Читать книгу Unbekannt Verzogen - Thorsten Nesch - Страница 3
1 – Rote Karte, und die Saison hat noch nicht mal angefangen
Оглавление„Das ist ein Akkord, das ist noch einer, hier ein dritter, jetzt gründe eine Band“
- Sideburns (Punkfanzine)
„Wir mögen ihren Sound nicht, und die Gitarrenmusik ist auch nicht das Wahre“
- Decca Records, Ablehnungsschreiben an die Beatles 1962
„Ich meine, hey, Hauptsache, es rockt“
- Saheed Schuster (Sänger, Gossen Posse)
„Ey, Anecken“, schreit Jamaika hinter mir her.
Ich werfe einen Blick über meine Schulter und sehe, wie sie und W-Lan sich auf ihren Rädern abstrampeln, um mich einzuholen.
Ein Auto hupt. Meint wohl mich, weil ich auf der schmalen Straße zu weit in der Mitte fahre. Ich zeige dem Honk im roten Golf den Finger.
„Warte, Anneke... Anneke!“, ruft W-Lan meinen richtigen Namen.
Das machen meine Freundinnen eigentlich nur, wenn es ernst ist. Klar, bin ich noch sauer, so richtig sauer. Aber wenn ich drüber nachdenke, könnte ich heulen. Und deshalb trete ich noch stärker in die Pedalen. Damit der Fahrtwind die aufsteigende Hitze in meinen Augen kühlt.
Blöde Wettbergen-Punze. Wer schon Merle heißt! Ich bereue überhaupt nicht, dass ich ihr eins aufs Auge gegeben habe, aber dass ich mich schon wieder habe so provozieren lassen, das nervt mich. Die letzten drei Sekunden, bevor ich explodiere, was da immer in mir abgeht ...
Irgendwie hat Markus, der Trainer, ja Recht. Was okay ist gegen eine gegnerische Kreisläuferin, das ist nicht okay gegen die eigene Torhüterin! Kein Teamgeist, meint er, ich wäre zu aggressiv. Sogar für Handball.
Ihr Auge wird zuschwellen, da bin ich mir sicher. Dann sieht sie nur die Hälfte. Müssen die linken Außen im nächsten Spiel eben besser verteidigen.
Die habe ich ganz schön blöde stehen lassen. Sollen die doch sehen, wie die ohne mich klarkommen. Ohne mich umzudrehen, bin ich gegangen. Ich bin rasch aus der Halle marschiert, aber nicht gelaufen, mit Stil. Die werden mir alle hinterher geglotzt haben, auch der Trainer. Obwohl der nichts dafür kann. Der musste mich in die Wüste schicken. Immerhin eine Wüste, wo ich die Besserwettbergers nicht mehr sehen muss.
Ach, ich hätte mich doch noch einmal umschauen sollen. Dumme Hackfressen ernten. Geschnattert haben sie hinter mir, aber das wurde immer leiser. Dann bin ich durch den Gang in die Umkleide, hab mir meine Tasche geschnappt, und erst danach bin ich zum Fahrrad gelaufen. Bin losgedüst, mit einem höheren Gang als nötig, damit ich mich anstrenge, Energie verbrauche, negative. Dazu der Wind im Gesicht.
Ich frage mich, was ich in so einem Moment mache, wenn ich älter bin und ein Auto habe? Vollgas, Seitenfenster runter und Kopf raushalten?
Ah, vielleicht wird es auch ein Motorrad, und dann den Helm weglassen.
An der Hamelner Chaussee muss ich anhalten. Feierabendverkehr stadtauswärts, raus aus Hannover. Ohne die Fußgängerampel zu drücken, habe ich keine Chance, lebendig rüber zu kommen. Ich inhaliere mit offenem Mund die Autoabgase. Mein Puls pocht im Hals, als wäre er zu eng für mein Blut.
Jamaika und W-Lan holen mich ein. Mit gesenkten Köpfen geben ihre Lungen ein Pfeifkonzert.
Wir stehen an der Ampel und schweigen. Kommt nicht oft vor bei uns, dass wir schweigen, aber die beiden wissen genau, wann sie bei mir die Klappe halten müssen. Die kennen das. Lassen mich erstmal runterkochen.
Sie schnappen nach Luft. Die sind auch ziemlich überstürzt los. Gleich nach mir. Meine Freundinnen.
W-Lan hat noch nicht mal ihre heiß geliebten Chucks zugebunden, heute lila links und rechts schwarz. Die Schnürsenkel baumeln bis auf die versiffte Gehsteigplatte. Jamaika hat ihr Possen-Shirt falsch rum an. Sie schaut als Erstes hoch. Also stecke ich es ihr.
„Glaubst du, Waschzettel am Kinn wird der nächste Fashionhit?“
Sie schielt an ihrer Nase runter, und blitzschnell verschwinden ihre Arme in den kurzen Ärmeln, und sie dreht ihr Shirt herum.
„Sagt die Richtige“, keucht sie.
„Wieso?“
„Guck dich mal an!“
Fuck, ich habe mich nicht mal umgezogen. Ich trage noch das Trikot, rot-weiß, super, in der Hose habe ich einen Arsch wie eine Abrissbombe.
„Warum habt ihr nichts gesagt?“
„Wollten wir ja!“
„Du bist einfach weitergefahren, immer weitergefahren“, auch W-Lan kann wieder halbwegs normal atmen.
„Ihr lasst mich rumfahren, in den Klamotten, bei solchen Freundinnen brauche ich keinen, der mich mobbt.“
„Wie ich eingangs erwähnte ...“, W-Lan äffte gerne Lehrersprüche nach, “wir haben gerufen, wie die Irren.“
„Ja, aber was!“
„Deinen Namen! Was sonst?“
„Trikot, Trikot! Das hättet ihr rufen sollen, dann wäre mir das aufgefallen!“
„Ich fahr doch nicht hinter jemandem her, der ein Trikot trägt, und rufe Trikot-Trikot! Dann könnte ich auch Fahrrad-Fahrrad rufen. Da glaubt doch jeder, ich hätte einen völligen Dachschaden!“, sagt Jamaika und tippt sich dabei an die Stirn.
„Stimmt ja auch.“
Klatsch, hab ich Jamaikas Faust auf dem Arm. Ich versuche, ihr eine zurückzugeben, aber damit hat sie natürlich gerechnet, und wir lachen, weil ich den Knutschfleck verdient habe. So nennen wir die blauen Flecken auf unserem Oberarmen, die wir uns so geben, aus allen möglichen Gründen. Manchmal auch ohne Grund.
Grün.
Wir radeln los, nebeneinander, und saugen die notgeilen Feierabendblicke der Männer aus den Autos auf, und auf halbem Weg nimmt ein verschwitzter Anzug in einem Mercedes mit Kindersitz sogar seine Sonnenbrille ab, und ich stelle mich auf meine Pedalen und schwenke meine Abrissbombe.
Hupen.
Lachen und drei Stinkefinger.