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Оглавление„Geschichte fühlen statt lesen“. Mit diesem Slogan kommentierte die BZ im August 2012 das neue Rundbild-Panorama des Künstlers Yadegar Asisi am Checkpoint Charlie.1 Der österreichisch-deutsche Künstler und Architekt ist bekannt für seine 360-Grad-Panoramen, die aktuell zu den größten der Welt zählen. Im September 2012 eröffnete er am ehemaligen Berliner Grenzübergang Checkpoint Charlie das Panorama DIE MAUER – das asisi Panorama zum geteilten Berlin. Auf einer Fläche von 900 Quadratmetern und Innenmaßen von15 Metern Höhe und 60 Metern Umfang zeigt der in Sachsen aufgewachsene Künstler einen fiktiven Tag im Westteil der Stadt im November des Jahres 1980. In dem Panorama geht es weniger um Geschichtsvermittlung als um ein Geschichtserlebnis. Die heutigen Besucher_innen können in das Rundum-Panorama eintauchen; es bietet ihnen das Versprechen einer Zeitreise und damit des Nacherlebens und Nachfühlens dessen, was West-Berliner_innen 1980 in der geteilten Stadt gesehen, erlebt und gefühlt haben könnten.
Ein Geschichtserlebnis ist ein emotionales Erlebnis
Asisis Panorama setzt insbesondere auf Neugierde, Vergnügen, Spannung und Spaß, d. h. auf ein emotionales Erleben von Geschichte.2 Dieses entsteht durch die Imitation historischer Perspektiven. Die Besucher_innen stehen auf einer vier Meter hohen Plattform, die ihnen die Illusion vermittelt, dass sie aus der Sebastianstraße im West-Berliner Bezirk Kreuzberg über die Mauer hinweg in die Mitte Ost-Berlins blicken. Sie sehen zum einen die mit Graffiti verzierte Mauer, davor das alternative Leben in den besetzten Häusern entlang der Mauer. Zum anderen ermöglicht das erhöhte Podest den Blick über die Mauer hinweg auf die Grenzanlagen, also auf den hell ausgeleuchteten ‚Todesstreifen‘ und die Wachtürme mit den bewaffneten Grenzsoldaten. Dahinter sind vor wolkenverhangenem Himmel graue Häuserfassaden zu sehen. Visueller Fluchtpunkt ist der Fernsehturm, der eindeutig die Blickrichtung von West nach Ost markiert. Die Besucher_innen können wählen, ob sie unten am Fuße der Mauer entlanggehen und nicht mehr als die Graffiti sehen oder den erhöhten Standpunkt auf der Plattform einnehmen wollen. Beide Perspektiven sind so realistisch wie möglich ausgestaltet, um ein ‚authentisches‘ Erlebnis (vgl. Kap. 2) zu ermöglichen. Damit erfahren die Besucher_innen von heute, wie privilegiert ihr Blick ist, nämlich genauso, wie es jener der West-Berliner war. Menschen, die im Ostteil der Stadt lebten, sind nicht sichtbar und konnten im Umkehrschluss ja auch selbst nicht über die Mauer sehen. Diese Perspektive bleibt dem Publikum von heute vorenthalten.
Geschichte wird zur Touristenattraktion
Das Mauer-Panorama bildet zusammen mit dem privaten Mauermuseum – Museum Haus am Checkpoint Charlie und der BlackBox Kalter Krieg des Berliner Forums für Geschichte und Gegenwart ein besonders dichtes Ensemble verschiedener Formate historischer Präsentationen in der Berliner Friedrichsstraße. Besonders historisch wirkt der Ort durch ein imitiertes Grenzpostenhäuschen der US-Army in der Mitte der Straße, vor dem entsprechend der Vorstellungen von Authentizität Sandsäcke aufgestapelt liegen und Männer in original anmutenden Uniformen posieren. Für ein Trinkgeld lassen sie sich mit Tourist_innen fotografieren. Die Sichtbarmachung als zentraler historischer Ort erfolgt zudem durch ein echt wirkendes Warnschild, auf dem in den Sprachen der Alliierten und auf Deutsch darauf aufmerksam gemacht wird, dass der „amerikanische Sektor“ an dieser Stelle endet.
Mit dieser Dichte von Erlebnisangeboten ist der Checkpoint Charlie der zentrale touristische Ort, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie sich Berlin zur Zeit der Mauer angefühlt haben könnte. Der Journalist Ernst Elitz kommentierte im politischen Magazin Cicero im Sommer 2018 sehr treffend:
Heute ist der Checkpoint Charlie ein Rummelplatz mit dem Charme einer innerstädtischen Müllhalde […]. Hütchenspieler zocken Touristen ab, GI-Darsteller lassen sich vor einer Kontrollbuden-Attrappe mit aufgeregten Berlin-Besuchern fotografieren. Gruseln vor der Mauer gehört zum Reiseprogramm.3
Es wird deutlich, dass das Erlebnis von Geschichte in zweifacher Hinsicht auf das emotionale Erleben setzt. Einerseits sollen Neugierde und Interesse der Besucher_innen durch die Inszenierung geweckt werden, andererseits wird versucht, historische Emotionen zu vermitteln, wie Beklemmung und Angst (das historische Gruseln) angesichts der Grenzanlagen.
Emotionen machen das Geschichtserlebnis attraktiv
Das Mauer-Panorama steht für einen Trend in der gegenwärtigen Public History. Die Vergangenheit scheint vor allem dann spannend, attraktiv und damit ökonomisch einträglich, wenn sie als Erlebnis (vgl. Kap. 5) oder als Event daherkommt und nicht mehr nur Kognition, sondern auch Emotionen adressiert. Die Geschichtsdarstellung muss dementsprechend nicht nur den Kopf ansprechen, sondern auch mit allen Sinnen erfahrbar sein, das Herz berühren. Das Beispiel macht deutlich, welche entscheidende und doppelte Bedeutung dem emotionalen Erlebnis in der Begegnung mit Geschichte zugeschrieben wird. Emotionen sind erstens Gegenstand der Darstellung. In dem Beispiel geht es um die Emotionen der West-Berliner_innen im Schatten der Mauer an einem Novembertag im Jahre 1980. Zweitens soll Geschichte gefühlt werden, d. h., das Erlebnisangebot soll Emotionen bei den Besucher_innen hervorrufen, Neugierde wecken, zum Mitfühlen einladen, unterhaltsam sein.
Emotionen, so unsere zentrale Annahme, sind eine Analysekategorie, die dazu geeignet ist, den spezifischen performativen Charakter von Geschichtsdarstellungen (vgl. Kap. 10) zu erfassen. Doch was sind Emotionen, gar historische Emotionen? Wo genau befinden sie sich im Prozess der Geschichtskommunikation? Was sind Strategien und Praktiken der Emotionalisierung und wie prägen oder verändern sie heutige Geschichtsdarstellungen? Im Folgenden wird zunächst geklärt, was Emotionen sind, und anschließend verdeutlicht, dass es sehr verschiedene Zugänge zu Emotionen und Geschichte gibt, weshalb auch ihre Rolle in der Public History und ihre Analyse vielschichtig und komplex sind.
3.2Emotion, Affekt und Gefühl. Ein Ordnungsversuch
Emotionen zwischen Universalismus und Konstruktivismus
Über das menschliches Fühlen zerbrachen sich schon Philosoph_innen vor mehr als zwei Jahrtausenden den Kopf. So stammt von Aristoteles eine der bekanntesten und frühesten Definitionen von Emotionen. Sie
sind die Dinge, durch welche sich die [Menschen], indem sie sich verändern, hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und welchen Lust oder Schmerz folgt, wie zum Beispiel Zorn, Mitleid oder Furcht und was es sonst noch Derartiges davon gibt sowie die Gegenteile von diesen.4
Diese Definition ist deshalb der Ausgangspunkt für die Emotionsforschung, da sie sowohl für einen universellen Blick auf Emotionen steht, als auch das Moment der Wandelbarkeit, der Veränderung erfasst.
Affekte sind universale körperliche Reaktionen
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge einer Ausdifferenzierung und Etablierung von akademischen Disziplinen und Methoden, kristallisierten sich zwei entgegengesetzte Vorstellungen von menschlichen Emotionen heraus, die bis heute den disziplinär spezifischen Zugriff auf das menschliche Fühlen bestimmen: zum einen die ältere und damit auch diskursiv wirkmächtigere universalistische Vorstellung von zeit- und kulturübergreifendem menschlichem Fühlen, zum anderen ein kulturkonstruktivistischer Blick auf Emotionen. Die universalistische Vorstellung, vertreten vor allem von Neurowissenschaftler_innen, geht davon aus, dass Menschen über ein Set von Basisemotionen verfügten, das über Jahrtausende unverändert sei und kulturunabhängig funktioniere. Es wird versucht, das menschliche Fühlen vor allem durch den Blick auf Gehirnaktivitäten zu ergründen. Vertreter_innen der Neurowissenschaften sprechen gern von Affekten statt von Emotionen, weil dahinter die Vorstellung steht, dass der Affekt etwas „rein körperliche[s], vorsprachliche[s], unbewusst[ ] Emotionale[s]“ sei.5
Emotionen verändern sich im Laufe der Geschichte
Geisteswissenschaftler_innen halten jedoch dagegen: Für sie sind Emotionen keine anthropologischen Konstanten. Stattdessen betonen sie, dass menschliches Fühlen kultur- und zeitspezifisch ist. Im Unterschied zur Annahme unmittelbarer körperlicher Affekte wird hier davon ausgegangen, dass es ein bewusstes Fühlen gibt und dieses sowohl in sprachliche als auch in nonverbale Repräsentationen eingeht. Diese wiederum sind die Quellen, die es zu analysieren gilt, wenn man vergangenem Fühlen und seinem Wandel auf die Spur kommen möchte.
Die neuere geisteswissenschaftliche Forschung zu Emotionen versucht sich von den traditionellen Dichotomien von Natur vs. Kultur und damit Universalismus vs. Sozialkonstruktivismus zu befreien.6 Auf der Suche nach einer operationalisierbaren Synthese zwischen den Geistes- und den Lebenswissenschaften gibt es auch und gerade von Seiten der Historiker_innen in den letzten beiden Jahrzehnten Ansätze, die insbesondere für oben gestellte Fragen nach Emotionen und Emotionalisierung in der Public History vielversprechend sind.7 Entsprechend diesen Vorschlägen soll im Folgenden der Begriff der Emotion als „Metabegriff“ benutzt werden, wobei Emotion und Gefühl synonym verwendet werden. Auf den Begriff des Affektes hingegen, der sich durch die Annahme des vorsprachlich Unbewussten gegen die oben benannte Synthese sperrt, wird hier bewusst verzichtet.8
Angst ist eine Körperreaktion und eine kulturelle Praktik
Emotionen sind eine zentrale Dimension von Erfahrung und Erkenntnis; diese Einsicht wird disziplinenübergreifend geteilt. Für die Frage nach Gestalt, Ausprägung und Darstellung der Gefühle von Menschen in vergangenen Zeiten braucht es jedoch einen substanziell anderen Zugang als den der natur- und lebenswissenschaftlich arbeitenden Disziplinen. Anders als Neurowissenschaftler_innen können Historiker_innen ihren Untersuchungssubjekten nicht in den Kopf hineinschauen, mithilfe von bildgebenden Verfahren Gehirnaktivitäten darstellen. Historiker_innen brauchen überlieferte Repräsentationen der Emotionen von Menschen, die im jeweiligen Untersuchungszeitraum lebten, also Quellen, mit deren Hilfe vergangenes Fühlen rekonstruiert werden kann. Doch nicht nur die erkenntnistheoretischen Methoden, sondern auch die forschungsleitenden Fragestellungen an menschliches Fühlen in der Geschichte unterscheiden sich grundsätzlich. Während beispielsweise die Neurowissenschaft den Affekt Angst in der Amygdala des menschlichen Gehirns als Ergebnis chemischer Reaktionen untersucht, interessieren sich Historiker_innen dafür, mit welchen Worten und in welchen Praktiken Angst in spezifischen Kulturen und Zeiten zum Ausdruck gebracht wurde, wie sich die Repräsentationen der Emotion Angst veränderten und wie das Angstfühlen sich in wirkmächtige Handlungen übersetzte.9 Dennoch sind Emotionen, auch wenn sie kulturkonstruktivistisch konzipiert werden, nicht körperlos zu denken. Daher wird im folgenden Abschnitt eine Definition von Emotion vorgeschlagen, die der Idee der transdisziplinären Synthese folgt und dabei die Historizität von Emotionen an die vorderste Stelle rückt.
3.3Emotionen und Geschichte. Eine Analyse in drei Schritten
Eine Theorie der Emotionen in der Public History bedarf einer analytischen Unterscheidung auf drei Ebenen.
Emotionen sind historische Objekte
Erstens haben wir es mit vergangenen Emotionen der historischen Akteur_innen zu tun. Die geschichtswissenschaftliche Theoretisierung findet in dem Forschungszweig statt, der sich in den letzten 10 bis 15 Jahren unter der Bezeichnung Geschichte der Gefühle oder history of emotions international etabliert hat. Die Emotionen sind Objekte historischer Erforschung. So wird beispielsweise nach Angst10, Wut11, Demütigung12 oder Gelächter13 in der Geschichte gefragt. Die fachwissenschaftliche Beschäftigung mit Emotionen findet damit auf der Objektebene statt.
Subjektive Emotionen in der Begegnung mit Geschichte
Zweitens geht es in den konkreten Situationen der Kommunikation und Rezeption von Geschichte immer auch um die Gefühle der beteiligten Menschen, der Ausstellungsmacher_innen, der Museumspädagog_innen und der Besucher_innen. Diese Emotionen sind auf der Subjektebene derjenigen angesiedelt, die an den Vermittlungspraktiken in welcher Rolle auch immer beteiligt sind. Diese subjektiven Emotionen werden zunehmend in der geschichtsdidaktischen Theoriebildung berücksichtigt, indem z. B. nach emotionalen Reaktionen von Schüler_innen in Prozessen historischen Lernens gefragt wird.
Emotionalisierung in der Geschichtsvermittlung
Drittens muss in den Blick genommen werden, wie die emotionale Ansprache in den verschiedenen Formaten der Geschichtsdarstellung konkret aussieht. Diese soll unter dem Begriff der Emotionalisierung erfasst werden. Dazu gilt es, genauer auf das Vermittlungssetting zu fokussieren: Wie sehen die Narrative über die Emotionen der historischen Akteur_innen aus? Mit welchen Medien, welcher Sprache, welchen Praktiken werden diese historischen Emotionen präsentiert? Wie verhält sich das zu der erwünschten emotionalen Reaktion der Rezipient_innen? Was sind demnach Techniken und Erscheinungsformen der Emotionalisierung?
Insbesondere die Analyse der Emotionen auf der Objekt- und der Subjektebene muss zunächst getrennt voneinander stattfinden. Auf der dritten Ebene der Emotionalisierung kann diese Unterscheidung nicht immer eindeutig aufrechterhalten werden, das jedoch ist genau das Problem, das nachfolgend diskutiert werden soll.
3.3.1Objektebene: Emotionen als Gegenstände historischer Darstellung
Das ‚Augusterlebnis‘ und die Handlungsrelevanz von Emotionen
Den Auftakt für eine Geschichte der Emotionen gab bereits 1941 der französische Historiker Lucien Febvre mit dem Statement, dass Emotionen „ansteckend“ und damit handlungsrelevant seien: „Sie implizieren zwischenmenschliche Beziehungen und kollektive Verhaltensweisen“.14 Beispiele dafür liefert die Vergangenheit genug; erinnert sei an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Die deutschen Tageszeitungen waren voll von Berichten über die emotionale Gemengelage von gelöster Anspannung, feierlicher Euphorie und banger Sorge. So wusste ein Reporter aus Freiburg zu berichten:
Es ist Wahrheit, kalte, grausame Wahrheit, befreiende, erlösende Botschaft aus der Qual der furchtbaren Ungewissheit: Der Kaiser hat gesprochen. Aber während am Samstag sich die lohende Begeisterung in Jubelhymnen Luft machte, breitet sich jetzt ein tiefernstes Schweigen über die Tausenden, die bald zusammenströmen. Ein Schweigen allerdings, unter dem ein Vulkan von Empfindungen gährt [sic] und brodelt. Finsterer Ernst eiserner Entschlossenheit gräbt sich in die Züge der Männer.15
In der zeitgenössischen Propaganda wurde insbesondere das Narrativ von der ansteckenden Begeisterung der deutschen Bevölkerung gepflegt. Dafür entstanden ikonografische Fotos von jubelnden Menschenmassen oder sogenannte Hörbilder, für die der scheinbar spontane Gesang nationalistischer Lieder auf Wachswalzen konserviert wurde. Diese konnten dann noch lange nach den ersten Todesmeldungen von der Front abgespielt werden.. Später haben sich Historiker_innen genau an der Frage der Handlungsrelevanz und des Ansteckungspotenzials von Emotionen zum Kriegsausbruch abgearbeitet. Christopher Clark hat beschrieben, wie die Bevölkerungen Europas größtenteils „schlafwandelnd“ in den Krieg getaumelt seien, gierig auf Ereignisse, euphorisch darüber, dass sich die explosive Spannung endlich in der Ausrufung des Krieges lösen durfte.16 Jeffrey Verhey hingegen hat herausgestellt, dass die Begeisterung längst nicht so weit verbreitet war, wie die Propaganda Glauben machen wollte.17 Das belegen auch Tagebucheintragungen aus der Zeit: Im Oktober 1914 beschreibt ein unbekannter Soldat seinen Einzug zur Front und notiert, wie er unter Jubel und Hurrageschrei zum Bahnhof begleitet wurde, die Stimmung im Zug sich jedoch änderte:
Nun saßen wir an den Wagenfenstern. Scherzworte flogen hinüber und herüber, die Stimmung war mehr als ausgelassen. Noch zwei Minuten bis zum Abgang des Zuges. – Plötzlich wird die Stimmung ernst und ernster. Langsam setzt sich der ungeheure Zug in Bewegung; ich weiß nicht, es war uns allen so seltsam zu Mute. Ob wir ahnten, was uns allen bevorstand?18
Ob Jubel oder Ängstlichkeit, die Quellen zum ‚Augusterlebnis‘ sind voller Schilderungen von Emotionen, die nachdrücklich verdeutlichen, dass sich die Geschichte des Augusts 1914 als eine Geschichte gegensätzlicher Emotionen schreiben lässt.19
Ein geschichtswissenschaftlicher Emotionsbegriff
Die neuere deutschsprachige Emotionsgeschichte startete vor knapp 15 Jahren mit der Beobachtung, dass Gefühle, so Ute Frevert, „geschichtsmächtig“ seien, Handlungen begründeten, historische Verläufe antrieben. Des Weiteren seien Emotionen auch „geschichtsträchtig […]. Sie machen nicht nur Geschichte, sie haben auch eine. Sie sind keine anthropologischen Konstanten, sondern verändern sich in Ausdruck, Objekt und Bewertung“.20 Das bedeutet, dass emotionale Erfahrung zwar etwas ist, das Menschen substanziell über Zeiten und Kulturen miteinander verbindet, dass sich aber die Bedeutung von Emotionen genauso wie die Deutung emotionalen Verhaltens, die Regeln des Zeigens und Versteckens von Emotionen verändern. Emotionen und ihr Ausdruck sind wandelbar, sie werden erlernt, geformt, „gemanagt“.21
Dieser Wandelbarkeit habhaft zu werden, den Regeln emotionalen Verhaltens auf den Grund zu gehen, das ist das Ziel einer Geschichte der Gefühle und dafür braucht es ein operationalisierbares Konzept von Emotionen sowie entsprechende Methoden.
Emotionen sind körperlich
Mit dieser Wandelbarkeit ist ein wesentliches Merkmal im Emotionskonzept benannt. Ein zweites Merkmal siedelt Emotionen im menschlichen Körper an. Anders jedoch als in den Naturwissenschaften wird der Körper in diesem Konzept ebenfalls als historisch geworden und veränderbar betrachtet. Denn Emotionen sind nach den Überlegungen der Historikerin Sarah Ahmed die „Markierungen“ (im Sinne von einprägen, „impress“), die die Begegnungen mit der Welt in unseren Körper hinterlassen. Diese Markierungen und Eindrücke, auch Impressionen genannt, verändern den Körper immer wieder von Neuem.22 Emotionen schreiben sich damit dem Körper ein und sind an Körper gebunden. Denn mit dem Körper können Menschen Emotionen kommunizieren, sichtbar- und hörbar machen, zugleich lagert sich dem Körper emotionales Erleben ein. Glückliche Menschen bewegen sich freier, unbeschwerter, ängstlichen Menschen sitzt etwas wortwörtlich „im Nacken“, wer Ärger hat, dem ist etwas „auf den Magen geschlagen“. Daher sind Emotionen etwas, was wir „tun“, sie sind Praktiken des Selbst, wie Monique Scheer herausstellt. Daher erweitert sie ihr Konzept von Emotionen um „die Dimension des Handelns“:
Ich möchte […] betonen, dass das Fühlen eng mit dem Ausdruck, mit körperlichen Aktivierungen und Bewegungen verwoben ist. Statt streng zwischen innerlichem Gefühl und äußerlichem Ausdruck zu unterscheiden, sollte man danach fragen, wie das Äußere und das Innere sich gegenseitig konstituieren.23
Eine geschichtswissenschaftliche Definition
Emotionen, so lässt sich definieren, sind demzufolge dadurch gekennzeichnet, dass sie kulturell und strukturell erlernt und in sozialen Praktiken verinnerlicht, aber auch ausgehandelt werden. Zentraler Akteur und Medium der Einschreibung von Emotionen, aber auch des Ausagierens, der Kommunikation, des Ausdrucks ist daher der Körper, der entsprechend den Konzepten der Körperethnologie als ein Produkt sowohl biologischer als auch kultureller Faktoren, als konzeptionelle Vereinigung von Körper, Geist und Gesellschaft gesehen wird.24
Diese Definition erfasst demnach die Veränderbarkeit von Emotionen und siedelt deren Wirkmächtigkeit auf der Schwelle und im Miteinander zwischen dem individuellen „Innen“ und dem gesellschaftlichen „Außen“ an. Was das für die Geschichte eines konkreten Gefühls bedeutet, lässt sich beispielhaft an der Geschichte des Heimwehs zeigen.
Heimweh als tödliche „Schweizer Krankheit“
Heimweh galt zunächst gar nicht als Emotion, sondern als eine Krankheit. Zwischen dem 17. und dem späten 19. Jahrhundert war Heimweh eine medizinisch präzise erfasste tödliche Krankheit.25 Erstmals beschrieben wurde das Phänomen 1688 vom Schweizer Arzt Johannes Hofer, der das Leiden zahlreicher sterbenskranker Schweizer Soldaten im Ausland untersuchte. Dementsprechend begann die Geschichte des Heimwehs als eine Geschichte der sogenannten „Schweizer Krankheit“.26 Die Symptome der Krankheit waren „fortwährende Traurigkeit, häufige Seufzer, fortwährendes Denken an die Heimat, unruhiger Schlaf, Abnahme der Kräfte, geringer Appetit, Herzensängste, Fieber, Schwächung, Abmagerung“.27 Daher würde Heimweh unweigerlich zum Tode führen, wenn man die Betroffenen nicht in ihre Heimat zurückschickte. Dieses Heimweh war ein Sehnen nach dem verlassenen Zuhause, den Alpen, der zurückgelassenen Familie oder dem Hof.
Heimweh als Anpassungsschwierigkeit
Der medizinische Diskurs über Heimweh als tödliche Krankheit veränderte sich erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Industrialisierung erforderte eine höhere Mobilität der Menschen: Mit Zügen und Dampfschiffen oder auch auf Pferdekarren verließen sie ihre Heimat. Heimweh war in diesem Prozess steigender Mobilität eher ein hinderlicher Störfaktor. Es galt, sie als übergangsweise Anpassungsschwierigkeit zu überwinden. Heimweh wurde in der medizinischen Literatur des späteren 19. Jahrhunderts dementsprechend anhand von Begriffen wie Trennungsschmerz, Traurigkeit, Einsamkeit oder Melancholie beschrieben. Damit war Heimweh eher das Symptom einer depressiven Verstimmung bzw. eine Emotion denn eine Krankheit.
Heimweh als pädagogische Herausforderung
Heimweh als emotionale Anpassungsschwierigkeit wurde um 1900 eher unreifen (damit meinte der Diskurs auch: einfachen, ungebildeten) Menschen zugeschrieben, vor allem aber Kindern und Heranwachsenden. Dieser Wandel von der Krankheit Heimweh zu einem Anpassungsgefühl lässt sich sehr gut anhand des Heimwehdiskurses in der pädagogischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts nachvollziehen.28 Um 1900 war die Kinderbuchheldin Heidi in Johanna Spyris weltbekanntem Roman noch schwerkrank; sie litt an pathologischem Heimweh, genau wie die Schweizer Söldner des 17. Jahrhunderts. Allein die Rückkehr in die Schweizer Alpen rettete sie vor dem unweigerlichen Tod. Die kindliche Trauer und verzehrende Sehnsucht nach der verlassenen Heimat und dem Elternhaus wurde nach der Jahrhundertwende zu einer erzieherischen Herausforderung. Die Kinder des frühen 20. Jahrhunderts waren im Gegensatz zu Heidi nicht mehr unheilbar krank, sondern nur unreif. Aufgabe der Eltern und Pädagog_innen war es, die Kinder anzuleiten, mit ihren emotionalen Anpassungsproblemen umzugehen, sie zu überwinden und daran zu reifen. So wird 1913 im Lexikon der Pädagogik das überwältigende Gefühl von Heimweh als ganz selbstverständlich beschrieben und zur Nachsicht geraten: „Da gilt es, Geduld zu üben und viel Liebe zu zeigen“.29 Gleichzeitig richtete sich der pädagogische Diskurs darauf aus, das Heimweh durch eine entsprechende Erziehung zu verhindern. „Charakterstärke“, „Sittlichkeit“ und „Vernunft“ galten als sinnvolles Gegenmittel und wurden den Eltern als klare Erziehungsziele aufgegeben.
In den Folgejahrzehnten setzte sich immer mehr die Auffassung durch, dass Heimweh ein Anzeichen von fehlendem Selbstwertgefühl sei und nur gemütsbetonte, schwache Kinder befallen würde. Daher war die Kinderbuchliteratur voll von Mädchen, die an Heimweh litten, wohingegen die Jungen eher zu Fernweh neigten und sich durch ihre Lust auf Abenteuer treiben ließen. Den Müttern wurde daher der Ratschlag erteilt, ihre Kinder nicht zu sehr zu verwöhnen, denn Reife könne sich vor allem durch innere Stärke entwickeln.
Das nostalgische Heimweh in der Nachkriegszeit
Dieser Heimwehdiskurs veränderte sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts Millionen Geflüchteter und Vertriebener gravierend. Heimweh, als die Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat und einer verlorenen Zeit, wurde zu einem öffentlich zeigbaren und erlaubten Gefühl, nicht nur für Kinder. Dieses nostalgische Heimweh kann als Grundgefühl der Bundesrepublik der 1950er bezeichnet werden. Nicht von ungefähr stand der Schlager „Heimweh“ von Freddy Quinn 1956 für 21 Wochen an der Spitze der deutschen Hitparade – bis heute ein Rekord.
Das modernitätskritische Heimweh
In den 1960er/1970er Jahren verlor das Heimweh im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik an Bedeutung. Um 1980 wiederum kehrte es zurück, dieses Mal im Gewand eines legitimen modernitätskritischen Gefühls, in einer Zeit, die als Postmoderne, als „Auslaufen der Fortschrittsmoderne“30 charakterisiert wird. Mit dem Heimwehgefühl fand das Verlangen nach und das Recht auf Wurzeln und Geborgenheit eine neue Berechtigung. Heimweh war erlaubt, mehr noch, Heimweh war nach einer Phase von Heimatverlust, Flucht oder Vertreibung aus der Heimat in der Mitte des Jahrhunderts sogar notwendig im persönlichen Reifeprozess, um sich in einer immer mobileren und sich globalisierenden Welt zurechtzufinden.
Gesellschaftliche Diskurse verändern Emotionsregeln
Dieser Exkurs über Heimwehdiskurse in über 300 Jahren zeigt beispielhaft, dass es kein universelles Heimwehgefühl gab und gibt, mehr noch: Das Heimweh startete als Krankheit, wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Verlust- und Sehnsuchtsgefühl und im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein modernitätskritisches Gefühl. Diese Geschichte verdeutlicht, dass sich Gefühle im Wechselspiel mit medizinischen, pädagogischen und philosophischen Diskursen und in Abhängigkeit von historischen Ereignissen permanent verändern. Das ist ein Befund, der verallgemeinert werden kann: Emotionen sind kulturell und historisch wandelbar und unterliegen permanenter Aushandlung und Anpassung an die je zeitgenössischen Emotionsregeln und an die je eigene Gemeinschaft. Der Exkurs zu Heimweh unterstreicht, wie sich ein bestimmtes Gefühl im Laufe mehrerer Jahrhunderte wandelte, wie sich gesellschaftliche Vorstellungen und Diskurse veränderten und wie diese festlegten, was zu fühlen erlaubt war und was nicht, wie ein bestimmtes Gefühl in der Öffentlichkeit gezeigt werden durfte oder nicht bzw. welche Gefühle warum überwunden werden sollten.
Das Beispiel zeigt aber auch, dass Emotionen als Modus menschlicher Weltwahrnehmung und menschlichen Handelns ein elementarer Bestandteil von Geschichte sind. Zugleich sind sie aus diesem Grund auch immer Teil von Geschichtsdarstellungen. Es liegt auf der Hand, dass sie auch in der Begegnung mit Geschichte eine große Rolle spielen.
3.3.2Subjektebene: Emotionen in der Begegnung mit Geschichte
Emotionen sind bei der Geschichtsvermittlung immer vorhanden
Ein bedeutender institutioneller Rahmen für Begegnungen mit Geschichte ist der schulische Geschichtsunterricht. Die Theoriebildung zu Emotionen in Auseinandersetzung mit Geschichte findet daher bisher durch die Geschichtsdidaktik statt, auch wenn es bisher kaum empirische Forschung dazu gibt. Die Impulse kamen in den letzten Jahren zum einen aus der fachwissenschaftlichen Emotionsgeschichte; zum anderen ist das akademische Interesse an Emotionen in Lehr-Lern-Kontexten in der letzten Zeit ganz besonders ausgeprägt.
Aus diesem Grund leiten sich die folgenden Überlegungen über subjektive Emotionen in der Begegnung mit Geschichte aus geschichtsdidaktischen Überlegungen her, die sich zum großen Teil aus Forschungen zum Geschichtsunterricht speisen. Diese werden am Ende dieses Kapitels in Hinblick auf die Fragen und Anforderungen der Public History zugespitzt.
Aktivierung und Blockierung von Emotionen sind Emotionsmanagement
Emotionen sind in der Auseinandersetzung mit Geschichte, egal in welchem institutionellen Rahmen, schon immer vorhanden.31 Geschichtsdarstellungen sollen traditionellerweise Kenntnisse vermitteln und Orientierungswissen bereitstellen. Um das leisten zu können, sollen sie Neugierde wecken können, möglichst spannend sein, Interesse herstellen, bestenfalls für historische Themen begeistern. Emotionen haben aber keinen klar bestimmbaren, systematischen Ort in der Begegnung mit Geschichte, der sich auf diese Darstellungs- und Aktivierungsebene begrenzen lässt. Alle beteiligten Personen bringen ihre Emotionen in die Begegnung mit Geschichte mit hinein. Damit verändert jede_r Einzelne die Atmosphäre im Klassenzimmer, in der Ausstellung, in der Gedenkstätte und beeinflusst den Prozess der Geschichtsaneignung. Dabei lässt sich der Umgang mit Emotionen unterscheiden einerseits in die bewusste Aktivierung von als positiv konnotierten Gefühlslagen wie Interesse, Neugierde oder Empathie. Andererseits werden als störend bewertete Emotionen wie Langeweile oder Ablehnung aus der Perspektive der Geschichtsmacher_innen gezielt blockiert, wohingegen Schüler_innen, die sich gezwungenermaßen mit Geschichte beschäftigen müssen, auch ablehnende Emotionen gezielt aktivieren können. Ob nun Aktivierung oder Blockierung, beides sind Formen des Emotionsmanagements.
Wilhelm Dilthey und die Gefühle als Erkenntnismethode
Die Erkenntnis, dass Emotionen bei der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und der Erzeugung von Geschichte eine Rolle spielen, ist bei Weitem nicht neu. Wilhelm Dilthey, einer der Gründungsväter der modernen Geisteswissenschaften, kennzeichnete das geisteswissenschaftliche Verstehen im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Erklären als ein „Nachfühlen fremder Seelenzustände“.32 Damit wies Dilthey den Gefühlen im Verstehensprozess eine erkenntnistheoretische Bedeutung zu. Daniel Morat bezeichnet diesen Zugang daher folgerichtig als eine „Gefühlsmethode“.33 Dilthey arbeitete mit der Vorstellung einer grundsätzlichen Gleichartigkeit zwischen der_dem Verstehenden und dem_der Verstandenen, die ein „Hineinversetzen“ in und „Nachbilden“ von fremden Gefühlen und damit ein Nacherleben fremder Erfahrungen überhaupt ermöglicht.
Faszination der Emotionen und Angst vor Emotionen im vergangenen Geschichtsunterricht
Trotz dieser dezidiert geisteswissenschaftlichen, hermeneutischen „Gefühlsmethode“ waren Emotionen über viele Jahrzehnte aus dem Geschichtsunterricht regelrecht verbannt. Die Erklärung dafür liegt in der Geschichte des Unterrichtsfaches selbst. Geschichtsunterricht im wilhelminischen Kaiserreich, so der Didaktiker Bodo von Borries, verfolgte mit seinen „herkömmlichen Zielsetzungen“ unverhohlen „affirmativ-legitimatorische, ja manipulativ-indoktrinierende“ Absichten. „Kognitive Lernprozesse (Verständnis)“ seien damals „zum bloßen Vehikel des Emotionalen (Begeisterung und Liebe)“ insbesondere im Hinblick auf die Nation geworden.34 Emotionen galten aufgrund dieses Erbes, das über die Zeit des Nationalsozialismus hinauswirkte, als besonders problematisch für den Geschichtsunterricht. Das kumulierte in den 1970er Jahren in einen besonderen Rationalitätsschub im geschichtsdidaktischen Diskurs. Die Furcht vor einer unkalkulierbaren Wirkung der Emotionen resultierte in einer Dominanz kognitiver Lernprinzipien und -ziele gegenüber einem auch Emotionen adressierenden Zugang35 und in der Forderung nach einer „Kultivierung der Affekte“.36
Emotionen im Geschichtsunterricht werden neu entdeckt
Zu Beginn der 1990er Jahre kam es in Form einer geschichtsdidaktischen Tagung über Emotionen im Unterricht zu einem ersten Versuch, Emotionen wieder in den Lernprozess zu integrieren.37 Die Motivation zur Organisation einer solchen Tagung entstand aus der Einsicht, dass Emotionen in der historisch-politischen Bildung jahrelang vernachlässigt worden waren. Obwohl die Tagung einen Wendepunkt markieren sollte, hatte sie zunächst nur begrenzte Auswirkungen auf geschichtsdidaktische Konzepte oder gar auf Lernpläne. Erst mit dem emotional turn in der Geschichtswissenschaft fanden auch die Emotionen wieder Eingang in die Debatten um historisches Lernen, vor allem auch an außerschulischen Lernorten.38
Der heutige geschichtsdidaktische Umgang mit Emotionen verweist auf gegensätzliche Perspektiven und Erwartungen an die Einbeziehung von Emotionen in den Lernprozess. Einerseits gibt es Formate, die auf ein Nachbilden, Nachfühlen vergangener Emotionen setzen (so wie im Mauer-Panorama) oder die emotionalen Reaktionen der Lernenden mit berücksichtigen (insbesondere wenn es darum geht, die Geschichte von gewaltsamen Geschehnissen bis hin zum Massenmord zu vermitteln). Andererseits bestehen auch Bedenken hinsichtlich dieser Praktiken, die gezielt auf das Fühlen der Lernenden ausgerichtet sind, gerade weil diese zu sehr an historische Beispiele intentionaler Emotionalisierung erinnern. Daher gilt es, vertieft danach zu fragen, wie sich in der Begegnung mit Geschichte die Emotionen auf der Subjektebene zu denen auf der Objektebene verhalten.
Vergangenheit wird von Vermittlungsinstanzen erkennbar gemacht
So grundlegend die Dilthey’sche Definition des Verstehens als „Gefühlsmethode“ ist, verweist sie doch auf enge Grenzen insbesondere für das spezifisch historische Verstehen und damit für die historische Bildung. Denn um der Vergangenheit habhaft zu werden, braucht es Vermittlungsinstanzen, die vergangene Lebenszusammenhänge sicht- und verstehbar machen. 2000 Jahre alte Fundamente erzählen nicht von sich aus ihre Geschichte. Dafür braucht es die Markierung der Fundamente als historisch bedeutsam durch Absperrungen und eventuell durch vorsichtige Rekonstruktion, man benötigt Erklärtexte oder -videos zum Alltagsleben in der antiken Stadt oder zu religiösen Ritualen, um die Fundamente in einen historischen Zusammenhang zu bringen. Die Wirkung dieser verschiedenen medialen Vermittlungsinstanzen liegt in ihrem Vermögen, Vorstellungsbilder entstehen zu lassen und sie mit einer besonderen Glaubwürdigkeit zu versehen, an der entlang die Betrachter_innen konsistente Vergangenheitsbilder entwickeln können. Aber selbst wenn 100 Besucher_innen dieselben Fundamente sehen und dieselben Informationen und Bilder vermittelt bekommen, liegt es an jeder_m Einzelnen, diese mit eigenem Wissen und vorhandenen Vorstellungsbildern zu verknüpfen und daraus eine Geschichte zu entwickeln (vgl. Kap. 9 Historische Imagination).
Diese Geschichtsaneignung als Fremd- oder Identitätserfahrung
Überlegungen verweisen zum einen auf das Individuelle einer jeden Rezeption und Rekonstruktion des Vergangenen, zum anderen auf gesellschaftliche Deutungsmuster, die festlegen, was aus der Vergangenheit wert ist, sichtbar gemacht zu werden, und welche Geschichte anhand dieses Sichtbar-Gemachten erzählt werden soll. Die Frage ist nur, unter welchen Vorzeichen die Sichtbarmachung der Vergangenheit stattfindet. Sollen die Besucher_innen erkennen, wie anders das alltägliche Leben in einer antiken Stadt war, oder sollen sie Parallelen zu ihrem eigenen Leben sehen? Ist die Begegnung mit der Vergangenheit dementsprechend eine Alteritäts- oder eine Identitätserfahrung? Das hängt entschieden von der Art und dem Einsatz der Vermittlungsinstanzen ab. Um beim Beispiel der Ausgrabungen zu bleiben, besteht einerseits die Möglichkeit, die Fundamente minimal zu restaurieren und sie mit entsprechenden Informationstexten zu versehen. Andererseits ermöglicht es moderne Technik, die Besucher_innen mit Ton, Videoinstallation oder gar unter Zuhilfenahme von Augmented-Reality-Technik auf eine Zeitreise mitzunehmen und die Geschichte ‚hautnah miterlebbar‘ zu machen.
Ein Nachfühlen historischer Emotionen ist nicht möglich
Doch wie bereits dargestellt, ergibt sich aus der Perspektive der Emotionsgeschichte ein erheblicher Einwand gegen die Begegnung mit Geschichte als Identitätserfahrung. Denn ein Nachfühlen historischer Emotionen ist nicht möglich, eben weil sich Emotionen im Laufe der Zeit ganz grundlegend ändern können. Eine Annährung im Sinn des analogen Fühlens ist denkbar, aber nicht die Zeitreise in das Herz und in den Kopf der Menschen in längst vergangenen Zeiten. Wir als Menschen der Jetztzeit teilen nicht den „Erfahrungsraum und den Erwartungshorizont“ jener Menschen, um hier prägnante historische Kategorien von Reinhart Koselleck aufzugreifen.39 Um auf das Beispiel des Heimwehs zurückzukommen: Aus unserem heutigen Verständnis von Heimweh fehlt uns zum Mitfühlen ein Verständnis davon, dass Heimweh im 17. und 18. Jahrhundert als Krankheit für den Tod zahlreicher Söldner verantwortlich gemacht wurde. Wie könnten wir die Entscheidung eines führenden Offiziers nachvollziehen, seine Soldaten bei den ersten Anzeichen von Heimweh unverzüglich nach Hause zu schicken?
Historisches Lernen als Alteritätserfahrung
Es gibt einen zweiten dezidiert geschichtsdidaktischen Einwand gegen das Nachfühlen historischer Emotionen. Historisches Lernen ist diesem Einwand zufolge die Erfahrung des zeitlich, kulturell und geografisch Anderen, des Fremden, es ist eine Alteritätserfahrung. Die Aufforderung, etwas nachzuerleben, nachzufühlen, was Menschen in der Vergangenheit gedacht und gefühlt haben, baut jedoch auf die Illusion des Gleichartigen, der Identitätserfahrung. Wenn die Besucher_innen im Asisi-Panorama den erhöhten Blick über die Mauer haben, begeben sie sich in die Perspektive der Westberliner_innen im Jahr 1980. Doch ihr Blick auf die grauen Wohnblöcke Ost-Berlins heute ist weit weniger von bangen Fragen begleitet als derjenige der Zeitgenoss_innen. Damals lag in dem Blick über die Mauer vielleicht die Sorge um geliebte Angehörige, die Hoffnung darauf, einen Blick auf sie erhaschen zu können, oder einfach nur die Erleichterung darüber, auf dieser Seite der Mauer zu stehen. Den Besucher_innen heute wird vorgespielt, dass sie das sehen könnten, was die Menschen damals von solchen Beobachtungsposten aus sahen; oberflächlich mag das vielleicht stimmen, aber die Bedeutungen, Gedanken und Gefühle, die dem Sehen unterlegt sind oder mit ihm einhergehen, unterscheiden sich zwischen damals und heute.
Wilhelm Dilthey legte trotz solcher Einschränkungen, die mit der „Gefühlsmethode“ des historischen Verstehens verbunden sind, dennoch eine wichtige Spur für die Verortung von Emotionen in Lehr-Lern-Prozessen, in dem es um geisteswissenschaftliche Themen geht, nämlich die der „seelischen Struktur“ von Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Erinnerung und Gedenken. Nimmt man ernst, dass geisteswissenschaftliche Fächer in unserer Lebenswelt vom hermeneutischen Verstehen abhängen, müssen Emotionen zwangsläufig eine zentrale Bedeutung in der Begegnung mit Geschichte und damit dem historischen Lernen zuerkannt werden.
Gefühle blockieren die Auseinandersetzung mit Geschichte
Das Fühlen ist jedoch nicht ein automatischer Erfolgsfaktor für eine intensive und nachhaltige Begegnung mit Geschichte. Es kann auch blockierend wirken. Das zeigen die Herausforderungen an heutigen Gedenk- und Erinnerungsstätten. Lernende kommen an diese Orte und versuchen, den im entsprechenden Kontext erwarteten Emotionen zu entsprechen, eine ‚Choreografie der Emotionen nachzutanzen‘, wie Gedenkstättenpädagog_innen beobachten.40 Auffallend ist das vor allem bei Themen aus der Diktatur- und Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Betroffenheit, Empathie, Mitgefühl oder Trauer gehören zu der emotionalen Melange, die das gesellschaftspolitische Gedenken und Erinnern an die Opfer einfordert. Den Lernenden kann aber genau das fremd sein; vielleicht würden sie sich diesen Themen lieber mit Neugierde, Wut oder vielleicht auch emotional distanziert nähern. Im Sinne des emotionalen Lernens ist es wichtig, auch diese Gefühle zuzulassen und didaktisch aufzufangen und nicht von vornherein gesellschaftlich normiertes Fühlen zu erwarten; denn gerade solche an sie gerichteten Erwartungen können bei die Lernenden emotional überfordern und zu Abwehrreaktionen führen.
3.3.3Emotionalisierungen
Emotionalisierung erfolgt, wenn Emotionen der Objekt- und der Subjektebene miteinander vermischt werden
Das oben hergeleitete Verständnis von Emotionen auf der Objekt- und auf der Subjektebene verdeutlicht die Unterschiede und Grenzen zwischen diesen beiden Ebenen. In der konkreten Praxis aber bleiben Emotionen nicht jeweils auf ihrer Subjekt- oder Objektebene und damit voneinander unterscheidbar, wie der Hinweis auf das gesellschaftlich normierte Fühlen bereits verdeutlicht hat. Auch die Erlebnisangebote zur Geschichte versprechen ihren Besucher_innen das Nachempfinden vergangener Gefühle.41 In diesen Fällen, in denen die Emotionen von Menschen früherer Zeiten durch einen gezielten Einsatz von Medien und die Wahl entsprechender Narrative und Verhaltensaufforderungen wiedererlebbar gemacht werden sollen, kann man von Emotionalisierung sprechen. Spezifisch für Emotionalisierung ist, dass die Emotionen auf der Objektebene mit denen auf der Subjektebene vermischt werden und keine klare Trennung mehr möglich ist.
Emotionalisierungsstrategien analysieren
Die Aufgabe einer kritischen Public History ist es, einerseits die Strategien der Emotionalisierung zu erkennen und ein Bewusstsein dafür herzustellen, dass dieses Abzielen auf besondere emotionale Reaktionen (im Sinne des Nachfühlens) problematisch ist. Andererseits sollte darüber nachgedacht werden, an welcher Stelle Emotionen zielführend und produktiv in der Begegnung mit Geschichte wirken können. Dafür braucht es ein Instrumentarium, mithilfe dessen die Praktiken und Strategien der Emotionalisierung möglichst umfassend beschrieben und in Hinblick auf ihre Wirkung analysiert werden können. Insbesondere gilt es dabei in den Blick zu nehmen, wie die konstatierte Vermischung von Emotionen auf der Objekt- und auf der Subjektebene zustande kommt. Als Kategorien der Analyse bieten sich dafür an: Visualisierung, Narrativierung, Authentifizierung, Dramatisierung und Personalisierung.42 An jede dieser einzelnen Kategorien lassen sich erstens Fragen in Bezug auf Emotionen auf der Objekt- und auf der Subjektebene stellen. Zweitens geht es dann darum herauszustellen, wie diese beiden Ebenen durch die jeweiligen Praktiken konkret miteinander verbunden werden.
Visualisierung
Hinsichtlich des Asisi-Panoramas liegt es zunächst auf der Hand, die Mittel der Visualisierung genauer zu untersuchen: Was genau stellt das Panorama dar, in welchen Perspektiven, mit welchen visuellen Mitteln wird die Bildaussage unterstützt? Welche Mal- und Darstellungstechniken benutzte der Künstler, was war seine Absicht dabei, genau diesen Blick auf die Mauer darzustellen, was die intendierte Botschaft? Sinnvoll ist auch immer die Frage danach, was nicht zu sehen ist, wie in dem Mauer-Panorama die Menschen, die in Ost-Berlin lebten. Worauf verweist diese Darstellungsperspektive?
Narrativierung durch Authentizität
Die Narrativierung findet für das Geschichtspanorama vor allem in der Bewerbung statt. Die Webseite preist das emotionale Erleben dieser „perfekten Illusion“ an. „Erleben Sie den Alltag im Schatten der Berliner Mauer in einem einzigartigen Panorama“, heißt es dort, und weiter: „Sie erleben auf beeindruckende und einmalige Weise, wie alltäglich und zugleich grausam das Leben im Schatten der Mauer war“.43 Zusätzlich gibt es dem eigentlichen Panorama vorgelagert einen Raum, der zum einen die Entstehung des Panoramas und die Geschichte von Yadegar Asisi erzählt und zum anderen zahlreiche zeithistorische Fotos der Berliner Mauer zeigt und kommentiert. Mit diesen Informationen und historischen Bildern im Kopf wird den Besucher_innen eine Deutung der Geschichte mit auf dem Weg gegeben, mit der sie das Mauer-Panorama ansehen. Nicht zu vernachlässigen ist das gesamte Erlebnisensemble am Checkpoint Charlie, die Darsteller in ihren US-Army-Uniformen vor dem Grenzhäuschen, die Schilder, die die ehemalige Sektorengrenze markieren. Die Narrativierung zielt insbesondere auf eine besonders starke emotionale Grundierung der Geschichtsbegegnung. Daraus macht der Künstler selbst keinen Hehl und dafür nutzt er die „perfekte Illusion“, die das Medium Panorama ermöglicht. Das „grausame Leben im Schatten der Mauer“ soll nachfühlbar sein, die Besucher_innen sollen mit dem Gefühl nach Hause gehen, wirklich im Jahr 1980 an der Mauer gestanden zu haben.44 Das lässt ihnen kaum mehr die Möglichkeit eigener Sinnbildung oder subjektiven Fühlens, das vielleicht weniger von der intendierten Botschaft vom „grausamen Leben“ beeinflusst ist, sondern vielmehr von der Einsicht, dass auch das alternative Leben in den besetzten Häusern im Schatten der Mauer nicht sonderlich bunt oder aufregend war.
Die begleitende Ausstellung mit der Lebensgeschichte des Künstlers, der selbst zu der Zeit in Kreuzberg wohnte und in dem Panorama seine eigenen visuellen Erinnerungen verarbeitet hat, authentifiziert das Panorama. Die gezeigten Fotos belegen das gezeigte Narrativ. Eine weitere Authentifizierung erfolgt mit einer konkreten Ortsbenennung. Die Besucher_innen blicken von der Sebastianstraße in Berlin-Kreuzberg auf die Mauer. Der Künstler zeigt das alternative Leben der Punks in dem bekannten Szene-Club SO 36, der bis heute existiert.
Dramatisierung durch Licht und Ton
Für die entsprechende Dramatisierung setzte der Künstler auf eine „diffuse[ ] Lichtstimmung“,45 die den Eindruck eines grauen Novembertags unterstützen soll. Die Besucher_innen sind in dem abgedunkelten Raum dem bunten Treiben und dem Straßenlärm am Checkpoint Charlie völlig entrückt. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf das gelenkt, was sichtbar gemacht ist, das Panorama. Auch akustisch setzt der Künstler auf eine Dramatisierung durch eine von ihm selbst und Eric Babak komponierte und arrangierte, klassisch anmutende Begleitmusik. Durch den langsamen, getragenen Rhythmus sowie den Einsatz überwiegend tiefer Streichinstrumente erinnert die Musik an ein Requiem. Überlagert wird sie von der grellen und im Gegensatz zur Musik lautstarken Wiedergabe von originalen Tondokumenten aus der Zeit des geteilten Berlins. Zu hören sind beispielsweise Auszüge aus Reden von Walter Ulbricht und Erich Honecker. Interessanterweise stammen diese Tondokumente eben nicht aus dem Jahr 1980. An dieser Stelle wird die Illusion nicht konsequent umgesetzt. Dennoch gehören die geradezu ikonischen Soundquellen in das Gesamtensemble der Inszenierung, denn sie knüpfen an bei den Besucher_innen mutmaßlich vorhandene geschichtskulturelle Erwartungen an und stehen somit überzeugend für ein pastness-Gefühl (vgl. Kap. 11 Rezeption).
Personalisierung
Die Strategie der Personalisierung findet sich in der sehr detailgetreuen Darstellung der Menschen, die auf einem Holzpodest stehen (ähnlich jenem, auf dem die Panorama-Besucher_innen selbst stehen), um einen Blick über die Mauer zu werfen. Zu sehen sind Kleinkinder mit ihren Eltern, weißhaarige Rentner_innen und Jugendliche. Somit ist das Angebot zur Identifikation mit den neugierigen Menschen des Jahres 1980 breit.
Zusammenfassend ist herauszustellen, dass Emotionen im Hinblick auf die skizzierten Erlebnisversprechen der Public History in zweifacher Hinsicht eine Schlüsselfunktion haben: Einerseits bieten entsprechende Geschichtsdarstellungen über die Thematisierung der Gefühle früherer Menschen einen anscheinend niedrigschwelligen Zugang zur Geschichte an. Hier können Emotionen Objekte der Darstellung und Vermittlung von Geschichte sein. Andererseits geht es um die positive emotionale Mobilisierung der Rezipient_innen. Dabei finden Emotionalisierungsstrategien Anwendung, die häufig die Unterschiede zwischen Emotionen auf der Objekt- und jenen auf der Subjektebene verwischen. So zielen die Darstellungsstrategien im Asisi-Panorama auf eine Illusion, die es den Besucher_innen erlauben soll, komplett in den Novembertag 1980 an der Berliner Mauer einzutauchen, um Geschichte mit allen Sinnen zu fühlen und damit vermeintlich auch zu erleben (vgl. Infobox Immersion in Kap. 5.3). Die Frage ist, welche Chance die Besucher_innen haben, aus dieser Illusion in ihre Gegenwart zurückzukommen, sich selbst zu diesem Erleben von Geschichte in Beziehung zu setzen, selbst zu fühlen, was sie daraus für sich mitnehmen, was diese Begegnung mit Geschichte für sie bedeutet.
Emotionale Überwältigung und der Beutelsbacher Konsens
Diese Ambivalenz der Emotionen ist mittlerweile Thema zahlreicher Tagungen oder Vernetzungstreffen, auf denen Akteur_innen der Public History offensiv die Bedeutung von Emotionen in der Begegnung vor allem mit der deutschen Diktaturgeschichte diskutieren.46 Insbesondere die Frage nach emotionaler Überwältigung und ihrer Zulässigkeit steht dabei zur Diskussion. Denn während einerseits das Bedürfnis in Museen, Gedenkstätten und sonstigen Orten der Geschichtsvermittlung groß ist, Interesse und Aufmerksamkeit zu wecken, wird andererseits immer wieder auf die Gefahr einer zu starken Emotionalisierung hingewiesen. Im Rahmen dieser Diskussion rückt der mittlerweile über 40-jährige Beutelsbacher Konsens in den Mittelpunkt des Interesses. Die Grundsätze dieses Konsenses wurden 1976 ursprünglich für die politische Bildung formuliert. Auch wenn er als Minimalkonsens galt, sollte mit den Prinzipien Kontroversität, Schüler_innenorientierung und Überwältigungsverbot eine politische Indoktrination der Lernenden wirkungsvoll verhindert werden. Interessanterweise erhielt dabei das Überwältigungsverbot im Kontext der Diskussion um Gedenkstättenarbeit eine zusätzliche Bedeutungsebene. Ursprünglich zielte es auf die Verwerfung solcher Formen oder Methoden der Vermittlung, die dazu geeignet schienen, „den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils‘ zu hindern“.47 Mittlerweile geht es hingegen nicht mehr vorrangig um ein argumentatives Überwältigen, sondern vor allem um eine emotionale Überwältigung.48
Grenzen zwischen Emotionalisierung und emotionaler Überwältigung
Aus der obigen Theoretisierung von Emotionen auf der Objekt- und auf der Subjektebene ergeben sich klare Grenzen zwischen Emotionalisierung und emotionaler Überwältigung. Emotionalisierung ist die Mobilisierung der subjektiven Emotion der Rezipient_innen; die Emotionen verbleiben jeweils auf der Objekt- bzw. auf der Subjektebene, ohne sich zu vermischen. Das heißt, im Asisi-Panorama ist zwar die Normalität des Schreckens der Mauer dargestellt, die Besucher_innen von heute dürfen diesem „Grauen“ im Schatten der Mauer mit ihrer eigenen Neugierde oder Skepsis, vielleicht sogar Ablehnung oder auch Wut darüber begegnen, dass so etwas möglich war. Eine emotionale Überwältigung aber findet dann statt, wenn historische Emotionen heute nachgefühlt werden sollten, d. h. die Objektebene verlassen und auf die Beeinflussung individuellen Fühlens abzielen.
3.4Ein Plädoyer für Emotionen in der Public History
Emotionalisierungsstrategien transparent gestalten
Auf der Grundlage vorliegender Überlegungen ergeben sich zwei entscheidende Einwände gegen die emotionale Überwältigung: Erstens können historische Emotionen schon deshalb nicht nachgefühlt werden, weil sie sich im Laufe der Zeit verändern. Die Menschen der Jetztzeit wissen, dass die Mauer seit 30 Jahren nicht mehr existiert, dass die bewaffneten Grenzsoldaten niemandem mehr gefährlich werden können. Heutige Besucher_innen können, wann immer sie wollen, das Panorama verlassen und sich ganz dem Großstadttrubel am Checkpoint Charlie hingeben. Der zweite Einwand resultiert aus geschichtsdidaktischen Überlegungen. Die Begegnung mit der Vergangenheit kann dann identitätsbildend und handlungsorientiert sein, wenn sie das individuelle Erinnern und eigene Erfahrungen mit der und über die Zeit aufgreift und nicht schlichtweg nachzubilden versucht. Dies verweist noch einmal zurück auf die grundsätzliche Einsicht, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte vielmehr eine Alteritäts- denn eine Identitätserfahrung ist. Vergangenheiten waren eben grundsätzlich anders als unsere Gegenwart, auch wenn sie im Geschichtserlebnis als vertraut und ähnlich präsentiert werden. Das bedeutet, dass die über Emotionen vermittelte Begegnung mit Geschichte durchaus sinnvolle Anreize schaffen kann, aber nur dann, wenn die Emotionen ganz klar auf der Objektebene bleiben und es den Menschen der heutigen Zeit möglich bleibt, (auf der Subjektebene) ihre eigenen, durchaus sehr unterschiedlichen Emotionen zu haben und zu thematisieren. Das bedeutet für öffentliche Präsentationen von Geschichte, dass die Strategien der Emotionalisierung transparent sein und dass mehrere verschiedene Narrative angeboten werden sollten. Diese ermöglichen es, visuelle und akustische Dramatisierungseffekte am Ende des Geschichtserlebnisses aufzulösen, und entlassen die Besucher_innen in die je eigene Gegenwart mit (emotionalen) Impulsen zum Weiterdenken.
Einführende Literatur
Brauer, Juliane: ‚Heiße Geschichte‘? Emotionen und historisches Lernen in Museen und Gedenkstätten, in: Sarah Willner u. a. (Hg.): Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur, Münster 2016, S. 29–44.
Brauer, Juliane/Lücke, Martin: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen, in: dies. (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 11–26.
Frevert, Ute: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft 35/2 (2009), S. 183–209.
Plamper, Jan: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012.
1 Hans-Werner Marquardt: Geschichte fühlen statt lesen, in: BZ, 10.8.2012, https://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/geschichte-fuehlen-statt-lesen, letzter Zugriff: 15.1.2021.
2 Damit knüpft es an das Panorama des 19. Jahrhunderts als eine populäre Darstellungsform von Geschichte an. Siehe Bernhard Comment: Das Panorama. Die Geschichte einer vergessenen Kunstform, Berlin 2000.
3 Ernst Elitz: Touristenhölle mitten in Berlin, in: Cicero, 9.8.2018, https://www.cicero.de/kultur/Checkpoint-Charlie-Berlin-Tourismus-BlackBox-Kalter-Krieg, letzter Zugriff: 15.1.2021.
4 Aristoteles zit. n. Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 23.
5 Ebd., S. 22.
6 Ebd., S. 16 f.
7 Plamper: Geschichte und Gefühl; Rob Boddice: History of Emotion, Manchester 2018.
8 Gemäß dem Vorschlag von Plamper: Geschichte und Gefühl, S. 22.
9 Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Hamburg 2019.
10 Bettina Hitzer: Krebs fühlen. Eine Emotionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2020.
11 Imke Rajamani: Angry Young Men. Masculinity, Citizenship and Virtuous Emotions in Popular Indian Cinema, Berlin 2016.
12 Ute Frevert: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt a.M. 2017.
13 Martina Kessel: Gewalt und Gelächter. ‚Deutschsein‘ 1914–1945, Stuttgart 2019.
14 Lucien Febvre: Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen, in: ders.: Das Gewissen des Historikers, Frankfurt a.M. 1990, S. 91–108, hier S. 93.
15 H. K.: Die Stimmung in Freiburg, in: Freiburger Zeitung, 1.8.1914, S. 3.
16 Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2015.
17 Jeffrey Verhey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.
18 Aus dem Kriegstagebuch unseres Jungen, Berlin 1919, S. 8, online abrufbar unter https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN73859301X&PHYSID=PHYS_0003, letzter Zugriff 15.1.2021.
19 Siehe auch Daniel Morat: Der Sound der Heimatfront. Klanghandeln im Berlin des Ersten Weltkriegs, in: Historische Anthropologie 22/3 (2014), S. 350–363.
20 Ute Frevert: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft 35/2 (2009), S. 183–209, hier S. 202.
21 Arlie Russell Hochschild: Emotion work, feeling rules, and social structure, in: The American journal of sociology 85/3 (1979), S. 551–575, hier S. 573.
22 Sara Ahmed: Collective feelings: Or, the impression left by Others, in: Theory, Culture & society 21/2 (2004), S. 25–42, hier S. 30.
23 Monique Scheer: Emotionspraktiken. Wie man über das Tun an die Gefühle herankommt, in: Matthias Beitl/Ingo Schneider (Hg.): Emotional Turn?! Europäisch ethnologische Zugänge zu Gefühlen & Gefühlswelten, Wien 2016, S. 15–36, hier S. 16.
24 Nancy Scheper-Hughes/Margret M. Lock: The Mindful Body: A Prolegomenon to Future Work in Medical Anthropology, in: Medical Anthropology Quarterly, New Series 1/1 (1987), S. 6–41, hier S. 6.
25 Simon Bunke: Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg 2009, S. 25 f.
26 Ebd., S. 35.
27 Ebd., S. 83.
28 Juliane Brauer: Heidi’s Homesickness, in: Ute Frevert u. a. (Hg.): Learning How to Feel: Children’s Literature and Emotional Socialization, 1870–1970, Oxford 2014, S. 209–227.
29 S. P. Widmann: Heimweh, in: Otto Willmann/Ernst M. Roloff (Hg.): Lexikon der Pädagogik, Bd. 2, Freiburg 1913, S. 703–705, hier S. 703.
30 Martin Sabrow: Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012, S. 13.
31 Aktuelle empirische Studie über Emotionen an Gedenkorten: Matthias Wider: „Man muss es gesehen haben, um es zu verstehen“. Zur Wirkung von historischen Orten auf Schülerinnen und Schüler, Hamburg 2018.
32 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, in: ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften, Bd. 5), Göttingen 1961 (1900), S. 317–338, hier S. 317.
33 Daniel Morat: Verstehen als Gefühlsmethode. Zu Wilhelm Diltheys hermeneutischer Grundlegung der Geisteswissenschaften, in: Uffa Jensen/Daniel Morat (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008, S. 101–117, hier S. 103.
34 Bodo von Borries: Von gesinnungsbildenden Erlebnissen zur Kultivierung der Affekte? Über Ziele und Wirkungen von Geschichtslernen in Deutschland, in: Bernd Mütter u. a. (Hg.): Emotionen und historisches Lernen. Forschung, Vermittlung, Rezeption, Frankfurt a.M. 1994, S. 67–92, hier S. 67.
35 Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 2005, S. 165: „Emotionales Lernen besteht zwar auch im Ausleben und Innewerden von Gefühlen, vor allem aber in deren kognitiver Verarbeitung“.
36 Borries: Von gesinnungsbildenden Erlebnissen, S. 67.
37 Bernd Mütter u. a. (Hg.): Emotionen und historisches Lernen. Forschung, Vermittlung, Rezeption, Frankfurt a.M. 1994.
38 Juliane Brauer/Martin Lücke (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013.
39 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 349.
40 Matthias Heyl: Mit Überwältigendem überwältigen. Emotionen in KZ-Gedenkstätten, in: Juliane Brauer/Martin Lücke (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 239–260, hier S. 247.
41 Juliane Brauer: ‚Heiße Geschichte‘? Emotionen und historisches Lernen in Museen und Gedenkstätten, in: Sarah Willner u. a. (Hg.): Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur, Münster 2016, S. 29–44, hier S. 29.
42 Georg Koch: Funde und Fiktionen. Urgeschichte im deutschen und britischen Fernsehen seit den 1950er Jahren, Göttingen 2019, S. 155 f.
43 Aus der Vorstellung des Panoramas auf der Webseite Die Mauer. Yadegar Asisi Panorama, www.die-mauer.de, letzter Zugriff: 15.1.2021.
44 Sehenswert! // Die Mauer – Asisi Panorama Berlin, in: YouTube-Kanal von TV.Berlin, 4.3.2016 (mit einem gut 10-minütigen Interview mit dem Künstler), https://www.youtube.com/watch?v=yndYqG4ao6w, letzter Zugriff 15.1.2021.
45 So die eigene Beschreibung auf der Webseite, https://www.asisi.de/panorama/diemauer, letzter Zugriff: 15.1.2021.
46 Siehe die Sonderausgabe des vom Online-Portal Lernen aus der Geschichte herausgegebenen LaG-Magazins 11 (2012): Emotionalität und Kontroversität.
47 Hans-Georg Wehling: Konsens à la Beutelsbach?, in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 179–180, hier S. 179.
48 Elena Demke: Emotionale Harmonisierung oder intellektuelle Provokation? Zur Darstellung von Emotionalität in Besuchervideos von Gedenkstättenbesuchen, in: LaG-Magazin 11 (2012): Sonderheft: Emotionalität und Kontroversität, S. 11–14, hier S. 13; Heyl: Mit Überwältigendem überwältigen.