Читать книгу Des Meisters Bartel verlorener Ring - Thomas Spyra - Страница 6
Anno 1725 - Vor dem Stadttor
ОглавлениеEs war schon eine traurige Gesellschaft, die da zum Rothenburger Tor hinauszog. Vorne weg ein Hund, schmutzig und zottelig, schon lange nicht mehr gestreichelt. Zwei Buben zogen eine einfache Holzkarre. Gleich dahinter drei schwarz verhüllte Gestalten, der Größe nach könnten es eine Frau und zwei Kinder sein. Eine Handvoll Frauen, alle in ihre Kopftücher gehüllt, schlossen sich dahinter an. Sie geleiteten den in einer schwarzen, grob zusammengezimmerten Holzkiste liegenden und vor drei Tagen verstorbenen Schneidermeister Johann Georg Bäumer weit vor das Stadttor hinaus hinter den neuen Friedhof.
Hier mussten sie schon drei ihrer Kinder, alle tot geboren und ungetauft, verscharren. Zwei Weitere waren im Alter von ein und zwei Jahren und schon getauft, vorne im Familiengrab der Bäumers begraben worden.
Ob der Meister mit Absicht oder aus Versehen vom Rattengift getrunken hatte, wurde nie offenbar. Jedenfalls galt er als Selbstmörder und diese Menschen durften nicht mit den ehrbaren Toten auf dem Friedhof bestattet werden. Der Gehilfe des Totengräbers hatte schon eine Grube ausgehoben und schnell wurde der einfache Holzsarg hinabgelassen und polternd mit Erde zugefüllt. Keine tröstenden Worte, keine Lieder, nur das stille Gebet der Witwe mit ihren zwei Kindern, einem Bub und einem Mädchen. Schon musste die Trauergesellschaft wieder den Rückweg antreten. Der Rat der freien Reichsstadt Windsheim, und besonders der Pfarrherr, bestimmten dies so.
Zuhause angekommen setzte sich Frau Anna Maria mit ihren Kindern Lena und Albrecht an den großen Tisch in der Werkstatt, um zu besprechen, wie es weiter gehen sollte. Zum Totenmahl war keine Zeit und außerdem hatten sie auch fast nichts mehr zum Essen. Seit der Meister vor über einem Jahr beim Einspannen der Pferde den Unfall hatte und auch alle Hilfe im Spital erfolglos blieb, war Schmalhans ständiger Gast im Hause Bäumer.
Die Flickschneiderei, welche die Frau Meisterin nun gemeinsam mit ihren Kindern weiter betreiben musste, lag im Erdgeschoss des Bürgerhauses in der Rothenburger Beigasse, gleich neben dem Kornmarkt. Alle Arbeit, auf den wenigen kleinen Äckern hinter der Winterung, die ihnen gehörten, und im Garten vor der Stadtmauer rechts neben dem Rothenburger Tor, sehr günstig im Wallgraben am Gänsbrunnen gelegen, lagen nun schon seit Wochen in den Händen der Witwe, ihrer sechsjährigen Tochter und dem vierzehnjährigen Sohn.
Das Dienstpersonal und den Schneidergehilfen konnten sie sich schon im letzten Jahr nicht mehr leisten. Nur die Küchenmagd, Lisa Scheitacker, hatten sie behalten.
Laut dröhnte der Türklopfer durchs Haus.
»Wer kann das sein? Geh, Albrecht schau´ mal nach! Sag ich will jetzt keinen mehr sehen«, forderte Anna Maria ihren Sohn auf. Albrecht ging zum Öffnen und begrüßte den Schreiber des Stadtrats, einem dürren, ungepflegten Mann mit immer schwarzer Zunge und Lippen vom Anlecken der Schreibfeder.
»Grüß Gott, Herr Stadtschreiber.«
»Grüß dich Gott, ist deine Frau Mutter da? Ich komme in einer wichtigen Angelegenheit!«
»Entschuldigung, Herr Schreiber, ihr geht´s nicht so gut. Sie will heute niemand mehr sehen.«
»Das ist mir egal! Ich muss mit deiner Mutter sprechen! Und zwar sofort, der Rat hat es befohlen!«
»Dann kommt halt in Gottes Namen herein«, rief die Mutter aus dem Hintergrund, »was führt euch zu uns.«
»Der Herr Oberrichter von Keget schickt mich um euch sein Beileid zu übermitteln und mitzuteilen, dass euch die Zunft eine Frist von drei Jahren einräumt, das ist eine angemessene Zeit, meinte der Rat zum Abwickeln der Geschäfte. Wie ihr wisst, dürft ihr als Witwe den Laden und die Schneiderwerkstatt nicht weiterführen. Der Herr Oberrichter ist euch wohl gesonnen und wird euch bei der Suche nach einer Anstellung als Dienstmagd in einem der Bürgerhäuser behilflich sein.«
Der Schreiber schnaufte tief durch und fuhr fort:
»Solltet ihr dieses Angebot nicht annehmen, so bleiben euch noch diese drei Jahre, um entweder zu den Euren nach Lenkersheim zu gehen oder ihr findet einen neuen Mann. Auch da lässt euch der Herr Oberrichter ausrichten, könne er behilflich sein. Ihr seid ja tüchtig und gesund und könntet für manch ehrbaren Bürger auch noch eine ganz brauchbare Partie abgeben. Die beiden Kinder sind bestimmt kein Hindernis, in dem Alter kann man sie auch schon in Dienste geben, sollte der neue Mann sie nicht wollen.«
Frau Bäumer wusste nicht, wie ihr geschah, hatte sie doch zu dem Verlust ihres geliebten Mannes schon die Not im Haus; und jetzt drohte man ihr auch noch mit der Ausweisung aus der Stadt. Das war zu viel, ihr drehte sich alles und sie musste sich auf den Stuhl setzen.
Dem Stadtschreiber war diese ganze Angelegenheit offensichtlich unangenehm, er verabschiedete sich eilig nur mit einem leichten Kopfnicken.
Die beiden Kinder schmiegten sich an ihre Mutter und alle drei weinten sich mit knurrendem Magen in den Schlaf.
Zurück auf den elterlichen Hof? Nein! Den bewirtschaftete jetzt ihr Bruder und der hatte schon immer etwas gegen den »armen Schneider« gehabt, der ihrer doch so unwürdig gewesen sei. Eine reiche und hübsche Bauerstochter wie sie war doch nicht auf so einen Hungerleider angewiesen, sie hatte etwas viel Besseres verdient.
Ihre Eltern hatten auch schon mit einem großen Bauern aus dem Nachbardorf Ipsheim gesprochen. Das wäre eine gute Partie gewesen, der einzige Erbe. Aber er war halt schon ein bisschen alt, zu alt wie Anna Maria gemeint hatte. Sie hatte sich ihren zukünftigen Mann in ihren Träumen anders vorgestellt.
Auf der Kirchweih in Windsheim hatte sie ihren Traummann gesehen und sich sofort in den Unbekannten verliebt. Hinten am Schützenhaus sah sie ihn das erste Mal. Ein gut aussehender stattlicher Mann, vornehm gekleidet.
Antonia, eine Freundin von ihr, stellte sie einander vor. Er brachte kein Wort heraus, starrte sie nur an und stotterte seinen Namen.
»Johann Georg Bäumer aus Windsheim, ein Schneidermeister«, hatte Antonia wiederholt und beide verstehend angegrinst.
Anna Maria war sofort von ihm verzaubert gewesen. Da er schüchtern und kein großer Redner war, musste sie ihm fast jedes Wort aus der Nase ziehen.
Das kann ja heiter werden, dachte sie damals bei sich. Er hatte eine gut gehende eigene Werkstatt mit mehreren Gesellen, vom Vater, der vor einigen Jahren gestorben war, geerbt. Die Bäumers waren eine angesehene Handwerkerfamilie in Windsheim und hatten es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht.
Für beide war es Liebe auf den ersten Blick. Sie ließen keinen Tanz mehr aus. Georg brachte Anna Maria erst spät abends nach Hause. Heimlich hatten sie sich dann später immer vor dem Dorf, auf halben Weg nach Windsheim, getroffen. Ihn hatte sie gewollt, sonst keinen anderen.
Aber da waren die Eltern und die Verwandtschaft. Alle hatten sie vor einem Schneider, noch dazu einen aus Windsheim, gewarnt. Ihre Mutter hatte gewollt, dass der Vater sie enterbe, aber sie hatte dennoch eine kleine Mitgift erhalten und die Eltern waren trotzdem zu ihrer Hochzeit gekommen. Wenigstens da hatte sich ihr Vater durchsetzen können.
Die Lenkersheimer und die Windsheimer konnten sich seit Vorzeiten nicht leiden, warum, wusste allerdings fast keiner mehr so richtig. Wahrscheinlich mitgeerbt über mehrere Generationen. Die Windsheimer Bürgerwehr hatte die damalige freie Reichsstadt Lenkersheim im Städtekrieg 1381 wegen des Raubrittertums überfallen und die Burg zerstört. Nach der Niederschlagung eines Bauernaufstandes 1452, als den Lenkersheimern das Stadtrecht aberkannt wurde, hatten die Nachbarn aus Windsheim auch noch bei der Schleifung der Stadtbefestigungen mitgeholfen. Seitdem gingen sich die Bewohner der beiden Ortschaften lieber aus dem Weg, obwohl sie ja nur eine gute halbe Stunde zu Fuß auseinanderlagen.
Nein, zurück niemals! Diese Genugtuung gab sie der Verwandtschaft nicht. Dann lieber doch eine Stelle als Dienstmagd. Vielleicht nicht gerade in Windsheim. Weit weg, in Ansbach oder Würzburg vielleicht.
Anna Maria lag in dieser Nacht noch lange grübelnd wach im Bett. Was werden die Jahre ihr bringen? Wie soll´s weiter gehen?
Am nächsten Morgen, man schrieb den 28. August Anno 1725, hatten sie eigentlich alle gemeinsam zur Kirchweihe gehen wollen. Johann Georg hatte endlich wieder einmal einen großen Auftrag bekommen. Die Tücher an der Festtribüne und die Fahnen für die Wiedereinweihung der Seekapelle hatte er noch angefertigt.
Lena gehörte zu den Fahnenjungfern und hatte in ihrem weißen Kleidchen schon tagelang geprobt. Beide Kinder hatten sich schon so darauf gefreut. Und nun diese Trauer.
Schon in der Frühe kam der Schulmeister vorbei, sie solle doch mit ihren Kindern trotzdem auf das Fest kommen.
»Wir brauchen eure Magdalena, Frau Bäumer. Auch wenn es schmerzt, ich kann es ja verstehen. Lasst den Kindern doch ihre Freude. Eure Tochter singt so schön, es wäre schade, wenn sie nicht teilnehmen könnte.«
Der Lehrer war doch etwas verlegen, wusste nicht so recht, was er noch sagen sollte. Warum nicht, das Leben muss weiter gehen, seufzte Anna Maria innerlich.
»Also gut, der Kinder wegen, aber ich setze mich nicht mit vorne hin.«
»Gut, abgemacht. Bis später dann.«
Damit verschwand er schnell wieder.
Nachdem die Seekapelle in den letzten Jahren fast ganz zerfallen war, wurde sie nun wieder festlich eingeweiht. Nach längeren Bauarbeiten hatte man das Gotteshaus grundlegend renoviert. Besonders Oberrichter Georg Wilhelm von Keget, der gleichzeitig der Kirchenpfleger war, hatte es sich etwas kosten lassen und einen großen Teil der Summe für den Bau übernommen.
Orgel, Altar, Stühle und Fenster erstrahlten im neuen Glanz. Viele Stuckarbeiten hatte er nach der neuesten Mode anbringen lassen.
Nach dem Festgottesdienst und dem heiligen Abendmahl sangen die Schulkinder der deutschen Schule und des Gymnasiums abwechselnd einige Lieder zu Gottes Lob.
Die neue Kirchenfahne wurde feierlich von den Kindern hereingetragen und vom Pfarrer geweiht. Später saß man dann in gemütlicher Runde zusammen.
Aber die Bäumers waren da bereits nach Hause gegangen.