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Anno 1726 - Von den Bürgerrechten

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Andreas Christoph Bartel, ein großer, kräftiger Mann mit glatten schwarzen Haaren, schritt schnell von der Frankenhöhe herunter. Vor ihm lag die Freie Reichsstadt Windsheim im Abendlicht. Viele Türme ragten hinter der Stadtmauer auf. Sein Meister und Freund, Herrenschneider- und Zeugmachermeister in Nürnberg, hatte ihm den Rat gegeben, doch in Windsheim zu versuchen eine eigene Werkstatt zu eröffnen. In Nürnberg gab es davon schon viel zu viele. Die Zunftherren würden sicher keinen neuen Meister, noch dazu einen Fremden, mehr zulassen.

Christoph war 1695 in Quedlinburg, der im nördlichen Harz gelegenen Königspfalz und Freien Hansestadt, geboren. Die Stadt wurde besetzt und stand nun seit 1698 unter brandenburgisch-preußischer Verwaltung.

Seit er auf seiner Wanderzeit im Fränkischen angelangt war und bei Meister Brunner seine Gesellenjahre abgedient und die Fertigkeiten eines Meisters erlangt hatte, drängte es ihn nach einer eigenen Werkstatt. Er hatte einiges ansparen können, nicht viel, aber es würde für den Anfang reichen, dachte er. Zurück nach Hause zog es ihn nicht. Das Leben in einer freien Reichsstadt fand er angenehmer. Hier herrschten keine absoluten Fürsten wie in seiner Heimatstadt. Jeder konnte sich etwas aufbauen, wenn er sich anstrengte und die richtigen Verbindungen besaß. Er musste sich beeilen, bald würde es dunkel werden und dann werden die Stadttore wie in jeder befestigten Stadt geschlossen. Er eilte auf das nächste Tor hinter einem kleinen See zu, entrichtete seinen Obolus bei der Stadtwache und fragte auch gleich nach einer geeigneten Herberge für die Nacht. Dort hinter der Kapelle Marie am See, im Gasthaus Zum Birnbaum, soll man billig und gut unterkommen, wies ihm einer der Soldaten den Weg.

Am nächsten Morgen, nach einem reichlichen und preiswerten Frühstück machte er sich auf und ging zum Rat der Stadt. Der Gehilfe des Stadtschreibers hörte sich sein Begehren an und brummte, er solle am nächsten Tage wieder kommen, der Herr Schreiber sei im Moment beschäftigt.

Am nächsten Tag hieß es wieder das Gleiche, der Herr Stadtschreiber sei zu beschäftigt.

Christoph hatte viel Zeit und bummelte durch die belebte und geschäftige Stadt. Der Sohn des Stadtmaurermeisters Krauß, Johann Michael, den er zufällig traf, begleitete ihn und erklärte ihm voller Stolz einiges. Er schwärmte davon, dass er später auch einmal so große und schöne Häuser bauen möchte wie sein Vater.

Windsheim, kein Vergleich zu Nürnberg, auch Quedlinburg seine Heimatstadt, sowie die Städte Leipzig, Weimar und Bayreuth, die er auf seiner Wanderschaft kennengelernt hatte, waren größer und interessanter. Doch es war ein sauberer und überschaubarer Ort. In einer guten Stunde konnte man ihn bequem zu Fuß umrunden. Überall vor den Toren der aufstrebenden Stadt legten Arbeiter die Sümpfe trocken, bereiteten neue Äcker vor oder bauten neue Häuser.

So hatten die Bürger sich vor fast neun Jahren ein neues schlossartiges Rathaus bauen lassen. Viel zu groß für so eine kleine Stadt. Alles im neuzeitlichen Markgräflich-Ansbacher Baustil, nach italienischer Mode. Mit einem riesigen »Kaisersaal« von 27 Ellen in der Länge und 11 1/2 Ellen in der Breite und Höhe. Vielleicht kam der Kaiser ja wieder einmal vorbei. Man sparte auch nicht mit reichem Stuck und vielen Verzierungen. Nach den Plänen des bekannten Baumeisters Gabriel de Gabrieli wurde durch den Ansbacher Maurermeister Michael Aspacher und dem Graubündner Polier Giovanni Rigaglia der Bau errichtet.

Auch die Seekapelle, an der er gestern Abend vorbei kam, war wieder wunderschön instand gesetzt worden. Vor ungefähr 300 Jahren hatte man die gotische Kapelle an einem damals noch vorhandenen See errichtet. Zwei Frauen erzählten ihm im Vorbeigehen, dass vor einem guten Jahr erst die Wiedereinweihung gefeiert worden war. Den Turm hatte man sehr aufwendig wieder mit bunten Ziegeln eingedeckt.

Der Stadtmaurermeister hatte lange mit den Ziegelbrennern an den Farben herumexperimentiert. Wie bei einem Tonkrug wurden die Farben mit Engoben, das sind dünnflüssige Tonschlicker, aufgebrannt.

Auf seine Frage, woher der Reichtum der Stadt käme, erklärten sie ihm, dass es um die Stadt Windsheim viele Gips- und Alabastergruben gäbe. Im weiten Land ringsum wurde das begehrte teuere Baumaterial verkauft. Besonders der neue Baustil des Barock, mit vielem Stuck und künstlichem Marmor ließ die Kassen klingeln. Die Kaufmannsfamilie von Keget handelte hauptsächlich damit und wurde dadurch reich.

In Ansbach ließ der Markgraf viele neue Gebäude und ein prunkvolles Schloss erbauen. Auch in Würzburg und Bamberg gaben die Fürstbischöfe Unmengen an Geld für neue Residenzen und Paläste aus. Der Würzburger Baumeister Balthasar Neumann arbeitete gerne mit viel Stuck und Marmor aus Windsheimer Gipsgruben.

Der große Krieg war nun schon seit über 80 Jahren zu Ende gegangen und hatte viel Leid und Armut für alle gebracht. Jetzt lebten zwar wieder über 2.000 Einwohner in 510 Haushalten, aber immer noch stand etwa ein Drittel der Wohnhäuser in Windsheim leer.Nun war wieder Überfluss vorhanden, man konnte wieder im Prunk schwelgen. Zumindest die reichen Bürger und Fürsten. Das eine oder andere Gebäude wurde abgerissen, um mehr Platz in der Stadt zu bekommen. Die armen Bauern und Handwerker jedoch mühten sich wie jeher um ihr tägliches Brot.

Nach einigen Tagen, die Geldkatze von Christoph wurde immer schmaler, sollte er endlich zum Herrn Bürgermeister vorgelassen werden.

Wieder im Rathaus angekommen, musste er allerdings vom hochmütigen diensteifrigen Stadtschreibergehilfen vernehmen, dass nur wohlhabende Meister das Bürger- und Zunftrecht in Windsheim erlangen könnten. 60 Gulden Bürgeraufnahmesteuer waren zu bezahlen und ein Vermögen von mindestens 6oo Gulden musste nachgewiesen werden. Soviel hatte er sich bei aller Bescheidenheit in den letzten acht Jahren in Nürnberg nicht zusammensparen können.

»Wenn ihr das nicht zahlen könnt, so müsst ihr es, wo anders versuchen. Hungerleider haben wir genug in Windsheim«, erklärte ihm der arrogante Schreibergehilfe.

Mutlos verließ er das Rathaus und trank sich im nahen Brauereiwirtshaus einen gewaltigen Rausch mit dem guten, süffigen, dunklen fränkischen Bier an. Der gutmütige Wirt hatte Mitleid mit ihm und ließ ihn hinterm Stall ausschlafen. Als Fremder am Tag betrunken, da hätten ihn die Stadtschergen sicher gleich ins Gefängnis geworfen.

Am nächsten Morgen holte er seine Sachen aus dem Gasthaus Birnbaum, frühstückte noch ausgiebig, und machte sich wieder auf die Wanderschaft.

Mit schnellen Schritten aus der Stadt hinaus. Hinter dem Seetor bog er um den Wallgraben nach Süden ab, Richtung Rothenburg oder Dinkelsbühl, er wusste nicht so recht, wo er hin sollte. Durch Gärten und Felder kam er nach kurzer Zeit an einen Weiher. Eine Bank neben einem Steinkreuz lud hier zum Verweilen ein. Er setzte sich. Von hier hatte er einen herrlichen Blick über den See zur Stadt Windsheim.

»Hier wäre ich gerne geblieben«, murmelte er vor sich hin. Das neu errichtete Rathaus und auch der Turm der Seekapelle glänzten im Sonnenlicht. Die waren schon reich, diese Städter. Aber was soll´s? Woanders kann es auch schön sein.

Er zog sein Pfeiferl aus der Tasche hervor und spielte sich ein lustiges Lied. Nach einer kleinen Weile stand er auf und zog fröhlich seines Weges. Nach Rothenburg hatte er sich entschieden. Vielleicht wartete dort das Glück auf ihn.

Nicht weit vor ihm zog ein klappriger Gaul, an den Zügeln gehalten von einer zerlumpten Gestalt, einen eisernen Pflug hinter sich her. Die Furchen wanden sich alle krumm von einem Ende des Ackers zum Anderen. Offensichtlich beherrschte die Person das Pflügen nicht so richtig. Sein Weg führte ihn an dem Feld vorbei. Er hörte ein jämmerliches Schluchzen, nur unterbrochen von Befehlen an das Pferd. Dieses interessierte sich dafür nicht, es verfolgte stur seinen eigenen Weg.

»Was ist mit euch, kann ich euch helfen«, rief er hinüber.

»Nichts, lasst mich in Ruhe, Herr«, antwortete eine kindliche Stimme heulend.

Besorgt sprang er über den Ackerrain hinüber und sah ein Mädchen, das sich redlich mit dem Pferd und dem schweren Pflug abmühte.

»Warum pflügst du hier so alleine?«, wollte Christoph wissen.

»Jemand muss es ja machen«, brummte das Kind ärgerlich vor sich hin.

»Komm lass dir helfen, ich habe Zeit.«

Erschrocken über dieses Angebot eines Fremden, Mutter hatte immer gesagt, sie solle vorsichtig sein mit Leuten, die sie nicht kannte, wehrte sie ab.

Sie wendete den Pflug wieder und dabei fiel das schwere Arbeitsgerät um. Nun war es ganz vorbei mit ihrer Kraft. Sie ließ sich auf die letzte Ackerscholle fallen und heulte los. Der Fremde legte behutsam seinen Arm um sie. Das Mädchen zuckte zusammen. Sofort ließ er den Arm fallen und rutschte von ihr weg.

Er sah ja ganz freundlich aus mit seinen schwarzgelockten Haaren und dem verschmitzten Lächeln, aber er war halt ein Fremder, und Fremden soll man nicht trauen.

»Ich kenne euch nicht! Wer seid ihr?«, stotterte Lena zaghaft.

Mit einer eleganten Verbeugung zog er seinen Hut. Gerade so als hätte er eine große Dame vor sich, stellte er sich vor:

»Ich bin der Andreas Christoph Bartel und komme aus Nürnberg.«

»Was wollt ihr dann hier«, warf das Mädchen dazwischen.

»Ich war auf der Suche nach einer eigenen Werkstatt in Windsheim.«

Das Mädchen lachte kurz auf, dabei schaute sie ihn spöttisch an.

»Und warum wandert ihr dann hier vorbei?«

»Ging leider nicht. Euer Stadtrat verlangt viel Geld dafür. Mehr als ich besitze. – Aber sag, wer bist denn du?«

»Ich, ich bin die Kunigunde Magdalena Bäumer. Aber alle sagen nur Lena zu mir. Ich soll diesen ganzen Acker bis heute Abend pflügen, aber ich habe keine Kraft mehr, und hungrig bin ich auch«, heulte da Lena weiter.

»Hier!«

Der Fremde hielt ihr ein Stück Brot hin. Gierig nahm sie es, biss hinein, und stockte.

»Ich soll nichts von Fremden annehmen!«

»Nun iss einfach erst einmal, dann werden wir weiter sehen.«

Christoph stand auf, nahm die Zügel in die Hand und fing an zu pflügen. Ganz schön schwer, für ihn ungewohnt. Seine Eltern hatten einen kleinen Hof bewirtschaftet, da mussten sie auch als Kinder feste mit anpacken. Doch sein älterer Bruder hatte alles geerbt. Er selbst bekam genug Geld um eine fünfjährige Lehrzeit bei einem Schneidermeister zu beginnen. Wann war er zuletzt zu Hause gewesen? Leben die Eltern überhaupt noch? Über vierzehn Jahre war dies nun schon her. Ich sollte ihnen einmal schreiben, es gab ja jetzt in fast alle Städte eine Post oder einen Kurier, auch für private Briefe.

»Hü«, schrie er nach der nächsten Wendung und schon flog er im hohen Bogen in den Dreck, und der Gaul schleifte ihn über den ganzen Acker mit. Christoph pflügte mit der Nase im Dreck. Er hing mit seinem Jackenärmel am Pflug und konnte sich nicht lösen.

»Brrrr, ...Brrrrr«, vor lauter Lachen konnte Lena fast nicht schreien. Das Pferd blieb abrupt stehen und er konnte sich vom Pflug lösen. Er stand vorsichtig aber unverletzt auf, und schaute an sich hinunter. Ja wie sah er denn aus? Alles voll Dreck und Schlamm.

Zuerst kicherte Lena verlegen und dann prustete sie schallend los, und er, er lachte mit. Am nahen See konnte er sich halbwegs reinigen. Nachdem Lena fertig gegessen hatte, pflügten sie bis zum Abend gemeinsam weiter.

Sie hatten viel Spaß miteinander. Christoph erzählte lustige Geschichten. Dazwischen trällerten sie gemeinsam einige fröhliche Lieder.

Das Läuten von der Stadtkirche rief bereits zum Abendgebet, höchste Zeit um nach Hause zu gehen. Lena zögerte, als sich Christoph am Wegekreuz von ihr verabschieden wollte. Sollte sie ihn fragen? Ach ja.

»Komm mit mir mit, Mutter wird sich bestimmt freuen, und ein Bett haben wir auch noch für die Nacht.«

Zögernd nahm Christoph an. Um nach Rothenburg zu kommen, war es jetzt sowieso schon zu spät.

So richtig schön recht schaffend müde zogen beide langsam in Richtung Stadt. Mit kräftiger Hand führte er das Pferd am Zaum. Lena achtete nicht auf den Weg und stieß sich öfter die Zehen an. Die Schuhe, die ihr Vater angefertigt hatte, waren schon längst zu klein, und so trippelte sie barfuß schnell hinter ihm her.

Am Tor entrichtete er nochmals den Stadtzoll an die Stadtwache.

Lena führte ihn fast bis zur Stadtmitte, nicht weit vom Rathaus entfernt, in ein schönes Haus. Zwar etwas in die Jahre gekommen, aber mit einem neuen Anstrich könnte es bestimmt wieder ein Schmuckstück werden. Das Erdgeschoss aus Steinen gemauert und verputzt, die Obergeschosse aus Fachwerk, reich verziert, mit vielen Fenstern. Über einen, mit einem großen Tor verschlossenen Hof, kamen sie nach Hinten. Das große, ziegelgedeckte Tor verschloss den Zugang zu dem Hof, der in einem kleinen Vorplatz endete. Rechts war ein bescheidenes Stallgebäude, weiter hinten eine große Scheune. An der Rückseite des Hauses war über alle drei Geschosse eine ziegelgedeckte Altane mit Treppenaufgang und in jedem Stockwerk ein Abtritt angebaut.

Sie stiegen in den ersten Stock hinauf und Lena rief ihrer Mutter zu:

»Mutter ich habe einen Gast, den Christoph, mitgebracht, er bleibt zum Essen und für die Nacht.«

»Was hast du?«, rief ihre Mutter ihr entsetzt entgegen.

Sie war alles andere als begeistert von dem fremden Mann. Nachdem Lena ihr aber erzählt hatte, wie Christoph ihr geholfen hatte und dabei in den Schmutz gefallen war, ließ sie sich erweichen und bat den Fremden herein.

»Na dann kommt herein. Lena wird euch zeigen, wo ihr euch säubern könnt, und später nach dem Kirchgang kommt ihr mit an den Abendbrottisch. Viel haben wir nicht. Aber für ein Stück Brot mit Käse für euch wird es auch noch reichen.«

»Danke, vergelts euch Gott. Ich möchte euch keine Unannehmlichkeiten bereiten. Ich kann auch ins Wirtshaus gehen.«

»Nein, nein, es macht nichts, kommt nur herein.«

Seit über einem Jahr war nun ihr Georg tot und sie war mit den Kindern allein in dem Haus. Was werden die Nachbarn denken? Na gut, für eine Nacht und es wird ja jetzt schon kalt in der Nacht. So mag er in der Werkstatt schlafen, überlegte sie sich.

Nach dem Abendgebet in der nahen Stadtkirche St. Kilian, er saß natürlich weit von ihnen weg und sie gingen auch getrennte Wege zurück, setzten sie sich gemeinsam an den Abendtisch. Das Wenige, was Anna Maria vorsetzte, ergänzte Christoph durch seinen Reiseproviant. Brot, etwas Schinken und einen Krug Bier, den Johann Albrecht im nahen Brauhaus auf Geheiß der Mutter holte. So gut hatten sie schon lange nicht mehr gegessen.

Nach dem Abendbrot gingen die Kinder bald ins Bett. Anna Maria nahm ihr Nähzeug und besserte noch einige Kleidungsstücke aus. Christoph setzte sich zu ihr und trank den Rest des dunklen fränkischen Bieres.

»Lasst mich euch helfen«, sagte er und nahm ihr den Mantel aus der Hand.

»Könnt ihr das denn? Das ist doch Frauensache.«

»Aber ja, ich bin gelernter Schneider, hauptsächlich Uniformschneider und Zeugmacher. Nähen ist mein Beruf. Meist sind die schweren Soldatensachen noch viel fester als dieser dünne Mädchenmantel.«

»Ach, ihr seid ein Schneider? Was verschlägt euch nach Windsheim, ich habe euch hier noch nie gesehen?«

»Ich komme aus Nürnberg und wollte hier meine eigene Werkstatt aufmachen. Aber der Rat der Stadt hat mich abgewiesen, da ich die geforderte Summe nicht aufbringen kann.«

»Mein Mann, Gott hab´ ihn selig, war auch Uniformschneider und gelegentlich auch Herrenschneider. Die großen Herren vom Rat und auch die Meister haben bei ihm fertigen lassen. Wir hatten ein gutes Auskommen. Unser Haus haben wir von einer Witwe gekauft, und auch ein paar Äcker konnten wir dazu erwerben. Fast alles konnten wir schon beim Oberrichter Keget abbezahlen. Bis, ja bis, mein Mann den Unfall hatte.«

Hier schnaufte die Frau tief durch, fing sich aber gleich wieder.

»Die rechte Hand und der rechte Arm kaputt, nicht mehr zu gebrauchen. Wir hielten uns einige Zeit mit Flickschneiderei über Wasser. Georg ging immer ins Spital, aber die Nonnen konnten ihm auch nicht helfen. Die Schwermut kam dazu und er ging nun immer häufiger auch ins nahegelegene Wirtshaus.

Immer öfters brachte ihn spät abends der Nachtwächter nach Hause. Wie soll er uns versorgen? Was wird aus uns? Ständig stellte er sich diese Fragen. Und dann, dann fand die kleine Lena ihren Vater auf dem Boden der Werkstatt liegen. Tot. Eine Flasche Rattengift daneben. Selbstmord, Unfall? Für den Pfarrer war es Selbstmord. Keine Beerdigung, unwürdig verscharrt, hinter dem Friedhof.«

Ihr liefen die Tränen übers Gesicht, gerne hätte er sie in den Arm genommen. Aber er traute sich nicht, wollte die Situation nicht ausnutzen.

»Das tut mir leid. Aber immer diese selbstherrlichen Pfarrherren. Vor Gott ist doch jeder Mensch gleich. Zumindest hat dies auch der Dr. Luther in seinen Schriften geschrieben. Ich weiß sowieso nicht wer dies entscheiden soll, ob der katholische oder der evangelische Glaube der Richtige ist. Jedenfalls steht davon in der Bibel nichts drin. Ich halte nichts von den Kirchen. Jeder kann direkt zu seinem Gott beten, so jedenfalls haben wir das in Nürnberg gemacht.«

»Ach, ihr seid ein Freigeist, gar ein Ketzer. Lasst das aber nicht unseren Pfarrer, den Herrn Dekan Johann Georg Speier, hören. Es wurde zwar vom Rat im letzten Jahr ein Erlass herausgegeben, dass die Pfarrer in ihren Reden nicht mehr auf andere Religionen schimpfen dürfen, jeder Mensch solle gleichbehandelt werden, aber von Ketzern steht da nichts drin. Er lässt euch bei solchen Reden mit Schimpf und Schande aus der Stadt jagen. Früher wärt ihr dafür bereits auf den Scheiterhaufen gekommen. Auch hier bei uns, bei den Evangelischen.«

»Nein, ich sag dies ja auch nur zu euch, ich denke ihr seid eine moderne, aufgeschlossene Frau.«

Wie er später erfuhr, hatte man in Windsheim erst vor rund 120 Jahren die letzten 25 Frauen als Hexen verbrannt.

Abrupt stand sie auf.

»Ihr könnt in der Werkstatt unten schlafen, aber macht kein Licht wegen der Nachbarn! Gute Nacht.« Schnell verschwand sie nach oben.

»Gute Nacht! Und nochmals vielen Dank, dass ich bei euch übernachten darf.«

»Ja, ja, ist schon recht so, morgen früh nach dem Garaus-Läuten, ich hoffe ihr wisst, was das ist, gehen wir erst einmal in die Kirche.«

»Ja, ich weiß, was das ist, das Ende der Nacht. In Nürnberg gilt die gleiche Zeit. Hier gehen die Uhren halt ein bisschen anders«, setzte er schmunzelnd hinzu.

Dies war eine Anspielung auf die besondere Zeiteinteilung, die es nur noch in den Reichsstädten Nürnberg, Regensburg, Rothenburg, Schwabach und Windsheim gab.

Die sogenannte Große Uhr oder auch Nürnberger Uhr war im Mittelgiebel des Rathauses in Windsheim unterhalb der astronomischen Uhr installiert worden.

Hierbei wurde der ganze Tag in 24 gleich lange Stunden eingeteilt. Die Arbeitszeit, das ist gleich die Tageszeit, dauerte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Je nach Jahreszeit änderte sich aber die Anzahl der sogenannten hellen und dunklen Stunden. Am Ende der Nacht und am Ende des Tages wurde dann jeweils zum Ausgang groß geläutet - den Garaus. Danach fing man wieder bei Null zu zählen an. Zur Sommersonnenwende waren es dann 16 Stunden Tag und 8 Stunden Nacht; zur Wintersonnenwende genau umgekehrt. Es gab genaue Tabellen, eingeteilt in die Tagleng und die Nachtleng, damit der Glöckner wusste, wie er läuten sollte.

Und so läutete die Glocke jetzt im Herbst auch sechsmal zum Mittag und nicht wie in den meisten anderen Ortschaften zwölfmal.

Als er auf seiner Wanderschaft nach Nürnberg kam, hatte er am Anfang immer Probleme mit dieser eigentümlichen Zeitrechnung aus der alten Zeit. Alle anderen Städte und Dörfer hatten schon auf die neue Zeit umgestellt.

Christoph stolperte nach unten. Viel konnte er nicht sehen im fahlen Mondschein. Es war eine schöne große Werkstatt mit direktem Ausgang zur Gasse. Hier konnte die Kundschaft hereinkommen und dem Meister mit seinen Gesellen bei der Arbeit zusehen. Müde bettete er sich auf einen Haufen mit alten Kleidern und schlief sofort ein.

Anna Maria konnte lange nicht einschlafen. Sie dachte viel über ihr Leben nach. War das alles? Mit 43 Jahren alles vorbei? Wie soll es weiter gehen? Noch etwas mehr als ein halbes Jahr und sie musste eine Entscheidung treffen, wohin sollte sie?

War schon ein fescher Mann, da unten in der Werkstatt. Vielleicht etwas jünger als sie, zu jung? Wie hatte der Stadtschreiber zu ihr gesagt: »Oder ihr findet einen neuen Mann.«

War das die Lösung? War das Gottes Fügung? Aber ich kann ihn doch nicht einfach fragen - oder? Sie kam zu keinem Ergebnis. Was sagen die Kinder, die Nachbarn. Ach was soll´s. Morgen nach der Kirche frage ich ihn. Ich hoffe, er bleibt noch so lange.

Ein herrlicher Morgen, die Sonne lachte, obwohl es schon ziemlich kühl war, es war ja bereits später Herbst. Wahrscheinlich wird es einen frühen Winter geben.

Der Fremde hatte wieder sein Bündel geleert und teilte mit ihnen das Frühstück.

Heute war Sonntag und Markttag, Martinimarkt. Alle Glocken läuteten, riefen zum Gottesdienst. Anna Maria und Christoph stiegen gemeinsam die Treppen zum Lutherplatz hinauf.

»Ich hoffe, ihr seid auch vom rechten evangelischen Glauben, dann könnt ihr mit uns gehen, ich sage den Leuten halt, ihr seid ein entfernter Verwandter.«

»Ja freilich, und es ist schon recht so, wenn ihr es sagt. Aber am Nachmittag lade ich euch alle zu einem Marktrundgang und zu einem guten Krug Bier ein. Und dann mache ich mich auf nach Rothenburg. Ich denke, wenn ich schnell ausschreite oder vielleicht bei jemand mitfahren kann, komme ich noch vor dem Abend dort an.«

»Bei Bentheimers, drunten in der Langen Gasse, gibt es eine Postkutsche«, rief Lena dazwischen.

»Das ist mir zu teuer und ich bin es gewohnt zu laufen«, meinte Christoph.

Nach über zwei Stunden Sitzen in der Kirche tat es gut auf den Markt hinauszutreten. Der Pfarrer hatte heute über den Heiligen Martin von Tours, den Namensgeber dieses Tages, gepredigt. Vor allem soll man maßhalten und teilen, sich nicht der Völlerei hingeben. Hatte doch die Unsitte überhandgenommen das jeder, der es sich leisten konnte, eine gebratene Gans, eine Martinigans, auf den Sonntagstisch brachte.

Bestimmt lud sich aber auch der Herr Pfarrer irgendwo zum Gansessen ein.

Bei den Bäumers briet die Magd schon seit dem Morgen den gerupften Vogel in der Röhre. Die Gänse hatte Anna Maria draußen im Garten, vor der Stadtmauer, groß und fett gemästet.

Auch Lena musste ab und zu einmal hüten, dabei trieb sie die drei Gänse immer in Richtung Eisweiher, allerdings nicht bis ganz hin, sonst wollten sie nicht mehr aus dem Wasser kommen. Öfters ist ihr dies schon passiert und hier nutzte dann kein Rufen und Schreien, sie holte jedes Mal Albrecht zu Hilfe.

Anna Maria konnte zwei der gemästeten Gänse gut verkaufen und die dritte Gans gab es bei ihnen heute zu Mittag.

Das würde ein Festessen geben, besonders die Kinder freuten sich schon darauf.

Nach dem Essen gingen sie dann gemeinsam zum großen Martinimarkt. Auf allen Plätzen und in vielen Gassen priesen fahrende Händler und Bauern aus den umliegenden Dörfern ihre Waren an. Was es da nicht alles gab, alles, was das Herz begehrte. Die Städter und auch die Bauern aus dem Umland deckten sich mit dem Bedarf für den kommenden Winter ein. Natürlich wurden auch viel Tand und unnützes Zeug angeboten. Und Naschwerk für die Kinder. Es war ein buntes Treiben, und überall wurde lautstark um den Preis gefeilscht.

Am Kornmarkt hatten sich offenbar zwei Männer in die Haare bekommen, und die Stadtwache musste die Streithähne trennen. Bestimmt hatte wieder einer der Müller den Bauern um den rechten Preis betrogen. Solche Händel gingen oft für beide nicht gut aus. War das Vergehen gering, kam man mit Stadtverbot und einer ordentlichen Geldstrafe davon. Bei schweren Fällen wurden die Raufbolde dann schon mal zu Kerkerhaft verurteilt, die sie dann in dem kleinen Stadtgefängnis neben der Seekapelle abbüßen mussten.

Christoph suchte sich mit Frau Bäumer am Rande des Kornmarktes eine freie Bank aus und holte für alle einen Krug Bier. Die Kinder konnten einmal daran nippen und mussten sich sonst mit dem Wasser aus dem Brunnen zufriedengeben. Lange hielt es die Beiden sowieso nicht auf dem Platz. Es gab einfach viel zu viel zu sehen. Bartel spendierte für jeden auch noch einen Bratapfel, den ein Bauer über dem Feuer briet und feilbot.

»Setzt euch hier zu mir, ich muss mit euch reden, Herr Bartel«, forderte Anna Maria ihn auf.

Damit deutete sie direkt neben sich auf die Bank.

»Ja gerne, worüber denn?«

»Kommt etwas näher, muss doch nicht jeder gleich alles mithören können.«

Aber da bestand keine Gefahr, hier war das Markttreiben sehr laut. Außerdem hatten sie einen Sitzplatz etwas abseits von den anderen Tischen und Bänken ergattert.

»Wie ihr wisst«, begann sie stockend zu erzählen, »bin ich zwar Witwe, aber meine Ehe zählt nicht mehr für die Oberen vom Rat und vor der Kirchenobrigkeit, da mein Mann als Selbstmörder offiziell nicht existiert hat. Also brauche ich auch die vorgeschriebenen Trauerjahre nicht einzuhalten. Wenn ich binnen Jahresfrist nicht wieder verheiratet bin, muss ich die Stadt verlassen und zu meinen Leuten zurückkehren. Das will ich auf gar keinen Fall, und in den Dienst bei einer fremden Herrschaft möchte ich auch nicht.

Ein Großteil von dem Haus und die Werkstatt gehören schon der Schneiderzunft und dem Viertelbürgermeister Franz Jakobus Merklein, unserem Nachbarn. Sie haben uns in letzter Zeit mit einigem Geld ausgeholfen. Aber hierfür findet sich bestimmt eine Lösung.«

Christoph wollte etwas einwerfen.

»Unterbrecht mich nicht«, fuhr sie ihn etwas barsch an und erschrak, »mir fällt es sowieso schon schwer genug. Ich habe euch einen Vorschlag zu machen. Also, ihr seid auf der Suche noch einer eigenen Werkstatt. Wie wäre es, wenn wir uns zusammentun? Ihr scheint ja ein ganz passabler Kerl zu sein, und ich hätte Schlimmeres zu erwarten, wenn mich der Zunftmeister wieder verheiraten würde. Heiratet mich! Wenn nicht aus Liebe, so aber zu unserer beider Nutzen.«

Der Bartel musste jetzt erst einen großen und langen Schluck nehmen, das war zu viel und zu schnell für ihn.

»Ich hol´ noch schnell einen neuen Krug Bier, dann reden wir weiter.«

Er ließ sich Zeit zum Zurückkehren. Warum nicht, überlegte er, so schlecht sah die Frau ja nicht aus. Etwas verhärmt, von der Trauer und der vielen Arbeit. Einige Jahre älter vielleicht als er. Haus und Werkstatt waren scheinbar recht ordentlich geführt worden und ganz gut beieinander. Und so schnell kam er nicht zu einer guten Werkstatt und zu einem Bürgerrecht in einer so schönen Stadt. Vielleicht sollte er ...? Anna Maria Bäumer hatte ihm gleich gut gefallen.

»Nun gut, das sollte noch einmal gründlich besprochen werden. Lasst uns das Ganze doch heute Abend bereden«, gab er ihr zur Antwort.

»Vielleicht sollten wir aber auch erst einmal die Kinder fragen, ich will mich nicht gleich mit ihnen herumärgern müssen.«

»Die sind doch froh, wenn wir hier bleiben«, nahm sie deren Antwort vorweg.

Am Abend saßen alle vier zusammen und beratschlagten die ganze Sache. Schnell wurden sie sich einig, fand doch jeder den anderen sehr sympathisch. Im Frühjahr sollte dann die Hochzeit sein.

Besonders Lena war begeistert, möglicherweise half ihr Christoph wieder beim Pflügen, denn diese Arbeit war ihr einfach zu schwer. Und vielleicht bekam sie dann wieder ein paar Schuhe, es mussten ja nicht unbedingt wieder rote sein, oder ...?

Des Meisters Bartel verlorener Ring

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