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Das Land der Verbannten: Wo Småland liegt
ОглавлениеDie Schriftstellerin Astrid Lindgren schildert die Dörfer Smålands zum Vergnügen der halben Erdbevölkerung als friedliche Orte, die Bullerbü (auf Schwedisch: Bullerby) oder Lönneberga heißen und in denen Olle, Inga, Lasse, Britta und Michel mit der Suppenschüssel zu Hause sind, wie auch sonst nur fröhliche und redliche Menschen dort leben. Diese Bilder aus den schwedischen Wäldern, einer Landschaft, in der eine Anarchie der guten Seelen herrscht, wo Natur und dörfliche Gemeinschaft den frei umherschweifenden Kindern ihre Unabhängigkeit lassen und sie doch zur Vernunft führen, gruben sich tief in die Vorstellungen ein, die sich Mitteleuropäer vom Norden machen. Die wahrheitsgemäßere Geschichte dieser Region nördlich der Moräne von Halland wäre indes eine von großer Armut und dringender Not.
Aus Wald besteht diese Landschaft, und das heißt hier: hauptsächlich aus Fichten, die auf einem Boden aus Granit stehen. Zwischendurch sieht man Birken, ein paar Eichen oder Eschen, dann wieder Fichten und abermals Fichten. Im felsigen Boden bleibt das Wasser stehen, so dass es in dieser Gegend unzählige Seen gibt, Sümpfe, morastige Stellen. Nur selten wird der Wald von einer Rodung unterbrochen, von einer freien Fläche mit ein paar Feldern und Wiesen, die mit roh gefügten Steinmauern eingefasst sind – die Steine wurden in mühsamer Arbeit von den Äckern geholt –, von einem Holzhaus, das rot und mit weißen Eckpfosten unter hohen Bäumen steht. Dann wieder Wald, Bäche, Entwässerungsgräben, kleine Flüsse, in denen Wasserrosen wachsen und die von Schilf gesäumt sind.
Zwischen 1850 und 1925 verlor die Gegend um Osby, im »Östra Göinge« genannten nördlichsten Amtsbezirk von Schonen, fast jeden zweiten Bewohner. Ein wenig weiter nördlich, bei Älmhult, waren es womöglich noch mehr. Die Leute packten ihre Sachen, verließen ihre Häuser und versuchten, mindestens in Dänemark unterzukommen, eher aber noch auf dem Zwischendeck irgendeines Segel- oder Dampfschiffes, das sich anschickte, den Atlantik zu überqueren. Die meisten dieser schwedischen Auswanderer siedelten sich dann im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten an, in Dakota, Wisconsin oder Minnesota. »Dies ist das Land der Verbannten«, schrieb der Dichter August Strindberg um die Jahrhundertwende über Schweden. Tatsächlich war das Land bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein eine der ärmsten Regionen Europas gewesen. Während die Industrialisierung in weiten Teilen Westeuropas längst eingesetzt und im Falle Großbritanniens bereits ihre Reifephase erreicht hatte, arbeiteten damals noch mehr als achtzig Prozent der schwedischen Bevölkerung in der Landwirtschaft. Erst die sich immer stärker entwickelnde wirtschaftliche Integration Europas sowie die innereuropäisch gestiegene Nachfrage nach Rohwaren wie Holz und Eisen führten zu einer beginnenden Industrialisierung einzelner Produktionszweige in Schweden.
Während nun aber die Industrialisierung in Deutschland und Großbritannien zur Entstehung von Ballungsräumen führte, vollzog sie sich im Flächenstaat Schweden vor allem in der Provinz, in kleineren Gemeinden in der Nähe von Rohstoffvorkommen, um die herum kleine bis mittelgroße Unternehmen entstanden. Auf diese Weise hatte sich rund um Älmhult seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Holz- und Möbelindustrie angesiedelt. Die wenig fruchtbaren Böden der Provinz eigneten sich kaum zum Ackerbau, so dass die Möbelherstellung sich als Alternative zur Landwirtschaft anbot. Außerdem brauchte man nicht viel Kapital, um eine Möbelfabrik zu gründen: Zumeist reichten Säge, Hobel und Bohrer. Nur die wenigsten Fabriken nutzten avancierte Techniken, mit denen gebogene und andere ausgetüftelte Konstruktionen hergestellt werden konnten. Der geringe Kapitalbedarf führte dazu, dass im Jahr 1945 in mehr als der Hälfte der schwedischen Möbelunternehmen weniger als elf Mitarbeiter arbeiteten, ein Drittel hatte gar fünf oder noch weniger Mitarbeiter. In dieser Welt war Ingvar Kamprad aufgewachsen, und als er das Sortiment seines Gemischtwarenhandels auf eine solide Grundlage zu stellen suchte, stieß er selbstverständlich auf die heimische Industrie. Sie vereinfachte ihm einerseits den Zugang zu Möbeln, legte ihm diesen Geschäftszweig andererseits aber auch nahe.