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Verschwörung im Hexenholz

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Verschwörung im Hexenholz

Leise schlich sich Alise durch das dichte Unterholz des Bärenbrunner Forstes.

Dank umfangreicher Schutzmaßnahmen hatte sich dieses wunderschöne Stück ihres heimatlichen Tals zu einer Art natürlichem Urwald entwickelt. Moose und Farne bedeckten, neben den allgegenwärtigen Brennnesseln, den ansonsten steinigen Untergrund des Mischwaldes, der mehrere Hektar des westlichen Hanges der hohen Rückenkracher-Hügel bedeckte. Nur wenige Wanderpfade führten durch das geschützte Revier, das nominell der Familie Bärenspalt gehörte, die noch immer auf der ehrwürdigen Burg Bärenspalt hoch oben auf einem der Hügel residierte.

Die wohlhabende adelige Familie hatte den ehemaligen gräflichen Forst zu einem Reservat umgewidmet, um den Naturbestand des wunderschönen Tales zu erhalten. In einigen seiner Ausläufer erstreckten sich dieser Forst und das entsprechende Naturschutzgebiet sogar bis tief ins Tal zu den Ufern des großen Flusses, an dessen Westseite die unendliche Weite der Heide begann.

Oft kam Alise in den fast unwirklichen Zauberwald, um nach seltenen Kräutern oder Pilzen Ausschau zu halten, deren Ernte in begrenztem Rahmen der einheimischen Bevölkerung erlaubt worden war, zumindest aus Gewohnheitsrecht. Manchmal beobachtete sie auch Tiere oder genoss einfach nur so den Aufenthalt unter dem grünen Blätterdach, durch das die Sonne nur in Form ätherischer Strahlen drang.

Viele der Bewohner des Tales fanden große Teile des Waldes, gerade abseits der Wanderwege, schlicht gesagt, etwas unheimlich. Ein ganzes Stück des beeindruckenden Grüns trug den einfallsreichen Namen „Hexenholz“ und noch immer erzählten die einheimischen Eltern ihren Kindern gruselige Geschichten aus der Zeit, als in diesem wunderschönen Tal die Feuer der Hexenprozesse gebrannt hatten.

Viele alte Familiennamen stammten noch aus jener dunklen Zeit des Mittelalters, als Angst, Schrecken und der schwarze Tod als grausame Reiter durch das Land gezogen waren, um das Ende aller Dinge zu bringen. Auch heute war die katholische Gemeinde der Gegend immer noch auf der Hut.

Selbst die diversen Gerüchte über eine Verwandtschaft der Familie Bärenspalt zu der ungarischen Familie der Bathorys, deren Linie unter anderem die berühmte Blutgräfin entsprang, hielten noch immer so manch einen abergläubischen Bauern von seinem Nachtschlaf ab.

Dass Graf Thomas Robert Wagenmacher der Dritte, Graf von Bärenspalt, der Fünfte seines Namens und Herr über Burg Bärenspalt, sowie deren Ländereien, ein gesteigertes Interesse an dem Schutz der hiesigen Fledermauspopulation hatte, ließ diese Gerüchte auch nicht wirklich verstummen.

Es war erstaunlich, welche Aberglauben sich angesichts der wahren Probleme der ländlichen Gegend hartnäckig hielten, dachte Alise, während sie weiter leise wie eine Schlange durch das Unterholz schlich.

Nur durch Zufall hatte sie von dem geheimen Treffen erfahren und hatte die Absicht, die dunkle Verschwörung dieses Kreises einheimischer Hexen zu durchkreuzen. Doch dafür musste sie Informationen sammeln.

Sie wusste, dass der dunkle Zirkel etwas Bedeutendes plante. Doch noch viel mehr störte sie, dass sich dieser verzogene Haufen, der nicht das kleinste bisschen Ahnung über die alten Traditionen hatte, den Ruf der ehrwürdigen Töchter der Wicca in den Dreck zogen.

Als Abkömmling zweier Familien mit einer langen, magischen Tradition auf der weiblichen Seite, hatte sie sogar von zwei Großmüttern den Weg der Hexerei erlernt und auch regelmäßige Besuche in sämtlichen alternativen Buchhandlungen der Umgebung hatten ihr Geheimwissen gemehrt. Sie konnte nicht zulassen, dass eine Gruppe von pubertierenden Hühnern ihre Tradition befleckte.

Als sie die ersten Stimmen vernahm, duckte sie sich in das Wurzelwerk einer alten Eiche und spähte vorsichtig zwischen einigen dichten Farnblättern hindurch. Nur wenige Meter entfernt, auf einer kleinen moosigen Lichtung, saßen die fünf Möchtegern-Hexen. Zwei von ihnen hatten sich ihrer Schuhe entledigt und badeten ihre Füße in dem kleinen Bächlein, welches die Lichtung munter durchfloss, während zwei der anderen gerade eine Art Picknick auspackten.

Die Fünfte, Benediktina Zapfenstreich, eine hochnäsige Göre aus einer der alten Bauerndynastien der Gegend und die eindeutige Königin dieses Haufens, saß auf einem altem Baumstumpf und rauchte, übertrieben nonchalant, eine Zigarette. Ihr engelsgleiches, blondes Haar glänzte in der nachmittäglichen Sommersonne wie Gold und ihre katzenhaften, kornblumenblauen Augen waren zu schmalen Schlitzen geschlossen. Wie immer saß ihre Bluejeans fast einen Hauch zu eng an ihren Leichtathletik- trainierten langen Beinen. Jeder wusste, dass Benediktina die beste Läuferin im ganzen Tal war und sie hatte schon mehrfach die Freudentaler Stadtmeisterschaften gewonnen.

Aufgrund ihrer immer wieder bestätigten herausragenden Erscheinung und ihres sportlichen Talentes war sie ein Idol in der Mittelstufe des örtlichen Gymnasiums. Obwohl sie nur eine mittelmäßige Schülerin war, erschlich sie sich mit sozialem Geschick und fiesen Intrigen immer wieder gute Noten und war bei Schülern und Lehrern beliebt.

Seit nunmehr zwei Jahren war die halbjährliche Wahl des Klassensprechers ein beständiges Duell zwischen Benediktina und Alise, das Alise stets verlor. Aus mangelndem Interesse von Seiten der Klasse war sie die dauerhafte, stellvertretende Klassensprecherin.

Während sie alle Arbeiten erledigte, sackte Benediktina stets das Lob ein.

Dazu kam, was aber Alise im Prinzip egal war, dass seit Anbruch der Pubertät alle Jungen in der Klasse die sabbernden Sklaven der blonden Königin waren.

Es wäre nur halb so schlimm, wenn nicht alle Mädchen in der Klasse unheimlich in ihren zwei Jahre älteren Bruder Clemens Zapfenstreich verliebt wären, dem blonden König der Oberstufe des Freudentaler Gymnasiums und amtierenden Schülersprecher. Da sie es geschafft hatte, wirkungsvoll unter dem Schutz ihres Bruders und seiner Freunde zu stehen und sie ihrem engeren Zirkel Zugang zu Devotionalien des angebeteten Clemens gewährte, war sie nahezu unantastbar.

Zwar kannte Alise durch ihren eigenen älteren Bruder einige der dunklen Geheimnisse des hochnäsigen Schön lings, da beide eine längere Zeit Mitglied des örtlichen Tennisclubs gewesen waren, aber seit ihr Bruder sich anderen Interessen zugewendet hatte, war diese Informationsquelle dürftig.

Früher, als Kinder, waren Benediktina und Alise fast Freundinnen gewesen, als beide noch zusammen in die Freudentaler Ballettschule gegangen waren, aber nachdem Alise mit zwölf Jahren für zwei Jahre bei ihrer Familie im Ausland gelebt hatte, waren die Bedingungen, die sie bei ihrer Rückkehr in ihrer alten Heimat vorgefunden hatte, verändert gewesen.

Die letzten zwei Jahre, seit sie wieder hier im Tal lebte, war sie plötzlich zum Feindbild der exklusiven Mädchenclique um ihre ehemalige Freundin geworden und Alise wusste immer noch nicht, warum.

Neugierig beobachtete sie, wie sich Lauretta, eines der anderen Mädchen, Benediktina näherte. Es war zum Teil Glück, dass der Wind aus Richtung der Mädchen kam, denn so verdeckte er Alises Geruch und trug die Worte der beiden Mädchen deutlich zu ihr herüber. Andererseits wehte es auch den penetranten Geruch von synthetischer Erdbeere hinüber, der aus der chemischen Abomination entsprang, die irgendein trendiger Spinner dummen Mädchen als „Parfüm“ verkaufte. Da sich Alise ihre Kosmetika immer selbst herstellte, hatte sie kein Verständnis für die ätzenden chemischen Untertöne dieser Art von konsumgeiler Selbstverstümmelung.

Lauretta war ein gut aussehendes, brünettes Mädchen, das meist sehr ruhig, fast schüchtern wirkte. Trotzdem war sie als Benediktinas Adjutantin die heimliche Kraft so manch einer Schandtat. Alise wusste, dass Lau retta bei weitem klüger und verschlagener war, als ihre großen, rehbraunen Augen vermuten ließen.

Aus ihrer Position konnte sie das heimliche Gespräch der beiden Mädchen besser belauschen als die anderen Mädchen, die mit den Vorbereitungen auf ihr Picknick fast fertig waren. Deutlich hörte sie Benediktinas glockenhelle Stimme, die ihr immer wieder das Lob des Chorleiters des katholischen Jugendchores einbrachte.

„Dieses Jahr muss es klappen, ich will ihn haben!“

„Wir werden es schaffen, Tina“, antwortete Lauretta und Alise wunderte sich schon fast, dass sie dabei nicht salutierte. Noch bevor Alise gründlich darüber nachdenken konnte, wer wohl gemeint war, nahm das Gespräch weiter seinen Lauf.

„Wir können es uns, auch gerade als Gemeinde, nicht leisten, dass beständig diese auswärtigen Feriengäste an unseren einheimischen Jungen kleben und müssen deutlich ein Zeichen setzten.“ „Stimmt“, antwortete Lauretta eifrig nickend. „Ich tue es ja nicht für mich“, fuhr Benediktina fort, „sondern zum Wohle der Gemeinde. Man könnte fast sagen, ich opfere mich dem Gemeinwohl.“ „Oh ja, das tust du stets“, schmeichelte sich ihre Speichelleckerin ein. „Wir brauchen unbedingt Unterstützung von deinem Cousin“, fuhr Benediktina fort. „ Marc-André ist ein wahrer Spezialist in manchen Dingen und du solltest versuchen, ihn für unsere kleine Affäre als Verbündeten zu gewinnen.“

Schon beim Gedanken an Marc-André Büttelsbrunft, den missratenen Sohn des hiesigen Polizeichefs, Hauptkommissar Büttelsbrunft, zog sich Alises Magen zusam men. Dieser kleine, perverse Saboteur erzeugte stets ein Übelkeitsgefühl bei ihr.

Was immer es für eine Intrige war, wenn sie zu solchen Verbündeten griffen, konnte das Ergebnis nur entsetzlich sein.

„… aber du weißt, er wird dich aufgrund seiner eigenen Schwärmerei nicht wirklich darin unterstützen, Sunny zu deinem festen Freund zu machen, es sei denn, er hätte etwas davon.“ „Er braucht das Ziel der Mission nicht zu kennen, Hauptsache, er funktioniert.“ „Ich habe da eine Idee, wie wäre es, wenn wir ihm das Ganze als seinen eigenen Plan verkaufen?“ „Und wie soll das funktionieren?“, fragte Benediktina mit vor Aufregung roten Wangen.

„Also, wenn ich ihm anbiete, im Austausch gegen einen Erlass eines Teils meiner Schulden bei ihm, natürlich nur als Vorwand, dich auf Sunny anzusetzen, damit du ihm mit deinem verführerischen Wesen vom diesjährigen Bandwettstreit beim Open-Air-Festival ablenkst, würde Marc-André sich wahrscheinlich voll reinhängen.“

Alise bewunderte Laurettas Raffinesse. In der Tat war Sunny bekannterweise ein rotes Tuch für Marc-André, da seit seinem Rauswurf aus Sunnys Band und der Gründung seiner eigenen Truppe, Marc-André ständig bei dem jährlichem Fest unterlegen war, sodass er heimlich von einem Sieg über seinen ehemaligen Mit-Musiker träumte. Fast noch mehr verwunderte Alise jedoch Benediktinas plötzliches Interesse an Sunny.

Gut, sie mochte Sunny auch, denn eigentlich jeder mochte den netten Kerl, aber sie hätte nicht gedacht, dass es die wilde Bestie auf dieses unschuldige Beutetier abgesehen haben könnte. Verwundert lauschte sie weiter.

„… hast du auch dafür einen Plan, denn schließlich hängt er ja jeden Sommer mit diesem Großstadtcowboy rum?“ Abscheu spiegelte sich in Benediktinas Augen. Natürlich, denn letztes Jahr hatte Teddy der hochnäsigen Dame doch durchaus auf amüsante Weise seine Meinung gesagt, als die beiden auf dem Mittelaltermarkt eine unerfreuliche Begegnung hatten. Teddys Wortwitz war sie nicht gewachsen gewesen und für Alise, die durch Zufall Zeuge des Vorfalls geworden war, war er dadurch zu einem Highlight ihrer letzten Ferien geworden.

„Nun, eine von uns muss ihn wohl ablenken, wahrscheinlich mit dem Einsatz von weiblichen Waffen“, erklärte Lauretta. „Da die anderen wohl nicht das nötige Potential haben, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, werde ich mich wohl opfern müssen.“ Sie seufzte tragisch und verdrehte die Augen, doch im Unterschied zu Benediktina erkannte Alise durchaus das raubtierhafte Lächeln, das kurz Laurettas Gesicht durchzuckte. Offensichtlich hatte sie eigene Pläne. Die anderen Mädchen riefen die beiden Verschwörerinnen zum Picknick und Alise suchte sich eine bessere Position, um auch den Rest der Gespräche zu belauschen.

Obwohl es sie eigentlich nichts anging, wollte sie Sunny retten, schließlich war er ja der Fechtschüler ihres Vaters.

Der Vollmond schickte seine silbernen Strahlen über das mitternächtliche Tal und die Sterne leuchteten hell am klaren Nachthimmel. Das ganze Tal war in Schlaf versunken und eine unwirkliche Ruhe hatte sich über die kleine Stadt Freudental gesenkt.

Alise saß auf ihrer Lieblingsbank, die versteckt zwischen alten Rhododendren-Büschen auf der Ostseite des alten Friedhofs stand. Der süße, schwere Duft der blühenden Büsche berührte sie mit jedem Windzug des kühlen Nachtwindes.

Sie hatte sich zum Nachdenken auf den uralten Teil des Friedhofs zurückgezogen, da sie die Ruhe und den Frieden dieses Ortes zu schätzen wusste. Zwischen den hohen Büschen und den Tannenhölzern gab es hier sehr alte Gräber mit prächtigen Grabsteinen, die mit steinernen Engeln oder anderen Insignien kunstfertig geschmückt waren und vom Reichtum der mittelalterlichen Handelsstadt zeugten. Trotz der dichten Bepflanzung schienen die Sterne hell auf die gepflegten Wege des Friedhofes und Alise brauchte in dieser Vollmondnacht kein weiteres Licht, als jenes, dass ihr Mutter Mond schenkte.

Nachdenklich schaute sie zu den Sternen und betrachtete die unzähligen funkelnden Feuer des Nachthimmels. Sie kannte die Konstellationen von zumindest vier verschiedenen astrologischen Schulen und konnte über hundert Sternzeichen aus Dutzenden Kulturen identifizieren, doch waren astrologische Berechnungen für sie nur eine Fingerspielerei, denn sie hielt diese Form der Divination für recht unzuverlässig.

Nachdem sie am frühen Abend nach Hause zurückgekehrt war, um das Abendessen für ihre Männer zuzubereiten, hatte sie sich auf einen Blick in die Geheimnisse der drei Nornen, den Wächterinnen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vorbereitet.

Als sie das gemeinsame Abendessen mit ihren beiden Brüdern und ihrem Vater beendet hatte und die Küche wieder aufgeräumt gewesen war, hatte sie das alte Tarot-Deck ihrer Mutter benutz, doch ihre Lesung war verwirrend gewesen. Auch die alten druidischen Runensteine, die sie von ihren Urgroßvater geschenkt bekommen hatte, hatten kein Licht in die Angelegenheit bringen können. Kurzentschlossen hatte sie sich in ihre Lieblingskleidung, die schwarzen Hüftjeans und ein schwarzes, langärmliges Rollkragenshirt, gewandet und war zum Friedhof gewandert.

Wie gewohnt war sie über die ihr bekannte Stelle der alten Mauer geklettert und hatte erst das Grab ihrer Mutter für eine kleine Zwiesprache besucht, bevor sie sich zu ihrem Lieblingsplatz wandte.

Ihre Mutter war vor elf Jahren verstorben, noch bevor Alise in die Grundschule kam. Aber sie hatte das Gefühl, dass der Geist ihrer geliebten Mutter stets über sie wachte.

Seit dem tragischen und auch mysteriösen Unfall, hatte ihr Vater die drei Kinder allein großgezogen und Alise hatte stückchenweise immer mehr die Organisation des chaotischen Männerhaushaltes übernommen.

Sie kümmerte sich gerne um ihre beiden älteren Brüder und, obwohl der Ältere bereits aus dem Haus war und in Heidelberg Medizin, Psychologie und Philosophie studierte, kam er in den Semesterferien zurück nach Hause, um sich wieder ins familiäre Nest zu setzen. Stöhnend dachte Alise erneut an den riesigen Wäscheberg, den er ihr als "Mitbringsel" mitgebracht hatte.

Zumindest half er ihrem Vater fleißig bei der Vorbereitung auf den großen Mittelaltermarkt und all die anderen Festlichkeiten, die der Sommer mit sich brachte. Auch ihr Vater war im Sommer schwer beschäftigt.

Zwar gehörte er als emeritierter Professor der Archäologie nominell immer noch der Universität in der nahe gelegenen Großstadt an, aber seit er die Dorfschmiede sei nes Vaters nach dessen Tod übernommen hatte, war seine wissenschaftliche Arbeit eher der kunsthandwerklichen Form der experimentellen Archäologie zugewandt. Lediglich einmal in der Woche fuhr er in die Stadt, um Vorlesungen zu halten, Geschäfte durchzuführen und sich mit seinem Lektoren zu treffen. Im Gegenzug wuselten über das ganze Semester ausgewählte Studenten durch die alte Schmiede, um das Geheimnis der mittelalterlichen Waffenschmiedekunst oder des Kunstschmiedehandwerks zu erlernen.

Im Sommer waren nur der Geselle, der Lehrling und ihre Brüder in der Schmiede tätig. Selten beschäftigte sich auch Alise in der Schmiede, denn ihr Vater sah nicht gerne zu, wenn ein „zartes Mädchen“ den Hammer schwang.

Dennoch schätzte er ihre Handarbeiten, was die Gestaltung des Lederzubehörs, wie z.B. Messerscheiden anging und ihre Spielereien in der Kunst des Gold-und Silberschmiedehandwerks, mit dem sie Verzierungen für manche Produkte ihres Vaters fabrizierte und über das Jahr auch ein wenig Schmuck herstellte, der stets ihren Stand auf den diversen Festen um ein weiteres gutes Handwerksprodukt bereicherte.

Neben einigen Kursen an der Volkshochschule, hatte sich Alise diese Handwerkskünste, wie so vieles, autodidaktisch aus verschiedenen Büchern und Dokumentationen beigebracht. Da ihr Vater seit dem Tod ihrer Mutter etwas exzentrisch geworden war, hatte er es lobend zur Kenntnis genommen, aber sich nicht über die seltsamen Talente seiner Tochter gewundert. Wahrscheinlich war er seltsame Hobbys und plötzliche neue Fähigkeiten auch hinreichend von ihren großen Brüdern gewohnt.

In der Tat glaubte Alise, dass ihre Brüder erst, als sie mit Brüsten aus ihrem langem Auslandsaufenthalt zurückgekehrt war, erkannt hatten, dass sie ein Mädchen war, denn alle Mitglieder ihrer kleinen Familie trugen das charakteristische, dunkelrote Haar unbändig lang.

Dank geschickter Pflege hatte sich Alise noch nie in ihrem Leben die Haare schneiden lassen und die langen, roten Locken fielen ihr, wenn sie es offen trug, bis weit über die Hüfte herunter. Doch zumeist trug sie einen nach französischer Art selbst geflochtenen Zopf, dessen Ende zwischen ihren Pobacken baumelte und gerade kurz genug war, dass sie nicht dauernd beim Setzen darauf achten musste. Offen waren ihre langen Locken und das dichte Haar wild und wirkten fast unbezähmbar.

Der tägliche Zopf war ein Manifest von Alises eisernem Willen.

Durch die Querelen ihrer Brüder, die beide eine extrem alberne Pubertät durchlebten, und Alises jungenhafte Art, wurden die argwöhnischen Vorurteile gegen einen alleinerziehenden Vater von allerlei Gerüchten untermalt.

Je älter Alise wurde, umso mehr wurde sie zu einer Art Außenseiter. Ihr Hang zu dunkler Musik und schwarzer Kleidung bestätigte ihre Mitschüler und die anderen Gleichaltrigen umso mehr. Dazu passte auch, dass sie den Fehler gemacht hatte, ihre Intelligenz und ihr breitgefächertes Allgemeinwissen nicht zu verheimlichen. Sie hatte in der ganzen Stadt keine wirklichen Freunde.

Ihren einzigen Freundeskreis traf sie einmal in der Woche, wenn sie freitags nach der Schule in die Großstadt fuhr und sich mit Anderen zu ihrem gemeinsamen Hobby traf. Streng trennte sie dieses „zweite Leben“ von ihrem Freudentaler Alltag und nur ihre Brüder, die sie in die Sze ne eingeführt hatten, wussten um ihr seltsames Hobby, welches bei keinem der Freudentaler Jugendlichen auf Verständnis gestoßen wäre.

Doch alle diese Gedanken über ihr eigenes Dilemma halfen ihr nicht bei ihrem eigentlichen Problem. Wie sie Sunny vor der heimtückischen Benediktina retten konnte, war ihr noch ein Rätsel. Sie brauchte einen Plan, um sich unauffällig in Sunnys Nähe aufzuhalten. Zumindest brauchte diese Mission eine gute Ausrede. Plötzlich kam ihr eine zündende Idee.

Da Sunny ja auf dem Sonnenberger Gestüt mitarbeitete, könnte sie ihn nach Reitstunden fragen. Zwar konnte Alise perfekt reiten, denn ihr Großonkel, der Olympiasieger im Modernen Fünfkampf, dem sogenannten Pentathlon war, hatte darauf bestanden, dass die Kunst des Reitens, genauso wie das Fechten und Savate, eine alte französische Kampfkunstart, genauso zur klassischen Ausbildung einer jungen Dame gehörte, wie einige andere interessante Künste und Alise hatte alles gelernt wie ein ausgetrockneter Schwamm Wasser aufnahm. Da diese Ausbildung jedoch im Chateau der Familie an der felsigen Küste der Normandie erfolgt war, wusste außerhalb ihrer Familie niemand vor Ort von ihren Kenntnissen.

Reitstunden von Sunny wären eine gute Möglichkeit dessen Nähe zu suchen, ohne Argwohn zu erwecken. Nur in der Schmiede konnte sie das nicht mit ihm verabreden. Zwar war Sunny ein gern gesehener Gast in der kleinen Fechthalle hinter der Schmiede, die zum Anwesen gehörte, aber ihr Vater oder ihre Brüder könnten das in den falschen Hals bekommen und sowohl auf Spott, als auf den Versuch ihrer Brüder, sie zu verkuppeln, konnte sie verzichten.

Es war sowieso nervig, dass ihre Brüder sie dauernd bedrängten, sich einen festen Freund zu suchen. Das war keine gute Idee.

Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Morgen würden sie doch mit dem Orchester der Freudentaler Musikschule für das Sommeranfangskonzert im Stadtgarten üben. Sunny war, genauso wie sie, in der ersten Garnitur dieser illustren Gruppe und obwohl ihre Plätze in der Aufstellung des Orchesters völlig unterschiedlich waren, denn Sunny war als erster Violinist ein Teil der Streicher und Alise saß mit ihrer Querflöte in der Bläsersektion, würde es dennoch eine Möglichkeit geben, ihn vor Ort anzusprechen.

Sie hoffte, ihre jährliche Konkurrenz beim Kirchenfest würde ihn nicht abschrecken. Seit den letzten zwei Jahren buhlten sie als Konkurrenten um den ersten Platz des Nachwuchs-Kuchenbackwettbewerbs des sommerlichen Wohltätigkeitsfestes der Gemeinde. Da beide jeweils einmal mit ihrem Apfelkuchen gewonnen hatten, stand dieses Jahr die endgültige Entscheidung aus, wer der Apfelkuchenkönig des Tales wurde. Sie hatte zwar Sunny letztes Jahr als guten Verlierer erlebt, der sogar ausdrücklich ihren Apfelkuchen gelobt hatte und sich heimlich ein zweites Stück stibitzt hatte, aber man wusste ja nie. Sie musste es riskieren.

Entschlossen stand sie auf. Zeit, nach Hause zu gehen, um sich noch einen Gute-Nacht-Tee nach eigenem Rezept zu brauen und dann ein wenig Ruhe zu suchen. Der Sommer würde viele Aufgaben für die entschlossene Alise bereithalten.

Es war bereits nach zwei Uhr in der Nacht, als Alise mit ihrem frisch aufgebrühten Tee in ihrem gemütlichen Dachbodenzimmer saß. Über den Bildschirm ihres mittelgroßen Flachbildfernsehers flimmerte eine BBC-Reportage über das Leben der Niederrheinischen Flachland-Langhaar-Bonobos, deren Zuchtprogramm gerade in einem Zoo neu gestartet worden war. Sie saß währenddessen gemütlich in ihrem Chefsessel an ihrem Schreibtisch und beobachtete die drei Monitore. Während auf dem einen Monitor ihr Mail-Programm offenstand und sie mit der Vielzahl ihrer Brieffreunde, bzw. Online-Bekanntschaften in aller Welt kommunizierte, las sie auf dem zweiten Monitor den neuesten Teil ihrer Lieblingsromanserie als E-Book. Der Jüngere ihrer beiden Brüder, der ein Händchen für Informatik hatte, war so lieb gewesen, ihr ein eigenes E-Book-Leseprogramm zu entwickeln, was auf ihre Bedürfnisse eingestellt war und in einem, ihr angenehmen, Tempo den Text selbständig fließen ließ.

Auf dem dritten Monitor war der Internetbrowser geöffnet und mehrere Reiter kündeten von ihrer fleißigen Recherche zu den verschiedensten Themen.

Alises Gehirn war schon seit frühester Kindheit in der Lage, mehrere Informationen zeitgleich zu verarbeiten. Seit ihrer ausführlichen Beschäftigung mit der Theorie des Gedankenpalastes und dem Studium der Trainingsmethoden diverser Gedächtniskünstler konnte sie außerdem auch alles aufgenommene Wissen jederzeit wieder abrufen.

Obwohl sie es selbst niemals so bezeichnen würde, fand ihr behandelnder Psychologe, dass sie ein eidetisches Gedächtnis besaß. Ihr Intelligenzquotient von 130 bestätigte ihre kognitive Begabung noch zusätzlich.

Leider hatte ihre geistige Fähigkeit einen herben Haken, denn seit ihrer Kindheit litt sie an einer seltenen Form der Hyperaktivitätsstörung, die nicht nur ihr Gehirn in dauernder Aktivität hielt, sondern auch dafür sorgte, dass es an ein Wunder grenzte, wenn sie mal mehr als drei Stunden in der Nacht schlief.

Da ihr Vater nicht an die wundersame Wirkung von Ritalin oder ähnlichen Substanzen glaubte, war er nicht der Empfehlung des Schulpsychologischen Dienstes gefolgt, Alise bei einem spezialisierten Psychiater „einstellen“ zu lassen, aber hatte ein Einsehen, dass sich sein Kind, auf dringendes Anraten der Grundschule, von dem örtlichen Psychologen untersuchen ließ und letztendlich dort in regelmäßige Behandlung ging.

Seit ihrer Rückkehr vor zwei Jahren besuchte sie regelmäßig, zweimal pro Monat, eine Therapiesitzung bei Dr. Hasenstolz, ihrem Psychologen, der ihr half, Strategien zum Umgang mit ihrer besonderen Situation zu entwickeln.

Natürlich wusste das ganze Dorf, dass sie zu dem, als exzentrisch verschrienen, Doktor ging. Die Folge war, dass die Gerüchte über ihre angeblichen Geisteskrankheiten immer wieder neu und in den seltsamsten Formen die Runde in der kleinen Stadt machten. Selbst ihre Lehrer, die es besser wissen sollten, waren häufig skeptisch gegenüber ihrer geistigen Verfassung. Alise hatte sich daran gewöhnt, eine Außenseiterin zu sein.

Von ihrer Großmutter hatte sie ein gutes Tee-Rezept erhalten, das sie mit den von ihr herangezogenen Kräutern aus dem eigenen Garten zubereitete. Der Tee schenkte ihr die innerliche Ruhe und Gelassenheit, um sich nicht dauernd geistig selbst zu überholen. Für den Notfall fertigte sie regelmäßig leckere Kekse mit einer leicht abgewandelten Mischung der Rezeptur an, um diese für Notfälle bereit zu halten, wenn sie zum Beispiel in der Schule war.

Sie schwor auf das uralte Familienrezept und selbst ihre Brüder und ihr Vater profitierten davon. Da alle drei ihrer Männer leider rauchten, hatte sich Alise angewöhnt, für die ganze Bande regelmäßig eine größere Portion eines guten Tabaks aus biologischen Fair-Trade-Quellen zu erwerben, den sie über einen Importladen in der Großstadt bezog. Statt diesen chemisch zu imprägnieren und zu parfümieren, verfeinerte sie ihn selber mit einer Variante der guten Kräutermischung und einigen zusätzlichen Bestandteilen, um ihre Männer zumindest zum Teil vor den negativen Auswirkungen des Rauchens zu schützen.

Sie machte sich zwar ein wenig Sorgen, da das Studium ihres großen Bruders scheinbar so stressig war, dass seine Bestellungen an Keksen und Tabakmischungen sich extrem erhöht hatten, aber wenigstens zuhause schien sich sein Konsum wieder zu normalisieren.

Auch ein paar ihrer Nachhilfeschüler hatten zur Beruhigung und Unterstützung vor bedeutsamen Prüfungen mal einen Keks zum probieren bekommen und einigen schien dies auch zu helfen.

Seit sie vor einem Jahr begonnen hatte, Nachhilfeunterricht in Englisch und Französisch für ein paar Oberstufenschüler zu geben, hatte sich die Zahl ihrer Nachhilfeschüler bereits verdoppelt und fast alle von ihnen hatten nicht nur signifikant ihre Noten verbessert, sondern spendeten auch regelmäßig in ihren Backfond im Austausch gegen einige der leckeren Kekse. Natürlich blieben diese Nachhilfestunden geheim, denn sie wollte den Oberstufenschülern die Peinlichkeit ersparen, dass jemand her ausfand, wer ihr Nachhilfelehrer war und dass eine Mittelstufenschülerin sie zu Bestnoten trieb.

Sie war auch heimlich stolz darauf, dass zwei ihrer Schützlinge es geschafft hatten, sich durch ihre magischen Kekse von einer beginnenden Drogensucht zu kurieren.

Beide hatten sich vorher durch Marc-André, der wohl der heimliche Drogenbaron des Proberaumzentrums beim Freudentaler Jugendhaus war, zu dem Konsum von sogenannten „Leichten“ Drogen überreden lassen und mit ihm in den Pausen gemeinsam sogenannte „Joints“ geraucht.

Marc-André wollte damit die Oberstufenschüler, deren Band ebenfalls im Proberaumzentrum des Jugendamtes spielte, auf seine Seite ziehen, nicht nur um seine miesen Drogen zu verkaufen. Zum Glück wusste er noch nicht, dass es Alise war, die ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

Sie hatte nicht genug Beweise, dass Marc-André dort mit Drogen handelte, sonst hätte sie bereits die dortigen Erzieher eingeweiht, aber die Vermutung lag nahe, da schon sein älterer Bruder aus diesem Grund ein Hausverbot bekommen hatte. Nur der Umstand, dass der Vater der beiden halbkriminellen Vollidioten der hiesige Amtsstellenleiter der Polizei war, hatte Ernsthafteres verhindert.

Indes war sowohl ihre Nachhilfestunden-Kasse, als auch ihr Backfond zu ansehnlichen Höhen gestiegen und hatten sich zu einer guten Quelle ihres Einkommens gemausert.

Nachdem sie die letzten Reste ihres Tees genossen hatte, beschloss sie während der letzten Stunden der Nacht, bevor ihr Bett sie rief, sich dem Anmalen von klei nen Plastikfiguren zu widmen. Sie holte die Plastikboxen mit dem Material aus ihrem Schrank und schloss den Browser, um die Seite mit den Vorlagen zu öffnen. Mittlerweile lief eine Dokumentation über Ratten in der Londoner Kanalisation im Fernsehen, was ausgezeichnet passte, denn die Figuren waren einige Zentimeter große Darstellungen von kriegerischen, anthropomorphen, also vermenschlichten, Ratten, die sie für den größeren ihrer Brüder kunstvoll bemalen wollte, denn in einigen Tagen wollte er bei einem Spieletreffen in einem Jugendzentrum in der Großstadt diese Figuren bei einem Table-Top-Turnier benutzen.

Dieses Spiel war eine Art Brettspiel, bei dem die Spieler ihre fantastischen Armeen auf kunstvoll gebauten Schlachtfeldern gegeneinander antreten ließen. Ein ziemliches „Nerd“-Hobby, aber Alise freute sich, dass ihr Bruder sich mit seinen alten Freunden aus der Gegend zu diesem Anlass traf.

Wahrscheinlich würde sie ihn begleiten, denn im Gegensatz zum jüngeren ihrer Brüder, der nur am heimatlichen PC spielte und ausschließlich zu großen Computerspielemessen fuhr, mochte sie es, wenn man sich zum Spielen an einem Tisch traf.

Es war weit nach vier Uhr, als sie alles an Elektronik herunterfuhr, aufräumte und sich dann ihrer Kleidung entledigte, um sich in ihr Bett zu kuscheln. Hätte sie von den komischen Träumen gewusst, hätte sie auf ihren Schlaftrunk verzichtet und lieber die Nacht mit anderen Dingen verbracht. Hätte sie gar von den prophetischen Bestandteilen gewusst, hätte sie noch zusätzlich eine Kanne Tee für den Morgen vorbereitet.

Trotz seltsamer Träume erwachte sie pünktlich wie ein Uhrwerk zu ihrer gewohnten Stunde und begann gleich mit ihrer Morgenroutine. Um den Tag gut zu beginnen, benutzte sie eine massageähnliche Entspannungstechnik an sich und ging nach ihrem anschließenden morgendlichen Sportprogramm unter die Dusche.

Die Träume hatten sie so verwirrt, dass sie unter der Dusche ebenfalls zu einigen hilfreichen Entspannungstechniken griff, bevor sie sich in ihr kuscheliges großes Handtuch gehüllt auf ihr Bett setzte und sich ihrer Haarpflege annahm. Um ihre Erfolgschancen bei der Mission zu erhöhen, beschloss sie, ein wenig Make-Up aufzutragen und unterstrich ihre smaragdgrünen Augen gekonnt mit einem Hauch ihres selbstgemachten Eyeliners.

Zu der gut sitzenden, schwarzen Hüftjeans entschied sie sich für ihr Lieblings-T-Shirt. Zwar war das schwarze T-Shirt mit dem in schwarz-weiß gehaltenen Aufdruck aus einer ihrer Lieblings-Graphic Novels – sie hasste es, wenn bei dieser Form der Kunst von Comics gesprochen wurde – schon recht ausgewaschen und eigentlich war es auch schon fast zu eng, aber es war halt ihr Glücks-Oberteil.

Sie entschloss sich, ihr Palästinensertuch als Halstuch mitzunehmen, welches mit ätherischen Ölen präpariert war, die zu einer positiveren Wahrnehmung der Trägerin verleiten sollten, denn Alise konnte jede Hilfe gebrauchen.

Sie beschloss, ihre Umhängetasche und ihren Flötenkoffer schon mit in den Flur zu nehmen, als sie sanft die Treppe hinunterglitt, um das Frühstück für ihre Familie vorzubereiten. Spannende Erwartung kribbelte in ihrem Bauch und sie war gleichzeitig nervös und voller Vorfreude auf die heutige Orchesterprobe.

Das Spiel hatte begonnen.

Fröhlich begrüßte eine Gruppe Spatzen mit lautem Gezwitscher die morgendliche Stadt. Die Sonne schickte die ersten warmen Strahlen in die engen, verschlafenen Gassen der mittelalterlich anmutenden Innenstadt von Freudental.

Die Fassaden der alten Häuser waren liebevoll restauriert und nur die eine oder andere unauffällige Reminiszenz an die moderne Welt erinnerte an die wirkliche Zeit, die das mittelalterliche Städtchen scheinbar verschlafen hatte. Der größte Teil der Freudentaler Innenstadt bestand aus kopfsteingepflasterten, kleinen Gassen, die nur für Fußgänger erlaubt waren.

Es gab zahlreiche Geschäfte in den alten Gassen, doch der größte Teil des hiesigen Einzelhandels war eindeutig auf die Ströme der neugierigen Touristen abgestimmt, die Freudental zu den jeweiligen Zeiten heimsuchten und Geld in die Kasse der Kommune spülten. Auch die reichhaltige Gaststätten- und Kneipenkultur war eindeutig für Gäste aus den Großstädten aus aller Welt zugeschnitten.

Die Tourismus-, aber auch die Veranstaltungsbranche waren die wichtigsten Wirtschaftsfaktoren der Region rund um die Gemeinde Freudental und fast sämtliche funktionalen Bauernhöfe der Gegend hatten sich auf biologischen Anbau umgestellt, um ihre guten „hausgemachten“ Produkte an die vielen Besucher zu absolut überzogenen Preisen zu verkaufen.

Der Sommer war die Hauptgeschäftszeit der verschlafenen Gemeinde und Alise merkte auf ihrem morgendlichen Weg zur Musikschule, dass sich schon zahlreiche Geschäfte und Wirtschaften auf den Tag vorbereiteten.

Alle Schaufenster waren bereits in den letzten Tagen neu hergerichtet worden und die Geschäfte hatten ihre Regale frisch befüllt. Die ersten Stühle, Tische und die Ständer für große Sonnenschirme standen schon auf den zahlreichen kleinen Plätzen der Stadt bereit und mehrere Lieferanten brachten die tagesfrischen Waren auf Sackkarren durch enge Seitengassen.

Spätestens ab der Mittagszeit würden die Straßen gefühlt mit Sommergästen gefüllt sein, die neugierig die romantische Stadt entdeckten.

Die Dorfjugend würde sich an ihre geheimen Orte zurückziehen, um sich vor diesem Ansturm in Sicherheit zu bringen, soweit sie nicht in das elterliche Geschäft eingebunden waren oder sich im Rahmen eines Ferienjobs ihr Taschengeld aufbesserten.

Lächelnd beobachtete Alise eine große, graue Katze, die über eine mit Efeu überwucherte Mauer schlenderte, neugierig einige von den frechen Spatzen auf dem Gehweg beäugte und dann mit königlicher Miene weiter stolzierte.

Sie war mit ihrem Flötenkoffer bewaffnet und hatte ihre Lieblingstasche über die Schulter gehängt. Es handelte sich dabei um eine schwarze Tasche aus Segeltuch, die übersät mit Aufnähern, Pins und irgendwelchen Anhängern war. Das meiste waren Fanartikel von seltsamen Bands, obskuren Graphic Novels oder okkulte Symbole – im Allgemeinen somit Dinge, mit denen die wenigsten Erwachsenen der Gegend und fast noch weniger die lokale Jugend etwas anfangen konnten. Es störte Alise nicht im Geringsten, dass diese Zurschaustellung ihres alternativen Geschmackes ihren obskuren Ruf noch zementierte.

In ihrer Tasche hatte sie ein wildes Sammelsurium nützlicher Gegenstände, denn Alise war gerne vorbereitet. Scherzhaft behaupteten ihre Brüder, dass sich sowohl der heilige Gral, als auch größere Teile des Bernsteinzimmers in ihrer Tasche befanden und Alise würde niemals zugeben, dass es sie auch manchmal verwunderte, was sie in der schwarzen, scheinbaren Unendlichkeit ihrer Tasche wiederfand.

Als sie um die Ecke auf den großen Kirchmarkt einbog, umfing sie der plötzliche Terror wie eine eiskalte, unwirkliche Hand, die sich eisern um ihr Herz schloss. Auf dem Rand des kleinen Springbrunnens auf der östlichen Seite des Marktes, gleich bei der besten Eisdiele der Gegend, saß im Schatten, den die großen Kastanien boten, welche den Marktplatz säumten, der Schrecken ihres jungen Lebens im Kreise seiner grenzdebilen Bande von jugendlichem Abschaum und rauchte in einer Pose, die er selbst wohl als „stylish“ bezeichnen würde, eine Zigarette.

Schnell versuchte sich Alise eine Umgehungsroute zu überlegen, um möglichst ungesehen an dieser Landplage samt Anhang vorbei zu kommen. Aber es war zu spät. Sie erkannte, dass er sie bereits gesehen hatte und sie konnte sein schmieriges Grinsen über den ganzen Platz wahrnehmen. Schnell beschloss sie, sich dem Unvermeidbaren zu stellen und das drohende Unheil mit sturer Entschlossenheit über sich ergehen zu lassen.

Mit selbstbewussten Schritten stolzierte sie über den Marktplatz, fest entschlossen, keine Notiz von dem absurden Grauen, welches sich ihr bot, zu nehmen und sämtliche Versuche einer Kommunikation zu vermeiden.

„Oh, Hallo Möhrchen“, schallte es über den morgendlichen Marktplatz, als Alise ihn schon fast überwunden wähnte. Sie hasste diesen Spitznamen und die peinliche Geschichte, die damit verbunden war, aber Marc-André sorgte stets dafür, dass er nicht in Vergessenheit geriet.

Er liebte es, die alte peinliche Geschichte aus ihrer gemeinsamen Pfadfinderzeit als Legende am Leben zu erhalten und hatte seit ihrer Rückkehr vor zwei Jahren sein möglichstes getan, um ihren alten Spitznamen wieder ins Gedächtnis der örtlichen Jugend zu rufen. Selbst ihre Brüder neckten sie manchmal damit und Alise hatte aufgegeben, dagegen zu kämpfen und versuchte, diese Ansprache, so gut es ging, zu ignorieren. Nichtsdestotrotz hatte es sich durchgesetzt und manchmal fürchtete sie, die Hälfte ihrer Mitschüler kannte ihren wahren Namen nicht.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich der immer noch schmierig grinsende Marc-André vom Rand des Brunnens löste, seine Zigarette fortschnippte und unter den anerkennenden Blicken seiner geistig unbedarften Anhängerschaft zu ihr herüber schlenderte.

Er hatte sich einen guten Abfangkurs ausgesucht und Alise wusste, dass sie der drohenden Konfrontation nicht mehr entgehen konnte. Geistig ergab sie sich dem Unvermeidbaren.

„Hey du, wie geht es dir?“, fragte der widerliche Störenfried. „Gut bis eben“, kam ihre schnelle Antwort. Marc-André ignorierte die Spitze gekonnt und setzte das grausigste Lächeln auf, das es seit der Erfindung schlechter Unterhaltungsfilme für ein rein erwachsenes und zumeist männliches Publikum gab. Dass er ihr in der offenen Hand eine geöffnete Packung Gummibärchen entgegenhielt und diesen Affront mit einem gekonnten „Etwas Sü ßes für die Süße?“ begleitete, machte den Eindruck komplett.

„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich hätte leider keine Zeit für dich, da ich echt froh bin, keine Zeit für eine Unterhaltung mit dir zu haben.“ Alise hoffte inständig, dass dieser Hieb mit dem Zaunpfahl reichte. „Bist du auf dem Weg zur Orchesterprobe?“, fragte Marc-André mit einem angedeuteten Nicken in Richtung ihres Flötenkoffers. „Nein“, antwortete Alise. „Ich habe gleich ein Vorstellungsgespräch als Euthanasie-Assistentin im örtlichen Hospiz. Möchtest du mich nicht als Arbeitsprobe begleiten?“ „Du kannst gerne mal meine Flöte testen. Ich wette, du bekommst ganz besondere Töne daraus.“

Wieder einmal stellte Alise fest, dass Zuhören nicht unbedingt zu den Stärken des Idioten gehörte. Alise verdrehte die Augen und beschleunigte ihren Schritt. Innerlich entsetzt stellte sie fest, dass die Landplage ihr folgte wie eine Schmeißfliege einem Naturdüngertransport.

„Jetzt hab dich doch nicht so, ich will doch nur nett mit dir plaudern.“ Alise verdrehte nicht nur innerlich die Augen. „Weißt du, ich habe gewisse Gerüchte gehört. Es scheint so, als wären mehrere Gentlemen an einem Rendezvous mit dir interessiert. Und da möchte ich nicht ausschließen, dass…“ „Nein“, erscholl Alises Stimme laut. Eine winzige Sekunde war Marc-André sprachlos.

„Denk nicht daran, denk nicht darüber nach und sprich es nicht aus, oder...“ „Oder was?“, fragte Marc-André mit diesem leicht bedrohlichen Unterton, den er offensichtlich für charmant hielt. Alise schluckte und entschied sich für einen geschickten Bluff.

„Du könntet dir Ärger einhandeln mit einem Gegner, den du lieber nicht verärgern würdest.“ „Und wer ist dieser mysteriöse Verteidiger deiner holden, jungfräulichen Unschuld?“, fragt Marc-André schnippisch.

Aus einer Seitengasse erklang plötzlich eine Stimme: „Oh, Guten Morgen, Alise. Ich freue mich, dich zu sehen.“

Lächelnd trat Sunny aus der Seitengasse, seinen Violinenkoffer locker in der linken Hand. Offen lächelte er Alise an und blickte dann zu Marc-André, wobei sich seine Stirn in Falten legte, sich der durchdringende kritische Blick aber sogleich wieder in das Lächeln verwandelte, welches typisch für Sunny war. Marc-André blickte aggressiv zu Sunny und setzte ein konfrontatives Grinsen auf. „

„Entschuldige, du Pferdeflüsterer, aber hier unterhalten sich gerade erwachsene Menschen, würdest du also bitte...“. Alise nahm die Chance, die sich ihr bot, gleich war. Geschickt schob sie sich an Sunnys Seite, hakte sich bei seinem freien Arm unter und blickte ihm lächelnd von unten in seine tiefblauen Augen. „Gut dass wir uns treffen, ich wollte sowieso etwas mit dir besprechen.“

Beherzt schob sie Sunny in Richtung der Musikschule, so dass die beiden dem verdutzten Marc-André den Rücken zuwandten. Bevor Marc-Andre sich erneut zu Wort melden konnte, schlenderten die beiden bereits die kleine Gasse hinunter und waren ins Gespräch vertieft.

Einige Sekunden grübelte Marc-André über seine Optionen, als er eine Stimme schräg hinter sich hörte: „Wenn Du Sunny oder einem seiner Freunde auf irgendeine Weise ein Problem machen willst, denk vorher noch an etwas sehr Wichtiges.“Überrascht drehte sich Marc-André in die Richtung der Stimme und sah Teddy, der mehrere Tüten mit dem Aufdruck einer nahen Bäckerei trug. „Was soll das sein?“, fragte er provokativ, um seine Überlegenheit wieder zu finden.

Teddy lächelte zynisch, während er Marc-André gelassen musterte. „Wenn Du das fragen musst, ist dein Denkbedarf höher als ich vermutet hätte“, antwortete Teddy schulterzuckend und wandte ihm den Rücken zu.

Während sich alle von ihm entfernten, fragte sich Marc-André, was er nicht mitbekommen hatte. Er ging zurück zum Brunnen und überdachte, wie er diese Begegnung auf möglichst positive Art seinen Freunden erzählen könnte.

Der alte Wanderer nahm einen tiefen Schluck aus dem Pappbecher. Der örtliche Kaffee war wirklich erstaunlich gut. Kurz überlegte er, dann schlenderte er mit seiner Bäckertüte und dem Kaffeebecher die kleine Gasse in Richtung der Musikschule entlang. Nur einen Moment hielt er bei einem kleinem Brunnen, auf dessen Rand er den Becher und die Tüte abstellte, um einige Notizen in sein Smartphone zu tippen und sich eine Zigarette anzuzünden, bevor er seine Erkundung weiter fortsetzte.

Lässig saß Teddy auf einer Bank auf einem der malerischen kleinen Plätze, welche die Freudentaler Innenstadt zu bieten hatte. Auch hier spendeten uralte hohe Laubbäume ausreichend Schatten, um auch im Sommer zum Verweilen einzuladen. Teddy hatte es sich auf der Bank bequem gemacht und stützte seinen langen Beine an einem kleinen Mäuerchen ab, das wie dafür gemacht schien. Nachdem er die Einkäufe zurück zum Sonnenbergerhof gebracht hatte und sie in die liebevollen Hände seiner Tante Emilia hatte übergeben dürfen, war er zurück in die Stadt gewandert, um Sunny von seiner Probe abzuholen.

Nun saß er gegenüber der alten Stadtvilla, in deren Räumen sich die Freudentaler Musikschule befand und schmökerte auf dem Display seines Smartphones eine Kriminalgeschichte. Es war Teddys Lieblingskrimireihe, rund um die sonderbaren, aber sehr spannenden Fälle des Kommissars Rainer Zufall, einem hoch begnadeten Kriminalisten, dessen scharfe Denkweise Teddy zu schätzen wusste.

Durch die Zeitanzeige auf dem Display bemerkte Teddy erneut, dass sich Sunny heute gehörig Zeit ließ. Er hoffte einfach darauf, dass es ein gutes Zeichen war und sich Sunny seiner Angebeteten nähern konnte. Erfreut hatte er schon vorhin gesehen, wie sich Sunny in Begleitung der rothaarigen Schönheit zu der gemeinsamen Probe begeben hatte und Teddy wünschte ihm alles Glück der Welt.

Vielleicht war ein kleiner Stich Eifersucht dabei, denn wenn sich Sunny erst in einer Beziehung mit seiner heißgeliebten Traumfrau befand, würde er recht wenig Zeit für Teddy haben. Wahrscheinlich wäre er dann das fünfte Rad am Wagen. Vielleicht bezog sich seine Eifersucht auch darauf, dass sein eigenes Begehren um so vieles komplizierter war, als es Sunnys Leidenschaft zu sein schien.

Leicht seufzte Teddy und haderte mit Amor, der es bei ihm scheinbar besonders kompliziert angehen ließ. Was sollte man auch anderes von einem kleinen fetten Engel mit Pfeil und Bogen erwarten?

Es war, wie es war - er musste sich darauf einstellen, diesen Sommer seinen besten Freund zu teilen und konnte nur darauf hoffen, dass es ihm der rothaarige Wildfang nicht zu schwer machen würde.

Rein vom Prinzip her konnte er Sunny sogar verstehen, denn die langen, roten Haare und die leuchtenden, grünen Augen waren nur der Bonus bei einem hübschen Mädchen mit einer anziehenden Figur und einem hübschen Gesicht mit einigen neckischen Sommersprossen.

Gerne hätte Teddy sie einmal in Ruhe gezeichnet, denn sie hätte ein hervorragendes Modell für seine künstlerischen Ambitionen dargestellt, doch mit solchen Bitten als sprichwörtliche Tür, wollte er nun wirklich nicht ins Haus fallen.

Vielleicht sollte er beginnen, nach einer geeigneten Alternative zu suchen, denn es war gar nicht gut, zu viel über die Angebetete seines besten Freundes nachzudenken.

Dadurch, dass er während der Schulzeit in einem Internat für Jungen nicht viele Mädchen zu Gesicht bekam, waren seine Ansprüche im Sommer besonders hoch und die Verlockung besonders stark. Dennoch hatte er sich das ganze Jahr auf eine besondere Begegnung gefreut, auch wenn es eine hochkomplizierte Problematik darstellte.

Ein wenig peinlich war es ihm außerdem, da er meist keine Probleme hatte, mit anderen Menschen "klarzukommen" und neue Leute kennenzulernen. Zumeist empfand sich Teddy als recht umgänglich und jovial. In diesem besonderen Fall machte sein Körper allerdings seltsame Dinge mit ihm, vom komischen Gefühl in der Magengegend über Zittern und weiche Knie, was ihm jegliche Form von Kommunikationstalent raubte und ihn zum stotternden Esel machte. Es war ihm manchmal peinlich, wenn gerade er, als angehender Meister einer uralten Kampfkunstlehre, manchmal so schrecklich unbeholfen war.

Allein Sunny kannte sein dunkles Geheimnis, denn ihm konnte er vorbehaltlos vertrauen und auch wenn er seine Gefühle in dem besonderen Fall nicht wirklich verstand, schenkte er ihm Nähe und Zuversicht. Wahrscheinlich hatte Sunny sogar die Schulzeit damit verbracht, eine Lösung für Teddys Dilemma zu finden, aber bis jetzt wollte er ihn einfach noch nicht darauf ansprechen.

Als er seine Gedanken beiseiteschob und wieder aufblickte, sah er gerade Sunny aus der schweren Eichentür des alten Hauses heraustreten. Ihre Blicke trafen sich und Sunny lächelte zu ihm herüber. Dennoch hielt er noch wartend die Tür auf, bis auch die rothaarige Nymphe, die sein Herz gestohlen hatte, heraus kam. Teddy bemerkte zum ersten Mal, dass sie sich mit der Anmut einer Tänzerin bewegte, natürlich und dennoch grazil. Wahrscheinlich wäre sie eine gute Tanzpartnerin. Er musste auf jeden Fall Sunnys Tanzkenntnisse auffrischen, damit dieser mit seiner holden Fee mithalten könnte, aber dafür würde sich Zeit finden.

Lächelnd beobachtete er, wie sich die beiden noch unterhielten und erwartete fast, dass sie sich mit einem Kuss verabschieden würden, doch es blieb bei einem Lächeln. Zufrieden bemerkte Teddy, dass Sunny nicht der einzige der beiden war, der sich noch zweimal umdrehte, um zu winken. Sunnys Lächeln sprach Bände, als er vor Teddy stand.

Teddy musterte ihn eingehend und ein kleines, spitzbübisches Lächeln entfuhr ihm, als er merkte, dass Sunny merklich nervöser wurde.

„Willst du mir jetzt berichten oder sollen wir die Vorfreude verlängern?“ „Mensch Teddy, ich platze doch fast, lass mich jetzt bloß nicht so einfach stehen. Du weißt doch genau, dass ich darauf brenne, alles mit dir zu teilen.“ Teddy stand auf, legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte ihn an: „Komm, lass uns zum Hof gehen und unterwegs erzählst du mir alles.“

Mit vor Aufregung leicht geröteten Wangen nickte Sunny, schnappte sich Teddys Hand und zog ihn in Richtung des Heimweges. Teddy folgte, nach einem kurzen neckischen Widerstand, denn natürlich war er auch neugierig.

Die Mittagssonne sandte kleine Lichtstrahlen zwischen dem dichten Blätterwerk der alten Apfelbäume hindurch, als Sunny und Teddy auf den gemütlichen Gartenstühlen saßen und die Erlebnisse des Vormittags besprachen. Sowohl eine Kanne voller selbstgemachten Eistees, als auch Krapfen, der oberste Mäusejäger des Sonnenbergerhofes, leisteten ihnen in dieser gemütlichen Runde Gesellschaft. Wie so häufig hatte Teddy Krapfen auf seinem Schoss und strich ihm durch das getigerte Fell.

„Hmm“, setzte er an, „Seltsam ist es schon, dass ein Mädchen aus der Gegend angeblich nicht reiten kann. Vor allem, wo ihr Vater doch zwei Pferde bei euch untergestellt hat.“ „Naja, das sind halt seine Pferde für die Mittelalterspiele. Vielleicht will er ja nicht, dass seine Kinder darauf reiten?“, überlegte Sunny laut. „Aber du hast recht, seltsam ist es schon.“ „Wahrscheinlich ist es nur ein Vorwand“, bemerkte Teddy. „Aber für was denn?“, fragte Sunny. „Na, um Zeit mit dir zu verbringen“, antwortete Teddy und wuschelte Sunny durch seine blonden Locken.

Krapfen fauchte leicht, um die Krauleinheiten wieder für sich zu beanspruchen und wurde prompt bedient. Schnurrend folgte er weiter dem Gespräch der beiden Jungen.

„Ja, aber warum fragt sie dann nicht einfach, ob ich Zeit mir ihr verbringen möchte?“, fragte Sunny schließlich. „Hast du ihr denn gesagt, dass du gerne Zeit mit ihr verbringen würdest, bevorzugt mit engem Kö r perkontakt und voll sinnlicher Leidenschaft?“, fragte Teddy.

Sunny blickte eine Schrecksekunde entsetzt, bevor er Teddys Grinsen bemerkte und er ihm daraufhin einen leichten Knuff auf den Oberarm gab. „Natürlich nicht, du spinnst wohl.“ „Siehst du“, neckte ihn Teddy altklug weiter, „Warum sollte sie dann so etwas ansprechen?“

Sunny grübelte über diese Worte. Teddys Ansatz machte durchaus Sinn. Vielleicht wäre es ja doch möglich, dass sich Alise für ihn interessieren würde. Es wäre zumindest eine Möglichkeit. „Aber wie finde ich raus, was wirklich dahinter steckt?“ „Na, du gibst ihr, wie versprochen, Reitstunden und wenn Sie sich einfach zu gut für eine Anfängerin anstellt, ist es höchstwahrscheinlich, dass ihre Interessen woanders liegen, als in deinen Reitkünsten.“ „Gehst du dann für mich auf Beobachtungsposten und analysierst das Ganze?“ „Na klar, ich habe dir doch versprochen, deine Unterstützung zu sein.“ „Perfekt!“, erwiderte Sunny und ein Lächeln erstrahlte über sein gesamtes Gesicht.

Teddy nahm sich einen Schluck Eistee und grübelte nach, während er sich geistesabwesend mit Krapfen beschäftigte. Sunny erkannte sofort, dass Teddy wieder einen Plan austüftelte und lehnte sich zurück, um Eistee und Sonne zu genießen, denn er wusste, es würde alles gut werden.

Keiner der beiden Jungen bemerkte bei ihrer gemütlichen Mittagsruhe den heimlichen Beobachter. Der alte Wanderer saß nicht weit entfernt im gemütlichen Biergarten des Hofes und beobachtete die beiden bei einem eiskalten Glas frischgezapften Bieres aus der örtlichen Tradi tionsbrauerei. Er hatte sich mit Tablet, Notizbuch und einer mittlerweile halbleeren Schachtel Zigaretten hier eingerichtet.

Sowohl die kleine Kamera, als auch das passende, winzige Richtmikrofon, hatten einen Lücke gefunden, die es ihm ermöglichte, völlig unauffällig durch die blühenden Rosenbüsche, die den Biergarten eingrenzten, die beiden Jungen im Obstgarten zu beobachten.

So ließ es sich mit seiner Mission durchaus gut leben, stellte er zufrieden fest und blickte voller Vorfreude auf das gutbürgerliche Mittagsmahl, das gerade durch die nette Kellnerin zu ihm gebracht wurde.

Sommer auf dem Sonnenbergerhof

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