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1. Kapitel … und es bleichen wie Steine

und es bleichen wie Steine die verfluchten Gebeine

unsrer Feinde nach blutigem Tanz …

und wenn wieder sie kehren mit Maschinengewehren,

dann entrollt unsere Fahne sich rot

„Budjonnylied“, (Gebr. Pograß, Alexej Syrkow)

Ort: Psyche, Berlin Moabit, Amtsgericht

Die Dämmerung war hilfreich.

Sie war nicht unbedingt nötig, denn Gerechtigkeit konnte auch im Hellen geschehen. Eigentlich sollte sie das immer. Aber nicht alle waren der Meinung, dass das, was er vorhatte, gerecht sei. Dieser Kowalski zum Beispiel. Er hatte am lautesten dagegen protestiert. Und am heftigsten.

Sein Entschluss hingegen stand fest. Denn er fühlte sich immer noch als Offizier. Ein preußischer Offizier geht in den Ruhestand, wenn er das richtige Alter erreicht hat. Er fällt auch zuweilen im Krieg. Aber er wird nicht aus dem Dienst verabschiedet. Erstrecht nicht von seinen großfränkischen Erbfeinden. Denn die Sieger des Kaiserkrieges hatten beschlossen, das Deutsche Reichsheer zu verkleinern, damit es für seine Gegner keine Gefahr mehr darstelle. Es benötigte damit auch weniger Offiziere. Ihn benötigte es nicht mehr. Aber es gab auch andere Wege, gegen seine Feinde zu kämpfen.

Er konzentrierte sich auf den Ausgang des Amtsgerichtes. Der Minister, seine Zielperson, würde dieses bald verlassen, lauteten seine Informationen. Die Zielperson würde bald sterben, lautete sein Vorhaben. Dieser Mensch musste sterben, denn er trug Mitschuld am verlorenen Krieg. Dessen war er sich sicher.

Seine Ansichten zur gegenwärtigen Politik Deutschlands waren sehr einfach. Mussten sie auch, schließlich war er Offizier, kein Politiker. Diese einfachen Ansichten verleiteten ihn zu einer einfachen Tat.

Er wollte einen Menschen töten. Mit seiner alten Waffe. Er würde mit dieser vertrauten Waffe seine Pflicht tun.

Als er die Zielperson sah, hob er seine Pistole, zielte kurz und schoss dann sofort. Ohne die Augen zu schließen oder sich am Qualm und Krach der Waffe zu stören.

Ort: Psyche, Russland, Krasnodar

Sie roch den Qualm nicht und er verbarg nur ihren Augen jenes furchtbare Geschehen in der Stadt Krasnodar. Ihre Inneren Sinne spürten alles, was dort geschah.

Die Reiterarmee des Generals Woronesch hatte die Stadt gestürmt. Das war wichtig, denn die Ewiggestrigen, die noch an die Macht des Zaren glaubten, hielten diese Stadt besetzt und verhinderten so, dass sie am Segen der proletarischen Revolution ihren gerechten Anteil nehmen konnte.

Diesen Anteil bekam sie nun.

Deshalb die vielen brennenden Häuser. Deshalb die schreienden und sterbenden Kinder. Deshalb die vergewaltigten Frauen. Soldaten feierten auf diese Art immer die Eroberung einer feindlichen Stadt. Die Roten Garden machten da keine Ausnahme.

Zumindest hatte es ihr der General Woronesch so erklärt. Der war eigentlich kein General. Auch das hatte er erklärt. Er war ein Kommandant. Denn Generale und andere hohe Offiziere kannten die revolutionären Truppen der Roten Garden nicht mehr.

Disziplin scheinbar auch nicht, so wie sie alle Gesetze der Menschlichkeit mit Füßen traten. Die Gräuel des Krieges kannten sie und sie lebten sie mit Wonne aus.

Michael Arx verstand das nicht und er wollte es auch nicht wahrhaben. So stand er, als der eigentliche Befehlshaber der Roten Garden, neben der schönen Frau und beschränkte sich ebenfalls aufs Zusehen. Sie hatte ihn noch nie so zerrissen erlebt.

Michael glaubte immer noch an das Gute im Menschen. Und an den Fortschritt, den die proletarische Revolution den unterdrückten und geknechteten Massen bringen würde. Er fand nur beides nicht. Jedenfalls nicht im Moment.

Aber es würde wiederkommen. Hoffte er. Wenn die Weißen, so nannte man die Konterrevolutionäre, erst einmal aus dem Land gejagt wären. Hoffte er.

Die ließen sich nicht wegjagen, sondern wehrten sich mit Gewalt gegen diese Vertreibung und zwangen die Revolutionäre damit ebenfalls zur Gewalt. Es ging also nur so. Die Guten mussten böse sein, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen.

An diese Ausrede klammerte er sich. Wie der Bergsteiger an den einzigen Felsvorsprung, der an einer glatten und viel zu hohen Wand zu finden war. Unter sich einen gähnenden Abgrund. Über sich, in weiter Ferne, der Gipfel, den es zu erklimmen galt. Wenn er noch die Kraft und den Mut dazu fand. Er hatte beides verloren. Aber er hoffte auf die Frau neben ihm. Sie würde ihm neue Kraft verleihen.

Alexandra war entsetzt über das Kriegsgeschehen. „Wie lange geht das schon so?“

„Der Krieg? Schon länger als ein Jahr.“

„In dieser Stadt?“

„Nein, im ganzen Land. Es ist zerrissen zwischen denen, die noch dem Alten anhängen, und uns Revolutionären. Außerdem drängt es die Völker dieses Riesenreiches dazu, ihre Selbständigkeit zu wollen und sich von Moskau loszusagen.“

„Dann gebt ihnen ihre Selbständigkeit.“

„Du sagst das so einfach. Bolschoi musste im Friedensvertrag mit den Deutschen schon so viel Land hergeben, er will nicht noch mehr verlieren. Wer gibt schon gern ein Imperium auf?“

„Ein Imperium aufgeben? Wir sind Revolutionäre. Unser Imperium ist die ganze Welt. Ist Bolschoi jetzt ein Zar und toleriert das da?“, fragte Alexandra und wies auf die brennende Stadt.

„Es ist alles viel komplizierter, als das da. In dieser Stadt sind die Verhältnisse noch einfach. Dort kämpfen nur Russen gegen Russen. Rote gegen Weiße. Also Gute gegen Bösen und damit gibt es klare Fronten. Im Moment haben wir gewonnen. In dieser Stadt. Aber in diesem Riesenreich kämpft jeder gegen jeden und ein Sieger ist nicht in Sicht.“

„Was sagt der Hohe Rat dazu?“

„Den Hohen Rat interessiert Psyche inzwischen sehr wenig. Gerrich und Huldrich haben hier das Sagen. Sie warten auf eines jener Ereignisse, so sagten sie mir vor kurzer Zeit, welches manchmal ganz plötzlich die Geschicke der Völker verändert.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich musste auch erst das MindNet befragen. Es ist ein Alexandre-Dumas-Zitat. Aus den „Drei Musketieren“. Richelieu sagte das, als er Milady den Auftrag erteilte, Lord Buckingham zu ermorden.“

„Gerrich und Huldrich wollen jemanden ermorden?“

„Das können sie nicht. Dagegen steht das Innere Gesetz. Sie hoffen, einer von uns wird ermordet und den anderen bleibt nichts weiter übrig, als diesen Scheiß hier schnell zu beenden, weil sie all ihre politische Kraft benötigen, um ihre neue Macht zu festigen. Die Frage ist nur, wer wird ermordet und von wem? Potentielle Mordopfer wären: Bolschoi, Wissarew, Woronesch, Woronzow oder dieses Ekel Tscherkassow, mein ganz besonderer Feind. Irgendjemand von denen will auch mich ermorden. Versuche dazu gab es bisher ausreichend. Aber Vollbürger sterben nicht so schnell.“ Den letzten Satz spuckte er fast aus.

Alexandra sah ihn an. Er sah ausgemergelt aus, seine Haut war grau. Trotzdem wirkte er immer noch jung. Aber nicht mehr so jungenhaft wie einst. Ein schneller Scan zeigte ihr, das warme, rote Feuer der Revolution war aus seinem Inneren Ich verschwunden. Dort brannte jetzt eine kalte, blaue Flamme, die ihn verzehrte.

Und die heller leuchtete, als er weitersprach: „Bolschoi wird sicher als erster draufgehen. Er ist der Älteste von uns und hat gerade erst zwei Attentate überlebt. Negative Begleiterscheinungen seines Zarentums. In diesem Land ist der, der ganz oben steht, immer der Zar. Auch wenn er keine Krone trägt und sich anders nennt. Als Zar hat er auch das Privileg, auf der Abschussliste von Extremisten zu stehen.“

„Willst du ganz oben stehen?“, fragte Alexandra erstaunt, die in Michaels Innerem Ich solche Wünsche erkennen konnte.

„Ich? Ganz oben? … Warum eigentlich nicht? … Wenn ich dadurch diese Revolution retten kann. Siehst du eine bessere Alternative?“

„Jede Alternative ist besser, als deine Trennung vom Inneren Gesetz. Wenn du dir in Psyche Wahre Macht erkämpfst, hast du jedes Recht auf dein Vollbürgertum verloren.“

„Aber es ist für eine gute Sache!“, warf er ein.

„Seine eigene Moral über den Haufen zu werfen, nur um der Chimäre Macht hinterher zu rennen, kann niemals eine gute Sache sein. Wo ist der Michael, der auf einer friedlichen Revolution bestanden hat, und die auch gegen den Willen von Bolschoi, Wissarew und Tscherkassow durchsetzen konnte?“

„Ich glaube, der ist in den Wirren dieses Bürgerkrieges gestorben. Einer allein kann zwar Frieden wollen, aber ihn nicht durchsetzen.“ Seine Resignation war fast greifbar.

„Dann versuch es wenigstens. Rede mit denen, die in Russland Macht ausüben. Sprich mit Bolschoi. Auf ihn hören alle.“

Michaels Lachen war noch furchtbarer als sein Äußeres. „Bolschoi? Auf den hört keiner mehr. Er ist verletzt, er ist krank und alle zählen nur noch die Tage, bis zu seinem baldigen Tod. Die anderen hoffen, er möge bald sterben. Du glaubst mir nicht? Besuch ihn doch. Dann wirst du sehen, dass er bald sterben muss.“

Ort: Psyche, Bad Döttelbach, Schwarzwald

„So schnell stirbt man nicht, Herr Minister. Wir wandern auf diesen Berg. Wir lassen uns von diesem Spaziergang nicht abhalten. Sie müssen keine Angst davor haben, hinauszugehen. Hier im Schwarzwald geschieht Ihnen nichts, hier wird Sie keiner umbringen.“

„Glauben Sie mir, mein lieber Kriminalrat Renatus, die Kugel, die mich töten soll, ist schon gegossen.“

„Das mag sein, Herr Minister, aber in meiner Begleitung genießen Sie Polizeischutz. Auch wenn ich im Moment auch nur ein Urlauber bin. Ein Polizist ist immer im Dienst.“

„Ein Minister auch, Herr Kriminalrat. Trotzdem muss man ein wenig entspannen. Sie haben vollkommen recht, wir werden diese Wanderung auf den Berg machen. Ein wenig frische Luft tut immer gut. Vor allem in dieser Gegend.“

Der Minister stand auf und zog sich seine Jacke an. Mit Mühe, wie der Polizist sehen konnte. „Tut die Schulter immer noch weh?“, fragte er deshalb.

„Er muss ein erbärmlicher Schütze gewesen sein. Obwohl er ein Offizier war. Der erste Schuss ging in die Schulter, mit dem zweiten traf er die Brotbüchse in meiner Aktentasche. Dabei war noch heller Tag, als er vor dem Moabiter Amtsgericht auf mich geschossen hat.“

„Vielleicht hatten Sie einen Schutzengel?“ Der Polizist kannte sich damit aus. Er war schon seit Jahrhunderten ein Schutzengel. Nicht nur als Polizist.

„Ich hatte einfach Glück. Das hat man nicht so oft. Aber der Täter ist im Gefängnis und wird es erst in fünfzehn Jahren verlassen“, meinte der Minister.

„Man sagt, er hätte einer Geheimorganisation angehört. Die wäre noch aktiv. Sie befinden sich also durchaus noch in Gefahr, Herr Minister.“

„Gefahr besteht immer, Herr Kriminalrat. Wir waren beide im Krieg und sind nicht gefallen. Da werden wir doch im Frieden auf uns aufpassen können. Oder?“

Der Herr Kriminalrat wusste nicht, ob er den Minister erfolgreich schützen könnte. Aber er würde es versuchen. Die Sinne, mit denen er erst seit einiger Zeit etwas anfangen konnte, zeigten ihm, dass die Kugel gegen den Minister nicht nur schon gegossen war, sondern ihr Schütze sie auch verschießen wollte.

Er hatte alles dafür vorbereitet und das Attentat auf den Minister konnte stattfinden. Heute. Hier im Schwarzwald.

Ort: Psyche, Moskau, Kreml

In Moskau bewohnte der Genosse Bolschoi den Kreml. Warum auch nicht? Mit der Ermordung der Zarenfamilie war diese Immobilie frei geworden. Es wäre schade, sie leer stehen zu lassen. Bolschoi schien um Jahre gealtert zu sein. Seine Haut wirkte grau und eingefallen, seine Augen waren umschattet und seine Stimme klang rau.

Er begrüßte Alexandra mit seltsamen Worten: „Ich fühle mich schon seit Wochen, als sei ich bereits gestorben. Nach dem ich dich gesehen habe, weiß ich, dass es stimmt.“

„Was stimmt? Dass du gestorben bist? Warum?“

Bolschoi versuchte, seine Stimme ironisch klingen zu lassen. Aber die ließ in ihrer Rauheit so etwas nicht zu. „Weil ich dich sehen und mit dir sprechen kann. Aber du bist tot. Ich habe es gelesen. In deutschen und in russischen Zeitungen. Sogar in der Prawda. Also muss es wahr sein.“

Alexandra überlegte eine Weile, bevor sie antwortete: „Meine Freunde haben beschlossen, meinen Tod vorzutäuschen, um mich zu beschützen. Für die Menschen in Deutschland bin ich gestorben. Es war nicht schwer, eine mir ähnelnde Leiche zu finden, welche die Deutschen beweinen und begraben konnten.“ Alexandra sah ihn aufmerksam an, um eine Reaktion zu erkennen.

Aber Bolschoi sah nur genauso aufmerksam zurück. Deshalb fuhr sie fort: „Den Menschen in Russland möchte ich meine Hilfe anbieten. Dir möchte ich meine Hilfe anbieten. Für euch und eure Revolution möchte ich in Psyche weiterleben.“

Nun musste Bolschoi eine Weile überlegen, bevor er antwortete. Alexandra hörte nur Bitterkeit in seiner Antwort. „Du bietest deine Hilfe an? Hast du dieser Welt nicht schon genug geholfen? Deine Revolutionen haben doch stattgefunden. Genauso, wie du sie wolltest.“

„Wie ich sie wollte?“

„Wie du sie wolltest. Ich bin mir sicher, dein Wille ist geschehen. Ich wollte nie, was nach der Revolution in diesem Land geschehen ist.“

„Du wolltest keine Revolution? Dein ganzes Leben hast du für sie gekämpft.“

„Für diese Art von Revolution habe ich bestimmt nicht gekämpft. Das Land ist zerrissen und fast nur noch halb so groß, wie es unter dem Zaren war. Die Menschen hungern noch mehr, als unter dem Zaren. Die Bauern verweigern den Anbau von Nahrung. Die Arbeiter verweigern die Arbeit und die Soldaten wollen Soldatenräte, aber bitte ohne die Bolschewiki. Alle wollten unsere Revolution, aber keiner will uns. Es sollte alles besser werden, aber alles ist schlechter geworden.“

Ein Hustenanfall nach diesen Worten wies deutlich darauf hin, dass es auch um die Gesundheit des Genossen Bolschoi schlecht bestellt war. Er hatte also durchaus Ursache, verbittert zu sein.

„Darüber beschwerst du dich? Was hast du erwartet? Sofortigen Frieden und Eintracht nach einer Revolution? Denk doch mal an die Großfränkische Revolution. Danach hat es fünfundzwanzig Jahre gedauert, bis die Menschen wieder so zueinander gefunden hatten, dass sie miteinander leben konnten und wollten“, antwortete Alexandra.

„Fünfundzwanzig Jahre? Dann kann ich ja getrost weiter wursteln wie bisher. Fünfundzwanzig Jahre werde ich nicht mehr leben.“

Alexandra scannte Bolschoi, ohne dass sich das Ergebnis dieser Untersuchung in ihrer Mimik widerspiegelte.

Er würde kein Jahr mehr leben, erkannte sie. Denn er hatte Arterienverkalkung. Überall. Aber zuerst würden die Blutgefäße im Gehirn ihre Durchlassfähigkeit verlieren. Das sah sie ebenfalls.

Arterienverkalkung, dachte Alexandra. Was für altmodische Krankheiten die Menschen auf Psyche hatten. Warum verhinderten sie diese Krankheiten nicht? Die Prophylaxe dagegen war so einfach. Aber Bolschoi wusste sicherlich nicht einmal, wie es um ihn stand. Geschweige denn, dass er in der Lage gewesen wäre, die ihm drohenden Schlaganfälle zu verhindern.

Am Leben erhalten konnte sie ihn nicht mehr. Aber etwas Anderes konnte sie für ihn tun. Eine Hilfe, die er verstehen und annehmen würde. „Du hast die Revolverkugel, die dich im letzten Jahr getroffen hat, immer noch in dir. Spürst du keine Schmerzen?“

„Ob ich Schmerzen spüre?“, fragte er mit einem krächzenden Lachen. „Ich weiß nicht, wo ich in meinem Körper keine Schmerzen spüre.“

„Lass dir die Revolverkugel entfernen. Sie enthält Blei und das ist giftig. Es frisst dich langsam von Innen auf.“

„Ich habe schon darum gebeten, aber unsere Ärzte weigern sich. Sie sagten, es sei zu gefährlich. Ich weiß, sie haben nur Angst, mein Nachfolger könne sie umbringen, wenn sie versagen. Wenn Wissarew mein Nachfolger wird, haben sie mit ihrer Angst höchstwahrscheinlich recht.“

„Ich kann die Revolverkugel entfernen. Ich bin Ärztin und Wissarew kann mich nicht umbringen.“

„Du bist auch Ärztin?“ Bolschoi musterte sie. Nicht ungläubig, auch nicht überrascht. Eher so, als habe er erwartet, sie trage noch mehr Qualitäten in sich, als die ihm bekannten.

Alexandra spürte diese Bewunderung. „Kann ja sein, deine Vorwürfe sind berechtigt und ich bin eine schlechte Revolutionärin. Als Ärztin bin ich besser. Helfen kann und werde ich dir. Von meiner Seite hast du keine Weltverbesserungen mehr zu erwarten. Nur noch die Heilung der Menschen. Hätte ich mich schon eher auf meine heilenden Stärken beschränkt, wäre mein Mann vielleicht nicht gestorben.“

Ort: Psyche, Bad Döttelbach, Schwarzwald

Der Herr Minister sollte sterben. In dieser Minute noch. Es war beschlossen. Alle Vorbereitungen dafür beendet. Nichts hielt sie mehr auf.

Sie hatten sich im Wald verteilt. So, wie sie es einst für den Krieg gelernt hatten. Deutsche Sturmtruppen waren bis zum Ende des Krieges in der Lage gewesen, Schrecken unter ihren Feinden zu verbreiten. Nach dem Krieg waren sie immer noch dazu in der Lage. Denn Deutschland hatte immer noch Feinde. Diesmal waren es deutsche Feinde.

Der sich das gerade einredete, um seine Nervosität zu überspielen, war ein Hauptmann des Deutschen Reichsheeres. Mit diesem Dienstgrad ließ er sich immer anreden. Bei militärischen Titeln wusste man wenigstens, woran man war. In dieser neuen Zeit nach dem Krieg wusste man sonst nie, woran man war.

Er sah zu seinen Kameraden. Die waren so verteilt, dass man die Zielperson ins Sperrfeuer nehmen konnte. Keine Chance also, zu entwischen. Die Kameraden nickten ihm zu. Nach dieser Zustimmung sah er über sein Visier und wartete. Bis die Zielperson auftauchte.

In Begleitung. Wie geplant.

Pech für die Begleitperson. Auch sie würde sterben.

Darum hatte ihn sein Freund, Oberst von Krüger, gebeten. Lächelnd, weil alles so gut lief, sah der Hauptmann weiter durch das Dioptervisier.

Ort: Psyche, Berlin, Büro des Reichskanzlers

Herr Brandenburger sah immer noch aus dem Fenster. So konnte man einfach besser nachdenken.

Seinem Gesprächspartner fehlte dazu die Geduld.

„Sie müssen endlich eine Entscheidung treffen, Herr Reichskanzler, und die werden Sie kaum da draußen finden“, sagte Herr von Sälzer. „Die Entscheidung zwischen den Kommunisten und uns kann doch nicht so schwer sein.“

Herr Brandenburger mochte es, als Reichskanzler angesprochen zu werden. Aber er mochte nicht, dass man ihn unter Druck setzte. Erstrecht nicht, wenn dieser Druck durch einen ehemaligen Offizier und Diplomaten ausgeübt wurde.

„Ich persönlich habe eine sehr feste Meinung zum Kommunismus, Herr von Sälzer“, antwortete er deshalb. „Demokratie heißt aber auch, Koalitionen einzugehen. In Sachsen funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den Sozialdemokraten und den Spinnern von der Linken gut. Vielleicht auch, weil sie funktionieren muss. Aber sie funktioniert. Selbst die sonst so stockkonservativen Bayern haben eine Räterepublik nach russischem Vorbild ausgerufen. Regiert von Linken und Sozialdemokraten. Warum sollte eine solche Regierung in Berlin nicht ebenfalls funktionieren?“

Es war keine Frage, es war eine Provokation. Herr von Sälzer empfand das auch so. Herr Brandenburger konnte es im spiegelnden Fensterglas deutlich erkennen. Auch die Mühe, die von Sälzer hatte, eine ruhige Antwort zu geben. „Wollen Sie dieses Land etwa den Kommunisten überlassen? Sie? Als Sozialdemokrat? Die werden Sie kaum an der Macht lassen. Wir schon.“

Der Reichskanzler drehte sich vom Fenster weg und sagte mit einer Verbindlichkeit, die er nicht fühlte: „Wenn wir in der Regierung zusammengehen, Herr von Sälzer, müssen auch sozialdemokratische Punkte im Regierungsprogramm erkennbar sein. Sehr viele, denn wir bilden die größere Fraktion. Es ist nicht sozial und erst recht nicht demokratisch“, fuhr er fort, „auf Kommunisten zu schießen. Nicht, wenn man miteinander in dem einen oder anderen Bundesland regiert. Das werden Sie doch einsehen.“

Herr von Sälzer sah das nicht ein, schwieg aber dazu.

„Ebenso werden wir nicht umstoßen, was die Herren Stinnes und Legien beschlossen haben“, bekräftigte Brandenburger. „Der Achtstundentag ist nicht nur eine Forderung der Kommunisten. Wir werden das erste Land sein, das ihn einführt. Da wir damit in Deutschland die russische Räterepublik verhindern, wünsche ich darüber keine Diskussionen.“

Mit einem Kaiser an der Spitze gäbe es solche Eskapaden nicht, dachte von Sälzer. Noch war Kaiser Wilhelm im Exil, aber er würde bald wiederkommen. Auch durch die Hilfe von seiner Politik. Bis dahin war Geduld erforderlich. Und Diplomatie. Von Sälzer war einst Botschafter in Washington, der Hauptstadt Hinterindiens. Brandenburger würde schon merken, was man auf einem solchen Posten alles lernt.

„Unsere Partei fordert die Auflösung aller Strukturen, die aus den Revolutionstagen übrig sind“, stellte er erst einmal seine Forderungen. „Diese Räterepubliken gehören dazu. Also weg mit ihnen. Wir verlangen dabei nicht, auf Deutsche zu schießen. Nur, wenn das unbedingt notwendig ist. In diesem Land muss wieder Ordnung herrschen. Sind wir uns wenigstens darin einig? Wir werden Gesetze erlassen, die diese Leute in die Illegalität treiben.“

Herr von Sälzers Selbstgefälligkeit, mit der er diese Worte sprach, würde auskühlen, wusste der Reichskanzler. Der hatte vielleicht Ideen … Gesetze erlassen? In einer Demokratie? So etwas konnte dauern. So viel hatte Brandenburger bereits gelernt. Auch der Parteivorsitzende der konservativen Zentrumspartei würde das lernen.

„Wenn Sie einverstanden sind, dass wir bis dahin friedlich regieren, Herr General von Sälzer, bin ich mit einer Koalition ihrer Partei mit der SPD einverstanden.“

Herr Brandenburger reichte seinem Kollegen die Hand. Der nahm sie und schüttelte sie mit einer Kraft und Heftigkeit, die den ehemaligen General verriet. „Einverstanden, Herr Reichskanzler. Erst einmal schießen wir nicht auf die Kommunisten.“

„Wir lassen auf niemanden mehr schießen, Herr General. Der Krieg ist vorbei und diese Gewalt, welche durch die Freischaren ausgeübt wird, muss auf die einzige Macht übergehen, die in Deutschland Gewalt ausüben darf: Die deutsche Regierung. Wir sind die deutsche Regierung, Herr General. Unser einziges Regierungsprogramm sollte sein, dass wieder Friede, Ruhe und Ordnung herrscht.“

Ort: Psyche, Bad Döttelbach, Schwarzwald

Es war friedlich im Schwarzwald. Ruhig sowieso. Die beiden Herren gingen plaudernd einen Waldweg entlang.

Der Minister gestand sich ein, die kleine Wanderung war eine wunderbare Idee. Selten hatte er sich so frei und entspannt gefühlt. Bis in dieses Gebirge war der Krieg nicht gekommen. In der Stille und Harmonie dieser Landschaft versuchte der Minister, seinen inneren Frieden wiederzufinden, und den verlorenen Krieg und die damit in Verbindung stehenden politischen Probleme einen Spaziergang lang zu vergessen.

Er erzählte gerade einen jener Herrenwitze, die er so liebte, wunderte sich aber, dass der Herr Kriminalrat mit so wenig Konzentration zuhörte. Na ja, immerhin war der bei der Sitte. Schon möglich, dass er schmutzigere Witze kannte.

Er wollte gerade bitten, einen solchen zu erzählen, als ihn der Kriminalrat an der verletzten Schulter fasste und zu Boden riss. Der Aufforderung, in Deckung zu gehen, kam der Minister automatisch nach. An der Front gelerntes vergisst man nie. Auch nicht das Knallen von Schüssen, die nun zu hören waren.

„Wieder so ein verfluchter Attentäter? Hier, im Schwarzwald?“, fragte der Minister fassungslos.

Der Kriminalrat sah durch das Gebüsch, welches vorerst Deckung bot. „Ich bin mir sicher, es sind mehrere Attentäter. Nach den Geräuschen der Schüsse tippe ich auf drei. Gut verteilt, wenn sie clever genug sind.“

„Drei?“, wiederholte der Minister. „Und alle bewaffnet? Dann haben wir keine Chance.“

„Es gibt immer eine Chance. Wir müssen versuchen, auf öffentliches Terrain zu kommen. Ein paar Schritte weiter ist eine Straße. Dort werden sie nicht einfach so rumballern.“

„Als man mich in Moabit anschoss, interessierte es den Schützen auch nicht, mitten in der Großstadt zu sein.“

„Wollen Sie sich lieber im Wald abknallen lassen, Herr Minister? Wir sind doch keine Rehe. Wir sind Soldaten. Bleiben Sie in Deckung, Kopf runter. Da ist die Straße.“

„Da“ war mindestens hundert Meter entfernt, wie der Minister mit einem heimlichen Seufzer feststellte. Er hatte keine Lust, zu sterben. Aber auch die Schnauze voll davon, ständig um sein Leben rennen zu müssen. Irgendwann ermüdet man durchs Kämpfen.

Also stand er auf. Mit erhobenen Händen. Das sollten die Angreifer verstehen. Seine Worte auch: „Ihr verdammten, feigen Schweine. Ihr wollt Deutsche sein? Vielleicht noch deutsche Soldaten? Deutsche Soldaten schießen nicht aus dem Hinterhalt auf ihre Offiziere. Zeigt euch, wenn ihr den Mut dazu habt. Wir sind unbewaffnet.“

„Wir sind nicht unbewaffnet.“ Mit diesen Worten stand einer der Attentäter auf. Er war nur dreißig Schritt entfernt, aber so gekleidet, dass er gut mit der Umgebung verschmolz.

Der Minister erkannte ihn trotzdem. „Oberleutnant Baltheisser? Sie sind sich also nicht zu schade, einen ehemaligen Vorgesetzten anzugreifen?“

„Es heißt inzwischen Hauptmann Baltheisser. Nur, damit der Herr Minister auf dem Laufenden ist. Außerdem waren Sie von dem Moment an nicht mehr mein Vorgesetzter, als Sie den Waffenstillstand mit dem Feind unterschrieben haben. Als erster, wie ich hörte.“

„General von Dietrichstein hatte die Freundlichkeit, mir den Vortritt zu lassen. Schließlich hatte ich die Vereinbarungen zum Waffenstillstand hauptsächlich ausgearbeitet.“

„Sie haben seit Beginn des Krieges gegen diesen gekämpft. Sie und dieser Professor Rath. Der Professor ist tot, wie Sie vielleicht aus der Zeitung wissen.“

„Haben Sie mir das gleiche Schicksal zugedacht?“

Der Hauptmann lächelte nur. Dann pfiff er auf den Fingern und der Minister konnte sehen, es waren noch zwei weitere Attentäter da. Genau wie der Kriminalrat vermutet hatte. Alle drei waren bewaffnet. Mit Karabinern, Pistolen und Seitengewehren. Als wären sie an der Front. Vielleicht waren sie ja an der Front, dachte der Minister. Für den Hauptmann Baltheisser schien der Krieg noch nicht zu Ende zu sein.

„Wir wollen dich nicht so einfach erschießen, Minister.“ Der Hauptmann beobachtete, wie seine Kameraden näherkamen, statt den anzusehen, mit dem er sprach. „Was nutzt uns schon ein toter Minister. Ihr habt nicht nur einen schändlichen Waffenstillstand unterschrieben, sondern seid nun dabei, einen noch viel schändlicheren Frieden auszuhandeln. Wir wollten dir dazu die Meinung des Volkes mitteilen. Das lehnt jeden Frieden mit seinen Erbfeinden ab. Wir sind vielleicht etwas grob dabei gewesen und haben geschossen. Aber der Minister wird sich unsere Ermahnung deshalb viel besser merken, als wenn wir sie in diplomatische Worte gesteckt hätten.“

Inzwischen standen alle drei Offiziere viel näher beim Minister. Ihre Karabiner waren auf ihn gerichtet und er war nicht der Meinung, die Szenerie hätte an Bedrohlichkeit verloren. Auch wenn die Worte des Hauptmannes einen anderen Eindruck vermitteln wollten.

„Wenn ihr mich nicht erschießen wollt, wieso habt ihr immer noch eure Waffen auf mich gerichtet?“, fragte er.

Das Lächeln des Hauptmannes war keine Antwort, sondern eher eine weitere Drohung. „Wenn wir dich erschießen, Minister, müssten wir ja den Herrn Kriminalrat mit erschießen, mit dem du gewandert bist. Für einen Polizisten ist er ziemlich feige.“

Der feige Polizist stand bei diesen Worten auf. „Ich bin nicht feige, ich bin vorsichtig. Wenn man unbewaffnet ist, scheint mir das eine gute Polizeitaktik zu sein. Gewehrkugeln sind so schnell, keiner kann ihnen davonlaufen.“

„Doch, ihr könnt davonlaufen. Wir schenken euch euer erbärmliches Leben. Vorerst. Denkt immer an die mächtige Hand der Feme. Sie erreicht euch überall. Feige Politiker, die mit dem Feind paktieren, sterben schnell in der heutigen Zeit. Und jetzt lauft!“

„Wir dürfen gehen?“, fragte der Minister ungläubig.

„Ich würde mich damit beeilen. Meine Kameraden würden euch lieber tot sehen, aber ich schenke euch das Leben. Also lauft schon. Lauft schnell.“

Der Minister beeilte sich, dieser Aufforderung nachzukommen. Irgendwo dort vorn war die Straße. Wo die Straße war, war Sicherheit. Also lief er.

Der Kriminalrat lief nicht ganz so schnell. Vielleicht traf ihn deshalb der erste Schuss. Genau in den Kopf. Die anderen Schüsse trafen alle den Minister. Der hatte die Straße fast erreicht, als er getroffen wurde, und fiel nun die Böschung hinab, die ihn von der Straße trennte. Im Sterben sah er, wie sich die drei Männer über ihn beugten, die auf ihn geschossen hatten. „Ist er nun endlich krepiert?“, fragte einer von ihnen.

„Scheint nicht so“, erwiderte der Hauptmann. „Der andere ist schon krepiert. An einem direkten Schuss in den Kopf. Oberst von Krüger bat mich darum. Ihr wisst, was geschieht, wenn man ihm nicht gehorcht. Der hier wird auch gleich sterben. Machen wir dem Scheiß ein Ende und verschwinden dann.“

Der Minister sah noch die auf ihn gerichteten Karabiner. Die Schüsse hörte er nicht mehr.

Ort: Psyche, Moskau, Kreml

„Ich dachte, ich habe nicht richtig gehört, als mir mein Sekretär deinen Besuch meldete.“

„Überrascht? Ich wollte dir nur zur Genesung gratulieren, Genosse Bolschoi. Was ist daran so ungewöhnlich?“

„Ich dachte, du seiest ein unverzichtbarer Kommandeur unserer siegreichen Revolutionstruppen in deiner grusinischen Heimat, Genosse Wissarew.“

Der Genosse Wissarew spürte diesen Hieb. Der saß doppelt. Er war kein unverzichtbarer Kommandeur, sondern musste im Laufe des Bürgerkrieges erkennen, dass seine militärischen Fähigkeiten minimal waren. Außerdem hasste er es, von Russen wie Bolschoi darauf hingewiesen zu werden, aus welcher Gegend des Reiches er eigentlich stammte und dass er kein Russe sei. Vater Robert hatte sich alle Mühe gegeben, Pepis Aussprache zu verbessern. Aber besonders dann, wenn Wissarew aufgeregt oder wütend war, hörte man seinen Worten an, dass er kein echter Russe war. Die meisten Russen, mit denen er sprach, quittierten diese Tatsache mit einem Lächeln. Meist mit einem verächtlichen Lächeln.

„Meine Fähigkeiten als Kommandeur sind nicht länger gefragt, Genosse Bolschoi. Die Georgische Sozialistische Sowjetrepublik ist festes und unverbrüchliches Mitglied unseres großen, revolutionären Reiches. Auch Dank meiner Arbeit“, erklärte Wissarew.

„Hauptsächlich Dank deiner Arbeit, Genosse Wissarew. Sei versichert, wir werden deine Verdienste nicht vergessen. Allerdings vergisst das Zentralkomitee auch nicht den Streit zwischen dir und dem Genossen Michael Arx. Habt ihr diesen Streit inzwischen beendet?“

„Beendet? Dazu müsste der Genosse Arx einsehen, welche gravierenden politischen Fehler er gemacht hat, und helfen, diese rückgängig zu machen.“

Bolschoi richtete sich in seinem Bett auf. Mühsam, wie Wissarew mit innerer Genugtuung feststellte. „Gravierende politische Fehler? Seine Armeen sind siegreich, seine militärischen Fähigkeiten werden von niemandem angezweifelt. Ich glaube, abgesehen vom General Ehrlichthausen, gibt es keinen General auf Psyche, der Michael Arx das Wasser reichen könnte. Fehler? Oder ist es eher Neid?“

„Ich, neidisch? Kommunisten sind nicht neidisch, Genosse Bolschoi. Mir gefällt nur nicht, wie der Genosse Arx unsere revolutionären Errungenschaften mit Füßen tritt.“

„Er tritt sie nicht mit Füßen, er verteidigt sie. Erst wollte er nicht, aber ich habe ihn überzeugt.“

„Du hast ihn überzeugt, weiterzukämpfen?“

„Überrascht? Wusstest du, dass er uns für immer verlassen wollte?“, fragte Bolschoi.

Natürlich wusste Wissarew das. Er hatte gefeiert, als Tscherkassow ihm diese Nachricht brachte. Ohne Michael Arx wäre der Griff nach der Macht viel einfacher gewesen.

War wieder mal typisch für Bolschoi, ihm diese Feier zu versauen. Der sah aus dem Fenster und bekam nicht mit, welche Gedanken Wissarews Gesicht widerspiegelte.

Er hing seinen eigenen nach. „Ohne Michael Arx hätten wir den Krieg gegen die Weißen verloren. Trotz Mobilisierung der Massen. Er hat aus den Roten Garden eine Rote Armee, eine Truppe echter Revolutionäre gemacht. Keine Plünderungen mehr, keine vergewaltigten Frauen. So sollte Krieg sein.“

Keine Vergewaltigungen? Keine Plünderungen? Wissarew konnte sich einen Krieg ohne solche Zutaten nicht vorstellen. In Georgien hatten sie geplündert und Frauen vergewaltigt. Warum auch nicht? Es stand siegreichen Soldaten einfach zu.

Das Land nannte sich nun trotzdem Sozialistische Georgische Sowjetrepublik. Alle, die dagegen waren, hatte er aussortieren lassen und in sibirische Gulags gesperrt. Das brachte wahre Ordnung. Nicht Michaels Neuerungen.

„Er hat aus den Roten Garden wieder eine echte revolutionäre Truppe gemacht?“, stänkerte Wissarew deshalb. „Wahrscheinlich, weil er wieder den Generalsrang eingeführt hat und Leute erschießen lässt, die gegen die Disziplin verstoßen.“

„Richtig so“, stimmte Bolschoi zu. „Kann man denn anders ein Volk befreien? Indem man es ausplündert, vergewaltigt und einsperrt bestimmt nicht.“

„Man befreit es auch nicht, indem man zaristische Offiziere zu Befehlshabern einer sozialistischen Armee ernennt.“

„Wenn sie fähig sind und uns treu dienen. Warum nicht? Außerdem wurde mir zugetragen, wir hätten deren Familien in Sippenhaft genommen, damit diese Offiziere nicht vergessen, welchem Herrn sie dienen.“

„Das mit der Sippenhaft war meine Idee. Sonst hätte ich nie zugestimmt, diesen Offizieren in unserer Armee eine Befehlsgewalt zu übertragen. Michael hätte nur dem Wort dieser Herren vertraut.“

„Der alte russische Adel ist stolz auf seinen Ehrbegriff.“

„Dass du als Adliger deine Adelskollegen in Schutz nimmst, war so was von klar.“

„Unterbrich mich nicht! Besonders nicht mit solchen Vorwürfen! Noch führe ich unsere Partei. Noch stehen dort draußen mir sehr ergebene Genossen, die dich sofort festnehmen und ins Gefängnis stecken, wenn ich es ihnen befehle. Hast du das verstanden, Genosse Wissarew?“

„Klar und deutlich, Wladimir Iljitsch. Was aber, wenn dich deine Krankheiten zwingen, abzudanken? Oder wenn du stirbst? Es muss klare Nachfolgeregelungen geben. Sonst zerbricht die Partei nach deinem Tod und mit ihr die Revolution.“

Bolschoi musterte seinen alten Freund eine ganze Weile. Er schwieg dabei. Da auch seine Miene nichts ausdrückte, wurde es Wissarew langsam unbehaglich. Die Drohung mit den Wachen und dem Festnehmen hatte er nicht vergessen.

Er hatte einen Verdacht. Einen, den er aussprechen konnte, ohne seine Sicherheit zu gefährden: „Du hast dich mit ihm versöhnt, nicht wahr? Er hat dich auf seine Seite gezogen. Ich habe nicht geglaubt, dass er dir die Ermordung der Zarenfamilie so schnell verzeiht.“

„Er hat eingesehen, dass dies notwendig war.“ Bolschoi sprach so leise, dass Wissarew aufmerksam zuhören musste. Genau das schien der alte Revolutionär damit zu beabsichtigen.

Also lauschte Wissarew sehr aufmerksam.

„Michael hatte Angst, die Revolution würde im Chaos und der Unfähigkeit seiner Führer versinken. Eine berechtigte Angst, will mir scheinen. Wir waren dafür, den Zaren zu stürzen. Aber über das Danach hatten wir nur sehr unkonkrete und voneinander abweichende Vorstellungen. Seine sind konkret, durchdacht und nachvollziehbar. Ich habe über sein umfangreiches politisches und ökonomisches Wissen gestaunt. Er scheint alles gelesen zu haben, was je irgendwann und irgendwo über Revolutionen, Politik und Ökonomie geschrieben wurde. Nicht nur gelesen, er hat es auch verstanden. In den meisten Punkten besser als ich.“

„Du meinst, er wäre der beste Nachfolger für dich, den du finden kannst? Besser als ich? Du irrst. Ihm fehlt das Entscheidende.“

„Das Entscheidende? Was soll das sein?“

„Macht muss man unbedingt wollen. Und man muss bereit sein, alles dafür zu tun, sie sich zu erhalten. Das kannst du nicht und er erstrecht nicht.“

„Aber du? Du glaubst, du kannst das?“

Ort: Psyche, Bad Döttelbach, Schwarzwald

„Ich kann das nicht glauben. Er hat hier gelegen. Vor zwei Minuten noch. Ich habe ihn gespürt, bevor ich die RaumZeit verließ. Nun ist er weg“, tobte il caskar.

„Er war doch tot“, rätselte auch Takhtusho. „Tote hauen nicht ab. Warum haben sie ihn erschossen?“

„Weil er für sie genauso gefährlich war, wie für uns“, platzte il caskar in seiner Wut heraus, was er wohl besser verschwiegen hätte.

Denn Takhtusho erschrak. „Sie sollten ihn töten?“, fragte er seinen Boss. „Du hast das von ihnen verlangt?“

„Unsinn“, log il caskar. „Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. An solchen Fehlern stirbt man manchmal. Es ist wie ein Zweikampf.“

„Mord ist kein Zweikampf“, widersprach Takhtusho. „Mord ist verboten. Mord ist was für Feiglinge. Ich bin kein Feigling.“

„Willst du etwa behaupten, ich sei ein Feigling?“, schrie il caskar wütend. „Es war eine Auseinandersetzung zwischen Psychanern. Wenn der Kriminalrat Renatus dabei stirbt, kann man uns keine Schuld geben.“

„Aber hier liegt nur die Leiche des Ministers. Wir müssen uns beeilen. Die Mordkommission wird bald da sein“, ermahnte Bcoto. „Sakania wird unsere Spuren erkennen und uns verfolgen lassen, wenn wir nicht vorsichtig sind.“

„Keine Angst, ich werde unsere Spuren persönlich beseitigen“, antwortete il caskar hochmütig. „Vor Peta Avatars kleiner Tochter habe ich keine Angst. Mich kotzt nur an, dass mein Plan schiefgegangen ist.“

Bcoto hatte ihren Boss lange nicht mehr so wütend gesehen. Nach seinem großen Sieg, der Ermordung von Alexandra Al Kahira und Richard Kummer, war er regelrecht aufgeblüht. Die politische Situation auf Psyche spielte ihm in die Hand. Hier konnte er endlich das verwirklichen, was ihm auf Terra Nostra nie gelungen war.

Also zerfetzte er Imperien und schuf neue. Er verfeindete bisher befreundete Völker, um andererseits Gegner, die seit Jahrhunderten Feinde waren, mit Freundschaft zu beglücken. Und keiner trat ihm in den Weg. Kein Psychaner, keiner der Götter von der Terra Nostra. Nicht einmal eine Einmischung des Hohen Rates in die Taten il caskars war zu spüren. Dafür spürte Bcoto eine Spur von Catarina Velare. Eine Spur, die il caskar niemals wahrnehmen würde. Den Duft eines Parfüms. Damit erklärte sich für Bcoto das unerwartete Verschwinden des Kriminalrates.

Für il caskar war das immer noch ein Rätsel.

„Warum ist er dir so wichtig?“, versuchte Bcoto mit einer Frage zu klären, was ihr ein Rätsel war.

„Ich habe berechnet, dass er irgendwann einmal eine Gefahr für mich und meine Pläne sein wird“, wich il caskar der Antwort aus.

„Außerdem ist er ein Vollbürger“, ergänzte Takhtusho.

„Ein Vollbürger?“, fragte Bcoto, der die herrische Geste nicht entgangen war, mit der il caskar die Worte ihres Bruders abwürgte.

„Natürlich nicht“, erwiderte der, „aber er hätte das Zeug dazu gehabt, irgendwann mal einer zu werden. Er lebt schon ziemlich lange hier. Viel länger, als für Psychaner üblich. Er ist fast unverwundbar und war noch nie in seinem Leben krank. Nur durch die RaumZeit konnte er noch nicht reisen. Vielleicht hat sein plötzlicher Tod, den er sicher überlebt haben wird, diese Fähigkeit geweckt? Möglich wäre das. Wir werden ihn wiederfinden. Er ist Beamter. Diesen bequemen Job hat er noch nie aufgegeben. Also werden wir ihn auf seiner Arbeit finden. In Berlin. Im Polizeipräsidium von Berlin.“

„Soll ich hin? Soll ich ihn suchen, Chef?“, fragte Takhtusho eifrig. Er wusste nicht, ob er sich verplappert hatte, als er seiner Schwester das Vollbürgertum des Kriminalrates Renatus verriet. Wenn ja, wusste er, was zu tun sei. Unterwürfigkeit und Eifer kamen bei il caskar immer gut an.

Aber der winkte ab. „Das hat noch Zeit. In Deutschland läuft alles so, wie es laufen soll. Russland ist da schwieriger und hat deshalb Priorität. Wir brauchen Verbündete gegen Michael Arx. Genosse Tscherkassow arbeitet schon lange für uns. Wenn wir nun noch den Genossen Wissarew auf unsere Seite ziehen, steht einem Sieg gegen Michael Arx nichts mehr im Wege.“

„Dann red ich mit dem. Ich werde ihn schon überzeugen“, sagte Takhtusho in einem Ton und mit einer Geste, die einer ganzen Armee Angst gemacht hätte.

„Das ist unnötig. Ala Skaunia kümmert sich bereits darum“, wiegelte il caskar ab.

„Um Wissarew? Wie?“

il caskar lächelte nur auf diese Frage Bcotos.

„Verstehe“, erwiderte Bcoto, die nicht nur das Lächeln il caskars verstand, sondern auch einen Plan, der nur von Ala Skaunia kommen konnte. „Sie kümmert sich auf eine Weise um den Genossen Wissarew, die Takhtusho nicht möglich wäre. Habe ich recht?“

„Leider lassen die Neigungen des Genossen Wissarew den Einsatz von Männern nicht zu. Den von Frauen schon.“

„Wenn du seine Neigungen so gut kennst, weißt du auch, in welcher Gefahr sich Ala Skaunia befindet.“

„In Gefahr? Bei diesem Ureinwohner? Wohl kaum.“

Ein kurzer mentaler Impuls von Bcoto ließ il caskars Selbstsicherheit sofort bröckeln. Der erschrak, denn so detailliert, wie sie Bcoto schilderte, waren ihm die sexuellen Neigungen des Genossen Wissarew nicht bekannt.

Typisch war, dachte Bcoto, dass er ihre Informationen im MindWeb verifizierte, bevor er ihr glaubte.

Ihre Befürchtungen, il caskar würde sie nicht zu ihr lassen, waren unberechtigt. Sein Befehl war eindeutig: Bcoto sollte Ala Skaunia in Russland beschützen.

Ort: Psyche, Kunzewo, Wissarews Datscha

Ala Skaunia warf noch einen Blick ins Schlafzimmer. Dann schloss sie sacht die Tür.

„Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“

Ala Skaunia holte tief Luft, um nicht zu schreien, so erschrocken war sie.

Ihre ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet gewesen, den Genossen Wissarew nicht zu wecken. Schließlich schlief der endlich und ließ sie in Ruhe. Das wollte sie genießen. Außerdem konnte sie diese Ruhe nutzen, ihren Haaren mit mentaler Kraft wieder jenes Semmelblond zu geben, dass il caskar so liebte, Wissarew aber nicht ausstehen konnte. Der mochte nur Frauen mit schwarzem Haar. Zum Glück wurde sie nur von Bcoto bei dieser „kosmetischen Operation“ überrascht.

„Was machst du hier?“, fragte sie argwöhnisch und bereits wieder blond.

„Ich bin zu deinem Schutz hier. il caskar hat von deinem genialen Plan erzählt, wollte aber sichergehen, dass dir dabei nichts passiert. Er weiß inzwischen, was für Neigungen Wissarew noch hat.“

„Weißt du das auch? Hast du uns beide schon lange beobachtet?“

„Konnte ich nicht. Ich bin erst seit ein paar Minuten hier“, log Bcoto.

Um ihre Erleichterung zu verbergen, gab Ala Skaunia eine Antwort, die typisch war. Typisch für sie und typisch für ihr Verhältnis zu Bcoto. Sie fing an zu prahlen, als hätte eine Bedrohung nie existiert: „Du hättest eher da sein sollen. Von Anfang an. Du kannst viel von mir lernen, was den Umgang mit Männern betrifft. Vor allem, wie Frau im Bett mit ihnen umgehen muss. Besonders mit solch machtgierigen Männern, wie Wissarew einer ist. Ein Mann? Eigentlich ist der nur ein Würstchen. Vor allem in der Hose …“

Bcoto ließ sie weiterplappern. Sie wusste, irgendwann würde Ala Skaunia ihre und il caskars Pläne vollständig ausplaudern, um sich damit zu brüsten.

Sie hatte Recht. Ala Skaunia plauderte alles aus.

Nicht nur Bcoto hörte interessiert zu.

Sondern auch Catarina Velare.

Omnipotens

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