Читать книгу Sommer auf dem Sonnenbergerhof - Thorsten Dürholt - Страница 3
Prolog
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„So schwer ist das doch gar nicht...“, sagte Teddy mit einer bedeutsamen Pause, während er mit der Bürste sein langes dunkles Haar gekonnt striegelte.
„Es geht ja nur darum, einfach etwas zu sagen.“ Sunny mochte es gar nicht, wenn ihn Teddy auf diese Art ansah, mit seinen tiefen, dunklen Augen. Es war ihm klar, dass er dieses Geheimnis nicht ewig verschweigen konnte, aber es war nicht seine Art, mit der Tür gleich ins Haus zu fallen. Trotzdem wollte er das nicht auf sich sitzen lassen.
Er verstrich den Rest der Feuchtigkeitscreme in seinem Gesicht und schaute über seine Schultern zu Teddy, der auf seinem Bett saß. „Und, wann willst du es den beiden sagen?“, entgegnete er Teddys spitzer Bemerkung. „Da liegt der Fall ja schon ein wenig anders. Überhaupt, wir reden über dich und dein Geheimnis“, war Teddys mühelose Erwiderung. Sunny schaute Teddy ernst an. Wie jedes Mal, hielt dieser scheinbar mühelos seinem kritischen Blick stand und erhob sich elegant.
Während er zu Sunny trat, legte er die Bürste auf Sunnys Schminkkommode ab und streichelte ihm sanft über die blonden Haare: „Jetzt schmoll doch nicht, mein Sonnenschein.“ Sunnys Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund. Es war gemein, dass Teddy immer so etwas mit ihm machte. Da wollte er einmal etwas Ernsthaftigkeit demonstrieren und schon wurde er wieder sabotiert.
Dennoch genoss er es, wie Teddys schlanke Finger zart durch seine langen, blonden Locken strichen und ihn sanft kraulten. Neugierig blickte er mit seinen kornblumen blauen Augen nach oben, um Teddys Augen mit den seinen einzufangen. Sunny mochte es, wie sich immer eine sanfte Form von Lächeln in Teddys Augen widerspiegelte, wenn sich ihre Blicke trafen. Es war eine andere Art des Lächelns als das zynische Lächeln seiner schmalen, wohlgeformten Lippen, das immer eine spielerische Art der Überlegenheit in sich trug. Er grübelte ein wenig in sich hinein. Vielleicht hatte Teddy tatsächlich recht?
Es würde natürlich viele seiner Schulkameraden verwirren und auch seine Familie wäre wahrscheinlich ein wenig überfordert, aber wie lange wollte er noch mit seinem Geheimnis weiterleben?
Es war ja auch die richtige Zeit, denn es war Sommer und die Ferien hatten gerade erst begonnen. Teddy würde ihm volle sechs Wochen an schulfreier Zeit zur Verfügung stehen. Wenn das nicht der richtige Zeitpunkt war, wann dann?
Fragend blickte er Teddy an: „Hilfst du mir?“ „Natürlich“, antwortete Teddy mit sanfter Stimme, während er sich erneut die Bürste schnappte und anfing, Sunnys lange, blonde Locken zu bürsten. „Ich werde dir immer zur Seite stehen, wie ich es dir versprochen habe.“ Sein ganzer Körper zeigte eine wahrhafte Präsenz von Aufrichtigkeit. Lächelnd beobachtete Sunny durch den Spiegel Teddys muskulösen Oberkörper. Es gefiel ihm, wie Teddys definierte Bauchmuskeln leicht zuckten, während er konzentriert Sunnys unbändige Mähne zu einem einzigen Strang zusammenstrich.
Kurz blinkte die silberne Gürtelschnalle an Teddys abgetragener Stonewashed-Jeans und zauberte einen Lichtreflex, der gleich einer kleinen Fee durch das Zimmer schoss.
Es war eine Eigenart von Teddy in seinen Ferien diese Gürtelschnalle fast durchgehend zu nutzen. Seit er sie vor zwei Jahren gemeinsam mit Sunny bei den Ausscheidungen des jährlichen Western-Festivals gewonnen hatte, schien sie ihm eine seiner liebsten Trophäen zu sein. Auch Sunny hatte seine Gürtelschnalle gestern aus der Schmuckschatulle genommen und liebevoll poliert, um sie so häufig wie möglich in den Ferien zu tragen. Er wollte Teddy seine Verbundenheit zeigen.
Außerhalb der Ferien trug er die Gürtelschnalle niemals, denn das kam ihm irgendwie falsch vor. Er fühlte sich dann einsam und isoliert in einer Welt ohne Teddy. Ob es Teddy genauso erging, wollte er gar nicht erst wissen.
„Lass uns zur alten Weide reiten und dort einen Schlachtplan erstellen!“, schlug Sunny vor. „Ich hatte gehofft, dass du so etwas sagen würdest“, entgegnete Teddy und schob ihm sanft ein Gummi über den Pferdeschwanz.
„Gut, ich hole uns ein Picknick und du machst dich bereit. Wir treffen uns in zehn Minuten im Stall!“ Sunny stand voller Elan auf und griff nach seinem Lieblingshut, der wie immer am Haken neben der Tür hing. Sunny liebte seinen Cowboyhut, ein Souvenir, dass ihm sein Vater von einer Dienstreise aus Texas mitgebracht hatte.
Fröhlich hüpfte er die Treppe hinunter und ging laut pfeifend in die Küche.
„Mein Gott, Manfred“, schallte es ihm entgegen. In der Küche waren Tante Jakobina, seine Mutter und Großmutter Irmelbert. Alle drei Damen saßen am Küchentisch mit der feinen Blümchendecke, auf dem neben dem feinem Porzellan ein großer Apfelkuchen stand.
Nun war es Sunny klar, wo der Apfelkuchen, den er gestern Morgen für Teddy gebacken hatte, hin verschwunden war. Seine Mutter lächelte ihn unschuldig an und Großmutter Irmelbert zwinkerte fröhlich und kurzsichtig aus ihren weisen alten Augen.
Nur Tante Jakobina schaute entsetzt an ihm hoch und runter: „Also, mein Adolpho läuft ja nicht so im Haus herum...“, setzte sie an, aber seine Mutter unterbrach sie sanft: „Kann ich etwas für dich tun, mein Sonnenschein?“ „Ja, Mama, wir möchten zum Fluss runter reiten und würden da gerne ein Picknick machen.“
Seine Mutter stand auf und schob sich in das Sichtfeld zwischen ihm und der Schwester seines Vaters. „Ich denke, da habe ich noch das ein oder andere, hol doch mal den Picknickkorb aus dem Flurschrank.“
Kopfschüttelnd verließ Sunny die Küche. Seine Mutter hätte doch wissen müssen, dass der Picknickkorb im Keller war. Nun ja, da konnte er auch gleich ein paar andere wichtige Sachen für den Ausflug holen. Nur wenige Minuten später kam er mit gefülltem Picknickkorb in den Stall, wo bereits Teddy auf ihn wartete.
Gulasch und Sauerbraten warteten schon unruhig, als wüssten sie, dass es gleich auf einen Ausflug ging. Sunny war froh, dass Teddy wieder da war, denn nur Teddy konnte Gulasch reiten. Der große Apfelschimmel war ein starker Kaltblüter, mit starkem Temperament und einem Hang zur Kitzligkeit, der mittlerweile drei Hufschmiede zerschlissen hatte. Noch vor wenigen Jahren war er als „nicht bereitbar“ eingestuft worden und hatte eigentlich abgedeckt werden sollen, da er seine Pflichten als Zuchthengst nicht hatte erfüllen wollen.
Teddy, der ruhige Außenseiter, und Gulasch hatten Freundschaft auf den ersten Blick geschlossen und so gelang es ihm, den unruhigen Hengst wieder zu einem stolzen Reittier zu formen. Doch immer noch akzeptierte dieser selten einen anderen Reiter als Teddy.
Sunny schmuste kurz mit Sauerbraten, seinem eigenen Pferd, einer zarten und ruhigen Araberstute mit fast schwarzem, seidigen Fell und einem einzigen weißen Fleck auf der Stirn in Form eines Sternes, der ihr eindeutig nicht ihren Namen gegeben hatte. Es gab fast nichts, das Sunny lieber mochte als Sauerbraten.
Lachend und fröhlich sattelten die beiden Jungen ihre Pferde und schwangen sich dann in den Sattel, um im gemächlichen Schritttempo den Sonnenbergerhof in Richtung der südlichen Weide zu verlassen.
Die Sonne strahlte über dem grünen Tal und kein Wölkchen war am azurblauen Himmel zu sehen. Kaum hatten sie die Koppel an der südlichen Weide verlassen, reichte ein Blick, schon schossen die beiden auf ihren Pferden los. Wie der Wind stoben die beiden Pferde über den sommerlichen Heidegrund und galoppierten der Sonne entgegen.
Auf einer Parkbank saß ein Wanderer und trank gemütlich aus einer Wasserflasche, während er Bauer Hengstbeck beobachtete, der gerade seinen Traktor reparierte. Plötzlich sah er die beiden galoppierenden Reiter, die über die Heide preschten. „Nanu?“, fragte er laut: „Wer mag das wohl sein?“ „Ach“, antwortete Bauer Hengstbeck nach kurzem Aufblicken. „Das sind nur Sunny und Teddy, auf Gulasch und Sauerbraten. Die reiten hier herum und stellen sich dumm, weil sie Teenager sind“.
Der fremde Wanderer blickte auf. „Interessant“, murmelte er: „Darüber muss ich mehr herausfinden.“ „Na, dann versuchen Sie es doch mal auf dem Sonnenbergerhof, die haben da sogar eine Ferienpension“, sprach ihn der Bauer an. „Zufällig habe ich hier einen Flyer mit einem Rabattcoupon.“ Der fremde Wanderer blickte ihn interessiert an.
„Wenn Sie wollen, kann ich Sie gleich mitnehmen, wenn der alte Kübel wieder fährt.“ Der Fremde lehnte dankend ab, denn er verstand genug von Reparaturen, um sich dieser Warterei nicht auszusetzen und so wanderte er nur wenige Zeit später in Richtung des Sonnenbergerhofes.
Nachdenklich schaute Sunny auf das ruhig vor sich hin fließende Wasser des Flusses. Er saß, wie so oft, gedankenverloren auf seinem Lieblingsplatz, einer Astgabelung in den Zweigen einer mächtigen Trauerweide, deren lange Äste sanft die Oberfläche des sommerlich glitzernden Flusses streichelten.
Er sah das sanfte Wiegen der Blätter in den leichten Windzügen, die eine frische Brise über das sonnendurchflutete Tal trugen und lauschte dem Klang der Wellen und dem Gesang der Vögel, die sich in den Ästen des lichten Baumhaines angesiedelt hatten.
Sunny wusste, dass es der letzte Tag dieses Sommers war, den er ungestört auf diese Weise genießen konnte, denn es war der zweite Tag nach dem Beginn der Sommerferien.
Er blickte hinunter zu Teddy. Seit nunmehr vier Jahren war Teddy ein Stammgast der Sommerpension, die seine Mutter in einem der alten Fachwerkbauernhäuser betrieb, die zum Sonnenbergerhof gehörten. Der alte Gutshof, samt dem ehrwürdigen Gestüt und der bekannten Schafzucht, war schon seit dreizehn Generationen im Familienbesitz und seit dem Tod seines Großvaters wachte Oma Irmelbert mit Argusaugen über Haus und Hof. Zur Beruhigung aller war sie nicht nur extrem kurzsichtig, sondern auf eine sehr weise Art ein wenig dement. Sein Vater machte sich viel Mühe mit dem Erhalt des Besitzes und seine Mutter führte die Ferienpension, um ein wenig Geld zu den Einnahmen des Biohofes beizutragen.
Als sich Sunny und Teddy zum ersten Mal als zwölfjährige Knaben gegenüber gestanden hatten, waren sie weit davon entfernt gewesen, so etwas wie Freunde zu sein. Teddy war sozusagen ihr erster Feriengast gewesen, denn erst im Jahr danach hatte seine Mutter die Pension Sonnenberger eröffnet.
Damals war Sunny gar nicht damit einverstanden gewesen, seine Ferien mit einem fremden Jungen zu verbringen. Doch schon bald hatten sie nicht nur ein Zimmer geteilt, sondern auch eine tiefe Freundschaft, denn viele Ferienabenteuer hatten sie zusammengeschweißt wie die Stahlträger eines britischen Kriegsschiffes.
Teddy war ihm näher als jeder Mitschüler oder andere Gleichaltrige aus der Umgebung.
Es war nicht so, als ob Sunny ein Außenseiter wäre, im Gegenteil, denn viele seiner Freunde beneideten ihn um die Nähe zu den hübschen Mädchen, die gerne in den Sommerferien einige Tage in der Pension unterkamen, um das Reiten zu lernen oder sich auf Reitprüfungen vorzubereiten. Da Sunny bereits schwer verliebt war, interessierten ihn diese Mädchen aber nicht wirklich. So blieb es jedes Jahr bei harmlosen Urlaubsflirts und meist blieb der versprochene Email-Kontakt schon nach wenigen Wochen aus. Zumindest blieben genügend empfangene Selfie-Bilder hängen, mit denen er seine Schulkameraden beeindrucken konnte.
Natürlich promotete die Neugier seiner Klassenkameraden auch seine Aktivitäten auf Facebook, was seiner Band zugutekam, aber so richtig zufrieden war Sunny mit seinen Ferienliebschaften nicht.
Er wusste ehrlich gesagt auch nicht, was die Mädchen aus der Stadt an einem Langweiler wie ihm so aufregend fanden. Wenn er nicht gerade in der Natur war, schrieb er Songs für seine Band oder Gedichte für sich selbst. Er hatte keine aufregenden Hobbys und allein der Umstand, dass er ein guter Schüler war und gerade in den Naturwissenschaften brillierte, machte ihn eigentlich zu einem ziemlichen „Nerd“.
Es war schon komisch: - Während sich die Mädchen aus der Stadt zumeist in seiner Nähe aufhielten, war es den Mädchen der Gegend scheinbar ein tieferes Bedürfnis, das Weite zu suchen, wenn er in ihre Nähe kam. Ebenso wusste er auch nicht, warum die Gespräche der Mädchen, die er bereits seit Kindergartentagen kannte, immer dann verstummten, wenn er in Hörweite kam.
Auch die Freundschaft mit Teddy blieb im Dorf nicht unbemerkt und jedes Mal, wenn sie scherzend oder aneinander gelehnt durch die kleine Stadt bummelten, bekamen die meisten Mädchen diesen seltsamen Blick. Da die Freudentaler Mädchen auch zumeist langhaarig waren und gerne kichernder Weise oder händchenhaltend mit ihrer besten Freundin durch die Freudentaler Innenstadt schlenderten, wunderte sich Sunny, dass es eine so komische Reaktion darauf gab, wenn er mit Teddy dasselbe machte. Es war schon seltsam.
Doch für diesen Sommer hatte er sich ja etwas vorgenommen. Sunny glitt elegant von der Astgabelung und landete grazil wie eine Katze zwischen den Wurzeln der Trauerweide.
T eddy hatte die Decke ausgebreitet und bereits mit den Dingen aus dem Picknickkorb eine leckere Brotzeit angerichtet. Wieder einmal bewunderte Sunny, mit wie viel Perfektion und Anmut Teddy das ganze Ensemble für sie angeordnet hatte.
Gerade kniete er mit halb geschlossenen Augen an der einen Seite der Decke und war dabei, einen Tee zuzubereiten. Für Teddy war die Teezubereitung ein Ritual, das er hochkonzentriert durchführte und Sunny genoss die ästhetische Vorführung japanischer Teezeremonien.
Leise hockte er sich an das andere Ende der Decke und betrachtete das elegante Fingerspiel. Wie aus einem natürlichem Fluss heraus öffnete Teddy seine Augen und blickten in die seinen, während er ihm eine Schale mit Tee reichte. Sunny lächelte ihn sanft an.
Einen kurzen Augenblick genossen sie ruhig einen perfekten Moment des inneren Friedens.
Als sie sich langsam den zahlreichen Leckereien zuwandten, die Sunny eingepackt hatte, richtete er das Wort an Teddy.
„Nun, wie stellen wir es an?“ „Also“, Teddy musterte ihn mit dieser verführerischen, leicht zynischen Haltung. „Eigentlich geht es ja größtenteils um dich“ „ Aber du bist doch auch ein wichtiger Teil. Ich meine, wenn es klappt und ich mit der Sache rausrücke, dann betrifft es doch auf jeden Fall unser beider Ferien.“ „Da habe ich keine Angst, ich stehe zu dir und werde dich unterstützen“ „Aber wenn dann jeder von meiner heimlichen Liebe weiß. Das ist doch peinlich!“ „Was ist denn an deinen Gefühlen peinlich?“ „Auf jeden Fall würde hier in der ganzen Freudentaler Gemeinde keiner so etwas wagen.“ Röte stieg in Sunnys Wangen auf: „Weißt Du, die Leute haben hier so ihre Vorstellungen und...“, zart unterbrach ihn Teddy, indem er seinen Finger sanft auf Sunnys Lippen legte.
Tief blickte er ihm in die Augen und sagte mit sehr ruhiger und fester Stimme: „Das ist alles nicht wichtig. Dein Herz hat entschieden und egal, was die anderen Menschen davon halten, werde ich nicht zulassen, dass du für deine Liebe leiden musst.“ Sunny lächelte ihn glücklich an, gab ihm einen neckischen, halb geküssten Biss in den Finger und nahm sich eine Erdbeere aus der Tupperschale. Während er sie fast zärtlich zwischen seine samtenen Lippen schob, bat ihn Teddy: „So, jetzt erzähl mir nochmal, was die Leute hier in der Gegend für ein Problem mit deiner Angebeteten haben.“
„Ist hier der Sonnenbergerhof?“ Emilia Sonnenberger wandte sich zu dem fremden Wanderer um, der an dem hölzernen Zaun stand.
Gerade hatte sie ihre Schwägerin verabschiedet, die mit ihrem schwarzen Mercedes SUV losgebrettert war, als ihr der fremde Herr mittleren Alters aufgefallen war.
„Ja“, sagte sie zögerlich und strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Was kann ich für Sie tun?“
„Nun, ich habe hier so einen Coupon und einige Fragen“, sagte der Wanderer leise, aber bestimmt, als wäre es ein in Stein gemeißeltes Gesetz. „Der Haupteingang ist eigentlich auf der anderen Seite, aber kommen Sie ruhig mit durch.“ „Das ist ausgezeichnet, ich war schon lange unterwegs.“ „Dann bringe ich Sie wohl gleich in unseren Biergarten und wir machen die Anmeldung dort bei einem kühlem Getränk“, schlug Emilia Sonnenberger vor. Zufrieden in sich hinein lächelnd folgte der Wanderer der hübschen Wirtin.
Die letzten roten Strahlen der untergehenden Sonne fielen über die Rückenkracher Hügel auf das beschauliche Tal, als Sunny und Teddy von ihrem Ausflug zurückkehrten. Sauerbraten wieherte fröhlich, als sie mit ihren feinen Nüstern den nahen Sonnenbergerhof erkannte und fiel in einen munteren Trab, dem sich Gulasch sofort anschloss.
Teddy hatte den Kopf in den Nacken gelehnt, während er seinem stolzen Gulasch freien Lauf gab. Er blickte in den Himmel voller Rot- und Blautöne und hing seinen Gedanken nach. Auch Sunny hatte bei Sauerbraten die Zügel locker gelassen und freute sich auf das Abendessen auf dem heimatlichen Gestüt.
Seit seinem nachmittäglichen Gespräch mit Teddy war es so, als wären alle seine Sorgen wie fortgeblasen. Fröhlich pfiff er eine Melodie und genoss die laue Abendluft.
Teddy hatte sich noch nicht zu seiner langen Erklärung geäußert, aber Sunny sah, wie die Gedanken in ihm arbeiteten. Er liebte es, wie Teddy jede Situation von allen Seiten zu betrachten wusste und war sich sicher, dass er bald wieder der Zeuge eines grandiosen Planes werden würde. Mit ihm auf seiner Seite würde sich alles zum Besten wenden.
Die Hufe klackerten rhythmisch auf dem Backsteinboden des Gutshofes, als sich die beiden dem Stall näherten. Beide führten ihre vierbeinigen Freunde an den Zügeln über den Hof.
Im gemütlichen Stall der Sonnenbergers war tatsächlich noch Licht und Sunny fragte sich, wer aus der Familie um diese Uhrzeit noch fleißig wäre. Als die vier Freunde den Stall betraten, begrüßte Salami, der niedliche Esel und heimliche Herr des Stalles, die beiden mit liebevollem Gebrüll. Doch irgendetwas stimmte nicht, denn in seiner Stimme lag eine seltsame Unruhe.
Sunny schwante Übles und tatsächlich sah er seine Mutter und Herrn Doktor Spargelzupf, den örtlichen Veterinär, in der Stallung. Wie in Trance reichte er Teddy Sauerbratens Zügel herüber und ging eiligen Schrittes zu den beiden.
Seine Mutter sah ihn und kam ihm zwei Schritte entgegen. „Es ist Frikadelle, irgendetwas stimmt nicht mit ihrem Fohlen.“ Sunny blickte in die Box der braunen Stute und sah, dass diese auf dem Boden im Stroh lag.
Doktor Spargelzupf klapperte in seiner Arzttasche. „Was ist los?“, fragte Sunny voller Sorge. „Das Fohlen kommt zu früh und es hat sich nicht richtig gedreht“, antwortete Doktor Spargelzupf ein wenig abwesend, während er eine Spritze aufzog.
Sunny sah sich zu Teddy um: „Du musst etwas tun!“ Seine blauen Augen blickten tief und verzweifelt zu Teddy und eine kleine Träne schlich sich aus einem Auge. Teddy, der die beiden Pferde angebunden hatte, kam herüber und strich sanft die Träne von Sunnys Wange. „Lass mal schauen“, sagte er mit ruhiger Stimme und betrat den Stall.
Doktor Spargelzupf hatte sich gerade den linken Oberarm mit einem Gummischlauch abgebunden und unterbrach irritiert seine Suche nach einer funktionstüchtigen Vene: „Junge, was willst du machen?“, fragte er mit zittriger Stimme. Teddy kniete sich wortlos neben die zitternde und verängstigte Stute und fing an, sie sanft zu streicheln. Mit ruhigen und liebevollen Worten versuchte er die werdende Mutter zu beruhigen. Er würde es nicht zulassen, dass heute Mutter oder Kind starben.
"Was will er machen?", fragte Doktor Spargelzupf, der gerade seine Beruhigungsspritze wieder aus seinem Oberarm zog und die kleine Wunde abdrückte. Das Morphium machte seine Stimme sofort deutlich ruhiger. „Keine Angst“, antwortete Emilia Sonnenberger, „Michael ist ausgebildeter Reiki-Meister.“
Teddy blickte zu Sunny und rief. „Ich brauche deine Hilfe. Hol Tücher und warmes Wasser. Und einen Eimer, falls sich der Doktor wieder übergibt.“ „ Kann ich auch etwas tun?“, fragte Emilia Sonnenberger. „Ja, hol mir bitte einen Tee und einen Kaffee für den Doktor.“ Doktor Spargelzupf glitt mit entspannter Miene auf einen Strohballen und schaute verdutzt auf den alten Eimer, den Sunny vor ihn stellte.
„Das Wasser kocht gleich und hier sind Tücher!“, rief Sunny Teddy zu und blickte dann seine Mutter an. „Warum hast du nicht Doktor Hasenknatterer geholt?“ „Er ging nicht ans Telefon und da fiel mir nur der alte Spargelzupf ein.“ „Du weißt doch, dass er seit dem Vorfall nur noch im Schlachthof arbeitet.“ „Gelernt ist gelernt“, sprach seine Mutter und lief Richtung Küche.
Sunny bemerkte ein paar der Teenagermädchen, die die ersten Feriengäste auf dem Sonnenbergerhof waren. Neugierig drängten sie sich in den Stall. Zumindest hatte eines der Mädchen die Schüssel mit dem heißen Wasser dabei.
„Gib mir die Arzttasche“, meinte Teddy, der immer noch tastend über den aufgeblähten Bauch der tragenden Stute strich. Sunny nahm die Arzttasche und ging beherzt in die Box. Er setzte sie neben Teddy ab und holte noch das Wasser, bevor er sich neben Teddy kniete, um ihm zu assistieren.
Teddy holte die Wodkaflasche aus der Arzttasche und kippte großzügig von dem polnischen Billigfusel über seine Hände. Stumm reichte er sie Sunny, der sich gerade Einmalhandschuhe überzog.
Still sagte er ein inneres Mantra auf und drückte geschickt einige Reflexpunkte mit einer geheimen Akkupressur-Technik, die ihm sein Sensei beigebracht hatte. Deutlich entspannte sich Frikadelle in seinen geübten Fingern und ein Teil der Panik verschwand aus ihren Augen.
„Ich muss das Fohlen drehen“, sagte Teddy. „Nein“, antwortete Sunny. „Du musst sie weiter beruhigen, lass mich das machen.“ „Bist du dir sicher?“, fragte Teddy. „Natürlich, ich habe mein diesjähriges Schülerpraktikum bei Doktor Nasetrief, dem Gynäkologen gemacht, da konnte ich Erfahrungen sammeln.“
Beherzt griff Sunny zu und versenkte seine Arme tief in dem Unterleib der Stute. Teddy beruhigte weiterhin die aufgelöste Frikadelle und nahm ihr mit sanftem Druck die Schmerzen.
Als Emilia Sonnenberger mit den Heißgetränken in den Stall kam, nahm das neugeborene Fohlen gerade seinen ersten Atemzug. „Und“, fragte Teddy Sunny, der sich die Hände wusch, „Wie wollen wir es nennen?“ „Hmmm, ich wäre mal für etwas exotisches, wie wäre es mit Lasagne?“
Er strahlte glücklich, als er sah, wie die mittlerweile wieder aufgerichtete Frikadelle zärtlich über die neugeborene Lasagne leckte. „Gut“, Teddy nahm noch einen tiefen Atemzug. „Lass uns vor dem Essen noch duschen!“
Die Reitermädchen machten den beiden Jungen unaufgefordert Platz, als diese zu ihren Pferden gingen und anfingen, die beiden zu pflegen. Mehr als eines der Mädchen nahm sein Smartphone wieder hervor, um die beiden Freunde auch dabei zu filmen.
Nach einer ausgiebigen heißen Dusche und einem guten Abendessen, lagen die beiden Freunde nebeneinander in Sunnys großem Bett und schauten aus dem geöffneten Dachfenster in den Sternenhimmel. „Weißt du, mir ist gerade etwas klar geworden, ich meine zu deinem Problem...“, setzte Teddy an, doch Sunny legte ihm einen Finger auf die weichen Lippen. „Das hat Zeit, lass uns den Abend genießen.“
Es war ein strahlender Morgen auf dem Sonnenbergerhof. Sunny saß am offenen Fenster, bürstete seine langen blonden Locken und blickte leicht verträumt hinunter in den Garten. Zwischen den alten Apfelbäumen absolvierte Teddy, nur in eine leichte schwarze Trainingshose gekleidet, gerade seine morgendlichen Kampfkunstübungen.
Schweiß glänzte auf seiner weißen Haut und Sunny genoss das Spiel der athletischen Muskeln, die in der Sonne glänzten. Ihm war bewusst, dass es Teddy gar nicht schätzte, wenn man ihm bei der Beschäftigung mit seiner Kata (In der Bewegungsabfolge festgelegte Kampfkunstübungen) zusah, doch Sunny konnte einfach nicht widerstehen.
Nach den vorabendlichen Aufregungen um die Geburt eines neuen Fohlens, hatten sie beide erstaunlich gut geschlafen. Wie schon so oft, war Teddy einfach in Sunnys großem Bett weggeträumt und so hatten beide die Nacht gemeinsam verbracht.
Sunny war zufrieden, denn das ganze Schuljahr über hatte er sich darauf gefreut, morgens wieder neben seinem besten Freund aufzuwachen und den Tag mit einem dieser niedlich-verschlafenen Blicke aus Teddys sonst so ernsthaften Augen zu beginnen.
Nun gingen beide ihrer Morgenroutine nach, was Sunny Zeit gab, sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen. Heimlich fragte er sich, ob Teddy bei seinen konzentrierten und elegant-perfekten, fast tänzerischen Bewegungen auch in seinen Gedanken versank, oder tatsächlich so konzentriert war, wie seine Bewegungen es erahnen ließen.
Er freute sich schon auf das Videomaterial, das Teddy mitgebracht hatte. Neben den asiatischen Kampfkünsten und dem klassischen Fechten übte sich Teddy schon seit frühester Kindheit im Ballett und hatte im letzten Schuljahr einige Auftritte getanzt.
Mehrere Ballettschulen konkurrierten um Teddys Aufnahme, doch dieser wollte sich nicht auf einer spezialisierten Schule einschreiben. Er hatte Sunny einmal erklärt, dass er fürchtete, dann den Spaß an seinem Hobby zu verlieren.
In den letzten Sommerferien hatte Teddy Sunny Tanzstunden gegeben, da Sunny sich auf die Abschlussprüfung der örtlichen Tanzschule vorbereitete und er hatte aufgrund von Teddys Erfahrung ihre gemeinsamen Übungsstunden sehr genossen. Tatsächlich hatte er sich sogar extra vor einigen Wochen für einen Aufbaukurs in lateinamerikanischen Tänzen angemeldet und hoffte, dass Teddy ihm auch daran die unbändige Freude zu vermitteln wissen würde, die Teddy jedes Mal beim Tanzen auf attraktive Weise ausstrahlte.
Auch auf das gemeinsame Fechten freute er sich ungemein. Während Teddy einen klassischen spanischen Stil focht, war Sunnys Fechtlehrer auch angesehenes Mitglied des Freudentaler Mittelaltervereins, dem Sunny ebenfalls angehörte. Gemeinsam fochten sie nach den Techniken aus den überlieferten Waffenhandbüchern des Mittelalters.
Heimlich freute sich Sunny schon auf die Vorbereitungstreffen des Vereins, denn dieses Jahr würde es, aufgrund der 1.000 Jahr-Feier des Freudentaler Stadtrechtes, ein besonders prächtiges Mittelalterfest geben und Sunny war fest in mehreren Funktionen eingeplant, genauso wie Teddy, der davon allerdings noch nichts wusste.
Die gesamte Freudentaler Ritterschaft hatte ihre Pferde auf dem Sonnenbergerhof eingestellt. Seine Mutter Emilia hatte, wie jedes Jahr, erlaubt, dass der Verein auf der bereits abgeweideten Ostwiese für die Ritterspiele trainieren durfte.
Dieses Jahr würde sich Sunny an den Turnierspielen beteiligen und es war geplant, dass er im Rahmen des Reenactments in diesem Jahr bei einem Verwandten seines Fechtlehrers, der die Rolle eines edlen Ritters darstellte, als Knappe aufgenommen werden sollte.
Besonders wichtig war ihm dies auch, da sein Fechtlehrer, der örtliche Dorfschmied und daher zu Mittelalterfesten stets gut beschäftigt, darüber hinaus der Vater seiner heimlichen Liebe war.
Sunny seufzte, doch dann erinnerte er sich wieder an all die tollen Abenteuer, die auf Teddy und ihn warteten. Er freute sich auf das mittelalterliche Stadtfest, die Western-Festspiele, das Open-Air-Konzert und all die anderen, vielen Aktivitäten, die der Freudentaler Veranstaltungskalender so hergab.
Das erinnerte ihn sogleich an das Sommeranfangskonzert der Freudentaler Musikschule, das in zwei Tagen stattfinden sollte. Er legte die Bürste zur Seite und ging zu der alten Kommode, die schon seit mehr als 200 Jahren im Familienbesitz war. Er öffnete den darauf stehenden Holzkasten und streichelte zart über das dunkle, glänzende Holz seiner Violine, die dort auf Samt ruhte. Es war Zeit sich vorzubereiten.
Der Wind strich sanft durch die Äste der knotigen alten Apfelbäume, deren grüne Blätter leise rauschten. Ätherisch drangen einige Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterwerk und erzeugten ein feenhaft mystisches Licht in dem morgendlichen Gartenhain.
Teddy sog tief die frische Morgenluft in seine Lungen. Er spürte wie die Energie des mystischen Kis in jeden Muskel seines Körpers drang. Auch wenn er an diesem Ort den weisen alten japanischen Sensei Hattori vermisste, genoss er das Training in diesem natürlichen Schrein in allen Zügen.
Dank seines Stiefvaters war er in den Genuss gekommen, die Künste des Budos bei seinem Stief-Großonkel, dem bekannten Sensei Hattori Hanzo, zu erlernen. Sein Stiefvater war zwar eher Geschäftsmann als den ehrwürdigen Künsten der Familie Hattori zugewandt, begrüßte es aber dennoch, dass sein Adoptivsohn Michael, der von den japanischen Verwandten gerne spöttisch Miko (japanisch für eine junge Dienerin eines Tempelschreins) genannt wurde - aber da dieses im Indianischen auch die Bezeichnung für einen Friedenshäuptling war, belächelte Teddy diesen kleine Familienscherz – den Wunsch hatte, alles über die Kultur seines neuen Vaters zu lernen und unterstützte nach bestem Wissen den Willen des jungen Knaben.
Teddys Mutter war froh, dass ihr Sohn den tragischen Verlust seines leiblichen Vaters so gut mit der liebevollen Beziehung zu seinem neuen Vater kompensieren konnte.
Seit nunmehr vier Jahren, in denen seine Mutter als Botschafterin in Tokio arbeitete und Teddy auf dem angesehenen Eliteinternat Burg Hopfenstreusel untergebracht war, gab es wenige Verwandte, mit denen er nicht nur über Skype kommunizierte. Nur sein Großonkel, der in der nahegelegenen Stadt ein gut laufendes Sushi-Restaurant führte und seine Tante, die gemeinsam mit ihrem Ehemann in derselben Stadt ein Tattoo-Studio betrieb und klassische, japanische Tätowierungen anfertigte, lebten in erreichbarer Umgebung.
Abgesehen natürlich von seiner Tante Emilia, der Schwester seiner Mutter, die er seit vier Jahren in den Sommerferien besuchen durfte.
Zuerst war es ihm komisch vorgekommen, mitten in die Provinz zu fremden Verwandten zu fahren, um dort den Sommer zu verbringen. Dass er sich dann auch noch sein Zimmer mit seinem gleichaltrigen Cousin Sunny teilen sollte, war für den zwölfjährigen Teddy eine grauenhafte Vorstellung gewesen, doch nach den ersten gemeinsamen Ferienabenteuern war aus der anfänglich zögerlichen Berührung eine Freundschaft erwachsen, wie sie Teddy noch nie tiefer gespürt hatte.
Selbst als die ersten Pensionszimmer fertiggestellt waren, hatten die beiden Freunde auf ihr gemeinsames Zimmer bestanden und Teddys Schlafcouch war ein fester Teil des Inventars von Sunnys Zimmer geworden.
Mit einer eleganten Bewegung beendete er seine kunstvolle Kata. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Sunny ihn vom Fenster aus beobachtete. Teddy lächelte in sich hinein und sammelte wieder Konzentration.
Dann würde er Sunny mal demonstrieren, was er alles gelernt hatte.
Der Wanderer saß auf dem gemütlichen Holzstuhl in dem rustikalen, aber dennoch sehr schönen Zimmer der Pension. Während er nachdenklich durch seinen langen, schon ergrauten Bart strich, beobachte er durch das Fenster den nahen Garten. Das hochmoderne Tablet auf seinem Schoss passte nicht wirklich zu seinem sonst eher bodenständigen Auftreten.
Er blickte nachdenklich über den Rand seiner Brille, dann glitt seine Aufmerksamkeit wieder auf den Text auf dem Tablet. Während sein hochmodernes Mobiltelefon das Geschehen zwischen den knorrigen Apfelbäumen präzise dokumentierte, machte er sich einige weitere Notizen und nickte zufrieden. Alles entwickelte sich wunderbar.
Die nachmittägliche Sonne brannte heiß auf die beiden Reiter, als sie über die sommerliche Heide trabten. Nachdem sie den Vormittag erst mit Reitstunden und später mit dem Ausmisten des Stalles verbracht hatten, waren Sunny und Teddy sehr froh, ein paar kostbare Stunden alleine zu verbringen.
Kurzentschlossen hatten sie ihre beiden Pferde gesattelt und waren los geritten. Teddy war froh, dass Sunny daran gedacht hatte, genug Getränke mitzunehmen, denn er hatte wieder einmal vergessen, wie erbarmungslos die Sonne in das beschauliche Tal brennen konnte.
Sunny trug wie immer seinen Cowboyhut, der ihn vor den unbarmherzigen Sonnenstrahlen schützte, und Teddy hatte sich sein Halstuch zu einem Bandana gebunden, welches seine lange Mähne aus dunklen Haaren aus seinem Gesicht hielt.
Seit fast einer halben Stunde waren sie still nebeneinander her geritten und hatten ihren Gedanken freien Lauf gelassen, während sie dem staubigen Reitweg zur alten Mühle folgten.
Immer wieder glitt Sunnys Blick über den weiten Horizont der endlos anmutenden Heidelandschaft. Teddy hingegen ließ seinen Blick über den Reitweg streichen, um einige der dortigen Spuren zu lesen. Er wusste gerne, was vor ihm lag, denn schließlich waren Sunny und er nicht die einzigen Reiter, die diesen alten Pfad kannten.
Die Sonne blinkte in den silbernen Gürtelschnallen der beiden Freunde und ein leichter Wind strich durch ihr Gesicht. „Siehst du? Da vorne sind sie!“ Sunny zeigte mit dem ausgestreckten Arm über die endlose Weite der Heide und dann sah Teddy sie auch.
Immer wieder war er beeindruckt von der Größe der Sonnenberger Schafherde. Gleich einem ausgekippten Paket Abschminkwatte auf dem Badezimmerboden ergossen sich die wolligen Wolken auf vier Beinen über ein erkleckliches Stück der grünen Landschaft. Teddy sah, wie der Anblick der Herde seiner Familie den Stolz in Sunnys Augen aufblitzen ließ. Allein dieses Leuchten in den tiefblauen Augen, deren Farbe Teddy an die azurblauen Lagunen einer mediterranen Küste erinnerte, war den langen und staubigen Ausritt mehr als wert.
Mit einem Lächeln lenkte Sunny seine vierbeinige Freundin wieder auf den Weg und trieb sie mit einem leichten Schenkeldruck an.
Die beiden jungen Reiter verfielen in einen gemütlichen Trab in Richtung der alten Mühle. Teddy war gespannt, was sie dort erwarten würde. Seit dem letzten Sommer war er nicht mehr an diesem geheimnisumwitterten Ort gewesen und er hoffte, dass niemand ihr geheimes Versteck gefunden hatte.
Seit vier Jahren kamen die beiden regelmäßig am Anfang und am Ende der Sommerzeit zu diesem Ort, um ihr gemeinsames Ritual durchzuführen. Teddy erinnerte sich noch lebhaft an das erste Mal.
Er war damals noch recht aufgeregt gewesen, denn er hatte diesen besonderen Moment noch nie mit jemand anderem geteilt. Sunny, der in diesen Dingen erfahrener war, hatte ihn beruhigt.
Er erinnerte sich genau daran, wie Sunny ihm sanft versichert hatte, dass diese gemeinsame Erfahrung zwar beim ersten Mal ein wenig schmerzen könne, doch man sich daran gewöhnen würde. Der erwartete Schmerz war allerdings von der Aufregung verschluckt worden und als die beiden zwölfjährigen Knaben zurück geritten waren, so erinnerte sich Teddy, hatte er sich zum ersten Mal wie ein Mann gefühlt.
Dieses persönliche Ritual hatte nach ihrem ersten gemeinsamen Sommer das Band ihrer tiefen Freundschaft für immer fest verflochten. Auch die vielen Male danach waren immer noch mit einem süßen Schmerz verbunden gewesen, dennoch gab sich Teddy immer wieder vertrauensvoll in Sunnys Arme und wurde nie enttäuscht.
Er musste ein wenig lächeln, als er sich erinnerte, wie sie am Sommeranfang des letzten Jahres fast von Sunnys Cousin Adolpho und seiner BMX-Bande erwischt worden wären. Es war ihnen gerade noch gelungen, alle verdächtigen Spuren zu beseitigen. Die damalige Spannung kribbelte immer noch in seinem Bauch, wenn er daran dachte.
Als sich die beiden Freunde der alten Ruine näherten, hörten sie schon von Weitem das Gluckern des Mühlbaches.
Obwohl die Mühle vor knapp 50 Jahren bei einem Feuer zerstört worden war, war der Mühlbach immer noch der muntere Bachlauf, der schon seit Ewigkeiten durch das Tal floss. Es war eigentlich ein Seitenarm des gemächlichen Flusses, der das Tal in zwei Teile zerschnitt.
Behutsam näherten sich die beiden dem halb eingefallenen Steinhaus, immer auf der Hut vor eventuellen Beobachtern. Sie banden ihre Pferde an dem alten Baumstamm fest, der zwischen den großen Steinen am Bach unverrückbar eingekeilt war. Weder Wind noch Wetter hatten dem mächtigen Stamm zusetzen können, nun war er überzogen von Moosen und bot allerlei Getier Frieden und Schatten.
Die beiden Pferde schnaubten leicht und erkundeten mit ihren weichen Nüstern neugierig das Gras zu beiden Seiten des Stammes. Sunny, der eindeutig geschicktere Kundschafter, schlich leise zu den überwucherten Mauern der Ruine. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, pfiff er ihr gemeinsames Geheimsignal.
Teddy schnappte sich die Decke und eine Flasche Wasser aus Sunnys Satteltaschen und überprüfte kurz, ob er ansonsten alle notwendigen Utensilien in der Tasche aus olivgrünem Drillichstoff dabei hatte. Dann schlenderte er elegant hinter Sunny her, um seine Aufregung zu verbergen.
Sunny machte es spannend. Sie hatten die weiche Decke mit dem Einhornmotiv ausgebreitet und saßen gemeinsam darauf. Aufgrund der Hitze hatten beide ihr T-Shirt ausgezogen und ihre Oberkörper glänzten schweißnass im Sonnenschein. Obwohl Teddy schon alles Notwendige auf der Decke angeordnete hatte, ließ Sunny ihr gemeinsames Ritual langsam angehen. Er wollte nicht durch Hektik diesen wunderbaren Moment ihrer Freundschaft ruinieren.
Als er die feurige Aufregung in Teddys Augen brennen sah, wusste er, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. Sanft ergriff er Teddys Hand. „Wollen wir?“, flüsterte er sanft und blickte tief in seine Augen. Teddy brauchte nicht zu antworten, denn die Antwort war in sein Gesicht geschrieben. Sunny griff zu der Utensilientasche, die Teddy mitgebracht hatte und holte das wichtigste Werkzeug heraus. Teddy beobachtete mit halb geschlossenen Augen wie Sunny mit geübten Griffen den Klappspaten aufklappte.
Entschlossen gingen sie zu der altbekannten Stelle und während Teddy den großen Stein zur Seite hob, fing Sunny an, darunter zu graben. Es dauerte nicht lange, bis sie die alte metallene Geldkassette gefunden hatten. Feierlich trug Teddy ihren Schatz zurück zu ihrer Decke.
Als beide wieder saßen, holte Sunny den Schlüssel aus der geheimen Tasche im Innenfutter seines Cowboyhutes. Bedächtig schloss er die Kassette auf und hob den Deckel an. Darin befand sich ein kleines Sammelsurium aus Gegenständen und Schriftstücken.
„Gut“, meinte Sunny. „Wir machen es wie jedes Jahr - etwas Selbstgeschriebenes, sowie eine gute und eine schlechte Nachricht und danach nach alter überlieferter Tradition, etwas Blaues, etwas Altes, etwas Neues und etwas Geliehenes!“ „ Bist du dir wirklich sicher, dass es der klassische Blutsbrüderbund ist?“, fragte Teddy wie jedes Jahr. „Natürlich, wer von uns beiden hat die meisten Abenteuerromane gelesen?!“, antwortete Sunny voller Zuversicht.
Wiedermal blickte Teddy lange auf sein altes Seidentuch, das, befleckt mit ihrer beider Blut, das erste ihrer Devotionalien in der Schatzkiste war. Er war sich nicht sicher, ob Sunny sich dieses Ritual nicht nur ausgedacht hatte, aber er zuckte mit den Schultern. Tief in seinem Herzen fühlte es sich richtig an, daher packte er umsichtig seine sieben Opfergaben aus der Tasche.
Mehr als eine Stunde saßen die beiden Blutsbrüder auf der rosafarbenen Einhorndecke, verglichen ihre Opfergaben, erinnerten sich an die alten Geschichten und lachten gemeinsam.
Erst als die ersten roten Sonnenstrahlen über das Heideland zogen, verschlossen sie ihre Schatzkiste erneut und vergruben sie an der geheimen Stelle. Behutsam und sorgfältig hob Teddy erneut den Wächterstein auf den geheimen Platz, der die Seele ihrer Freundschaft bewachte. Sunny lächelte ihn an und plötzlich umarmte Teddy ihn aus einem Impuls heraus. Eine kurze Ewigkeit lagen sich die beiden langhaarigen Jungen wortlos in den Armen und genossen gegenseitig ihre Wärme und die sanfte Nähe, dann packten sie ihre Sachen, zogen ihre T-Shirts wieder über und schlenderten zufrieden zu den Pferden.
Als sie gemütlich in der Abendsonne wieder auf den staubigen Reitweg abbogen, wand sich Teddy noch einmal um und flüsterte „Bis in sechs Wochen, alter Freund“ in den kühlen Wind, dann drehte er sich nach vorne und gab seinem Hengst mit bestimmtem Schenkeldruck zu verstehen, dass er sich nicht von Sunny und Sauerbraten abhängen lassen wollte, die schon fröhlich vor ihm den Weg entlang galoppierten.
Seine Haare flatterten trotz des Bandanas im Wind und Teddy spürte die unendliche Freiheit und Freude, die durch seinen Körper pulsierten, als er und der beste Freund aller Zeiten auf den besten Pferden aller Welten über die abendliche Heide galoppierten.
Das Gebüsch raschelte nicht nur durch den Abendwind, als sich der alte Wanderer erhob. Er sammelte den beeindruckenden Haufen von Zigarettenstummeln auf, die sich in den letzten Stunden hier angesammelt hatten, während er mit seinem Fernglas die beiden Jungen beobachtet hatte. Kurz überlegte er, ob er den ominösen Inhalt der geheimnisvollen Kassette überprüfen wollte.
Er blickte auf sein Tablet und entschied, dass es genug für heute war. In der Pension wartete ein leckeres Abendessen auf ihn und er hatte heute mehr erfahren, als er gehofft hatte. Mit bedächtigen Schritten wand er sich dem Rückweg zu und der Abendwind ließ sein langes graues Haar ein wenig spielerisch in sein Gesicht flattern.
Er strich sich durch den Bart und grübelte, voller Vorfreude auf das, was in der Zukunft lag.