie sie hinter vorgehaltener Hand genannt wurde. Sie hatte schon zu Lebzeiten ihres Mannes Künstler eingeladen. Maler, Schriftsteller, selbst Sängerinnen aus der Oper in Breslau waren gerne bei ihr zu Gast. Ihr Sohn Abraham Levi setzte die Tradition des Vaters fort. Seine frisch angetraute Frau Miriam, eiferte ihrer Schwiegermutter nach, versuchte sich als große Dame und lud vor allem junge Künstlerinnen ein.
Franziska, elegant gekleidet im fliederfarbenen engen Seidenkleid mit Rüschen, überbrachte Johann einen schwarzen graugestreiften Anzug, eine Weste und ein weißes Stehkragenhemd: «Hier, das soll ich dir von Miriam geben, deine Sonntagskluft ist heute Abend unpassend. Zieh das hier an.» Sie waren beide zu einer Soirée bei Madam Esther eingeladen.
Johann quälte sich in die enge Bügelfaltenhose, brachte sie mit müh und not zu. Als Franziska ihm den Kragen mit der Fliege schloss, meinte er zu ersticken: «Wie soll ich so den Abend überstehen?»
«Still, halt die Luft an, du bist jetzt ein feiner Herr.» Sie kicherte und gab ihm einen Klaps auf den Po.
«Aber, aber, junge Frau.»
Gemeinsam schritten sie Arm in Arm die Treppe hinunter.
«Ein komisches Gefühl, so elegant aufzutreten. Ich komme mir total fehl am Platze vor», unkte Johann.
«Was und mit wem soll ich reden?» Er fühlte sich unwohl, am liebsten würde er umkehren und sich in sein Zimmer verkriechen.
«Du musst nichts sagen, verkünde vor allem nicht jedem deine ehrliche Meinung. Ansonsten bin ich auch noch da.» Sie zupfte ihm die Fliege gerade.
Die junge Frau Elisabeth Dorothea Spiro[Fußnote 22], Tochter des Kantors der Breslauer Synagoge zum Weißen Storch, Abraham Baer Spiro, diskutierte gerne mit gleichaltrigen Leuten. Sie bemühte sich, Johann mit ins Gespräch einzubeziehen, aber vergeblich. Franziska blühte auf, beteiligte sich angeregt an den Unterhaltungen.
Elisabeth war im gleichen Alter wie sie, hatte sich einen Namen als Malerin erarbeitet, wurde als aufstrebender Stern am Kunsthimmel bezeichnet.
Obwohl Johann ihre Bilder, meist Bleistiftskizzen, gefielen, blieb er still, schaute aber interessiert zu, wie sie einige Gäste skizzierte. Auch ihren Bruder, ein begnadeter Künstler und in der Szene bekannt, lernte er kennen. Er hatte dessen Bilder, hauptsächlich Landschaften in Öl, schon in den Räumen der Familie Rosenbaum gesehen. Die Künstlergeschwister waren die einzigen, mit denen er zu guter Letzt ein paar Worte wechselte.
Einige der Speisen, die aufgetischt wurden, waren ihm unbekannt. Wie aß man diese und mit welchem Besteck? Er schielte zu seiner linken Tischnachbarin, einer jungen hübsche Malerin aus Cottbus, aber der erging es offensichtlich nicht besser als ihm.
Viele der aufstrebenden Menschen verkehrten in dem Salon von Madam Esther.
Ihre Schwiegertochter führte gemeinsam mit ihr vermehrt auch die nichtjüdische Gesellschaft ein. Manch einer war beleidigt, wenn er nicht eingeladen wurde.
Johann war froh, als der Abend zu Ende war, ihn zwickte und zwackte sein Abendanzug überall, trotzdem beneidete er die Künstler.
«Wenn ich so malen könnte, bräuchte ich nicht auf dem Bau schuften, verkehrte wie die feinen Pinkel in Salons und würde zwischendurch schnell im Atelier Farbkleckse auf eine Leinwand schmieren.» Aber leider hatte er dazu überhaupt kein Talent.
Levi zeigte ihm mit geschwellter Brust die teuren Neuerwerbungen, zwei Bilder von einem gewissen Wassily Kandinsky – einem jungen russischen Maler. Johann betrachtete irritiert die Striche und Farbkleckse.
Er brummte später zu Franziska: «Juden und Russen beherrschen die Kunst, sofern man diese Farb- schmierereien so bezeichnen kann. Über Tausend Mark hat Levi dafür bezahlt. Für so was gibt der so viel Geld aus – unverständlich. Und ich», grollte er, «von mir verlangt er für Kost und Unterkunft, dem kleinsten Zimmer unterm Dach fünf Mark im Monat! Die Juden verstehen schon, wie man zu Geld kommt. Andere hungern und die reichen Leute wissen nicht wohin mit ihrem Vermögen.»
Franziska teilte nicht seine Meinung: «Warum regst du dich darüber auf! Du musst es ja nicht bezahlen. Bist du etwa neidisch.»
Sie legte beruhigend ihren Arm um seine Schulter: «Uns geht es gut, haben doch alles, was wir brauchen.»
Immer noch leicht schmollend schüttelte er mit dem Kopf: «Du hast ja recht, es gibt Gott sei Dank Maler, wie Max Liebermann, der ist zwar Jude, aber er malt wenigstens so, dass ich es verstehe.»
Sie schaute ihn fragend an und er erklärte: «Sein Gemälde, der Kartoffelsammlerinnen, hängt hinten im Esszimmer. Levi hat es mir kürzlich gezeigt. Auch das Bild, oben im Treppenhaus, von Ludwig von Hofmann mit dem Titel Abendsonne, gefällt mir ausgezeichnet, da sieht man wenigstens, was es darstellt. Ist schon in Ordnung, wenn Levi Bilder sammelt, sonst würden ja die Maler verhungern.»
Ein in der Woche darauf folgendes Gespräch mit dem Obermeister der Innung ergab zwar keine Möglichkeit, die Meisterschaft in einem anderen Betrieb fertig zu führen, aber ein Jungmeister suchte verzweifelt einen guten Vorarbeiter. Das Maurergeschäft seines Vaters hatte einen großen Auftrag von der Königlich Preußischen Eisenhütte erhalten.
Am nächsten Tag in aller Frühe reiste Johann ab, Malapane war eine knappe Tagesreise entfernt.
«Wenn es glatt verläuft, bin ich bis heute Abend wieder zurück», flüchtig küsste er Franziska und sprang auf den wartenden Bauernkarren, mit dem er einen Teil der Strecke mitfahren durfte.
«Grüß Euch, ich bin Johann Scholty, der Obermeister schickt mich, ihr sucht einen Gesellen», stellte er sich vor und übergab sein Empfehlungsschreiben.
«Grüß Gott, junger Mann, ich bin Meister Joachim Bednarz. Soso, der Seitz sendet euch, dann hält er viel von dir, sonst empfiehlt der Niemanden. Du bist schon ein Einheimischer?»
«Ja, ich habe auch einige Mutjahre abgedient. Aber leider hat das nicht so geklappt, wie ich wollte.»
Nachdem Bednarz einen Blick auf das Schreiben geworfen hatte, meinte er: «Ich suche einen fleißigen Altgesellen der mir eine Kirchenbaustelle leiten kann.»
«Ich hatte schon einige eigene Baustellen bei Meister Eberhardt, allerdings noch keine Kirche.»
«Ist auch kein Hexenwerk!», der junge Mann grinste über seinen Scherz, «Wir bauen seit 1899 in Sczedrzik, etwa eine Stunde von hier entfernt, eine neue katholische Kirche im neoromanischen Stil mit Ziegelfassade. Diese ersetzt einen Vorgängerbau aus Schrotholz[Fußnote 23]. Dafür brauche ich einen Mann der sich gut mit Böhmischen Kappen[Fußnote 24], Ziegelbögen und sonstigen Zierrat aus Ziegeln auskennt. Wie Seitz schreibt, hast du damit in halb Europa Erfahrung gesammelt.»
«Ja ich habe in Böhmen, Italien und in Ostpreußen die verschiedensten Arten und Techniken der Backsteingotik erlernt.»
«Das ist hervorragend, ich versuche es mit dir als Vorarbeiter. Ich kann mich nicht mehr um alle Baustellen selber kümmern, der Betrieb ist in den letzten zwei Jahren enorm gewachsen.»
Bednarz strich sich über den kurz gestutzten Bart: «Wir haben in Sczedrzik eine Werkstatt eingerichtet und die Fundamente mit dem Unterbau erstellt. Das Ganze wird nichts Besonderes werden, ist ja nur eine kleine Dorfkirche, aber wir geben trotzdem unser Bestes. Johann, du wohnst als Kapo[Fußnote 25] im Dachgeschoss oberhalb der Werkstatt, da gibt es eine kleine Wohnung. In den nächsten vier Jahren sollte die Kirche fertig werden. Was sagst du dazu? Hier meine Hand – schlag ein und wir sind uns einig.» Der junge Meister, etwas älter als Johann, sah ihn fragend an und hielt ihm die Hand hin.
«Meister – es gilt!», er schlug ein.
«Abgemacht, wir sind uns einig. Ich fahre jetzt auf die Baustelle, du kommst gleich mit, nenn mich Joachim, wenn wir unter uns sind.»
Auf der kurzen Fahrt erzählte ihm sein neuer Arbeitgeber, ein großer, kräftiger blonder Hüne, mit leichtem Bauchansatz, dass er auch zum Schacht der Rechtschaffenden Fremden Gesellen gehört habe. Nach zwei Jahren war er vorzeitig in den väterlichen Betrieb zurückgekehrt, um hier seine Meisterschaft zu beginnen. Da sein Vater schwer krank war, bekam er eine Ausnahmegenehmigung. Vor knapp einem Jahr hatte er seine Meisterprüfung abgelegt. Seitdem leitete er das Baugeschäft alleine.
Manche haben schon Glück, warum ich nicht, haderte Johann mit seinem Schicksal.