Читать книгу Unbekannt Verzogen - Thorsten Nesch - Страница 5
3 – Sollen wir jetzt sieben Tage chillen die Woche, oder wie?
ОглавлениеNicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen das Chillen hätte, nein-nein, und wahrscheinlich könnte ich das auch einige Wochen durchhalten, aber 365 Tage im Jahr? Bis zur zehnten Klasse? Ich weiß nicht. Da steigt in mir irgendwie das Bild von dem Mammut auf, dass man im Eis gefunden hat. Das hat auch gechillt. Lange gechillt.
„Lasst uns mal überlegen, was wir jetzt dienstags und donnerstags immer machen“, sage ich.
„Chillen“, kommt es in Stereo zu mir.
„Außer chillen.“
„Was ist falsch mit chillen?“, fragt Jamaika.
„Irgendwann hast du alle Knoten aus deinen Haaren herausgedreht.“
„Na und?“
„Sollen wir uns dann gegenseitig lausen?“
W-Lan tut so, als picke sie Läuse aus meinen Haaren und steckt sie sich in den Mund wie Erdnüsse. Ich spiele mit, kratze mich unter dem Arm, gucke so bescheuert wie möglich und tue, als popele ich in meiner Nase. Leider guckt keiner. Jamaika klatscht in die Hände vor Lachen.
„Ich meine ja nur, das kann irgendwann öde werden“, sage ich.
„Dann ist es früh genug, sich um das Problem zu kümmern“, sagt Jamaika, legt den Kopf schief und kämmt sich mit gespreizten Fingern.
Jetzt wurmt mich die Sache mit dem Handball ein bisschen. Ich hätte Merle genauso gut nach dem Training eins verbraten können. Aber das hätte ich dann auch nicht mehr gemacht, weil ich bis dahin runtergekocht wäre.
„Und die Saison hatte noch nicht mal angefangen“, ich stampfe mit meinen weißen Nikes auf. Erst zwei Wochen alt, strahlend weiß draußen in der Sonne, gleißend hell. Auf die hatte ich ein halbes Jahr gespart. Ich stehe auf und schlendere zu meinem Fahrrad.
Hinter mir höre ich Jamaika, „Tschö, bis morgen, war super mit dir hier ...“
„Ich fahre doch nicht einfach so“, sage ich, „ich hole mir meine Sonnenbrille.“
„Bring meine mit, in der Außentasche.“
„Meine auch“, sagt W-Lan.
Auch meine Brille ist in der Außentasche. Auf halben Weg werfe ich erst Jamaika und dann W-Lan die Brille zu. Beide fangen sie unter Protest.
„Ihr habt so schlapp ausgesehen“, sage ich.
Wir setzen uns die Sonnenbrillen auf, und meine Welt tönt sich grün. Die habe ich im Juni draußen vor dem LIDL gefunden. Mal etwas anderes: Grün.
W-Lan wischt mit dem Zeigefinger übers Display, die Thumbnails purzeln nach oben, und sie öffnet einen Browser, „Mal sehen, was so geht diese Woche ... Im Jugendzentrum gibt’s ne Aktion ...“
„Gemeinsam kochen?“, fragt Jamaika.
„Gemeinsam runterkochen“, sage ich.
„Geocaching für Mädchen.“
„Was'n das?“, frage ich.
„Also, bei uns Menschen gibt es Jungen und Mädchen, und Mädchen unterscheiden sich ...“
„Reiz mich nicht, ich habe mich gerade beruhigt!“
„Geocaching. Weißt du nicht? Schatzsuche mit GPS.“
„Was für Schätze? Mit dunkelblauen Augen und Sixpacks?“
„Ja, genau, Anecken.“
Jamaika vermutet eine wahrscheinlichere Variante, „Wohl eher eine Tüte Kekse.“
„Selbst gebacken.“
Das kann ich mir gut vorstellen in der Weißen Rose, wie unser Jugendzentrum heißt, und ich sage, „Och nee. Die Tote Hose ist öde.“
„Außerdem hängen da die ganzen Penner aus der Schule rum.“
„Und Sozialarbeiter.“
„Iiiiieeeh!“, machen wir alle drei gleichzeitig und kreuzen die Finger wie zur Vampirabwehr. Gelächter.
„Ey, geil!“, ruft W-Lan.
„Was denn?“
„Guckt mal, guckt mal, guckt mal! Hier, auf der PRINZ-Seite: da findet n Musikwettbewerb statt: Nachwuchsbands können einen Song einreichen. Danach gibt’s nen Konzertbattle, und wer den gewinnt, wird VORBAND BEIM GOSSEN POSSE-OPEN AIR AUF DER PARKBÜHNE!“
„Wie geil ist das denn?“, stöhne ich.
„Ey, da kann man die Gossen Posse treffen, hinter der Bühne“, ergänzt Jamaika.
„Und anschließend ist Party.“
„Mit anfassen!“, kiekse ich absichtlich.
„Das ist ...“
„Ich sag nur ...“
„GOSSEN POSSE!“, rufen wir aus.
Vor einem Jahr hatte W-Lan ein Video von ihnen auf YouTube entdeckt, seitdem waren wir geradezu infiziert von ihrer Musik. Ihr Live-Mitschnitt war der Hammer. Er ist das Letzte, was ich vor dem Einschlafen höre, und das Erste morgens beim Zähneputzen. Und ich glaube, den beiden geht es genauso.
„Darauf eine Ziggy“, sagt Jamaika.
Ich nicke. Und sie zaubert eine krumme Filter aus ihrer Hosentasche und eine Packung Streichhölzer. Mit einer geschmeidigen Bewegung reißt sie ein Streichholz an und zieht an der Zigarette, bevor sie das brennende Streichholz wegflitscht, wie ein abstürzendes Flugzeug. Es verglüht am Boden.
„Lasst uns da mitmachen!“, schlägt sie vor.
„Als was?“, fragt W-Lan.
„Als Groupies“, sage ich.
Wir lachen.
„Kommt!“, feuert uns Jamaika an.
„Wie denn? Wir sind doch keine Band“, sage ich.
„Na und? Dann werden wir eben eine!“
„Ist das wirklich Nikotin, was du da rauchst?“, fragt W-Lan.
„Ja!“, Jamaika ist Feuer und Flamme. Ich habe sie selten so gesehen. Sonst ist sie eher die Coole, „Los, was sagt ihr?“
„Meinst du, nur weil du ein bisschen Krach auf der Gitarre von deinem Stief machen kannst, reicht das?“
Einmal hatte sie ein wenig auf dem Ding herumgeschrammelt, als ich bei ihr war, nichts, was wirklich mit Musik zu tun gehabt hätte.
„Hey, besser als nichts, und wenn ich ihn frage, bringt er mir bestimmt noch mehr bei. Der will mich seit Tag Eins auf seine Seite ziehen, egal wie, Hauptsache punkten bei Mutti, wie gut er mit mir klarkommt. Der bringt mir die Nationalhymne rückwärts bei, wenn ich ihn frage.“
„Und du hast letztes Jahr in Musik ganz leuchtende Augen gehabt, Anecken, als du den Bass ausprobiert hast“, fällt W-Lan ein.
„Nee, da bin ich nur rot geworden, weil Popp-Ei mich auf einmal gelobt hat.“
Popp-Ei war unser Musiklehrer. Eigentlich hieß er nur Popp. Warum haben Lehrer oft so blöde Namen? Und bei seinen Unterarmen lag es nahe, dass wir ihn ... Ach, egal. Dass ich danach ein paar Stunden Bass-Unterricht bei Popp-Ei genommen habe, habe ich den beiden nie erzählt. Die Sprüche wollte ich mir sparen. Ja, ein bisschen war ich verknallt. Aber das binde ich doch keinem auf die Nase.
„Okay“, sage ich schließlich, „wir können ein bisschen Gitarre und ein bisschen Bass. Na und? Wir haben nicht mal eigene Instrumente. Und W-Lan? Was spielt die?“
„Ey, diez mich nicht!“, protestiert W-Lan.
„Und was spielst DU, W-Lan?“
„Schlagzeug, was sonst? Das geht einfach. Nur zwei Stöcke in die Hände und loskloppen. Wie im richtigen Leben.“
„Leute, das kann doch nur schiefgehen“, seufze ich.
Jamaika zieht einen Flunsch, als hätte sie ein ganzes Netz Zitronen ausgelutscht. Das macht sie immer, wenn sie nachdenkt. Sie runzelt dann ihr ganzes Gesicht, als hätte sie keine Knochen im Schädel, kräuselt die Nase und verzieht die Augenbrauen, dass ihre Stirn sich wellt wie die Fensterfolie an dem Golf von Henrik aus der Oberstufe.
Dann steht sie auf und geht in Luftgitarrenpose. Sie imitiert einen Gitarrenriff, in dem sie die Backen aufbläst und Luft und Zigarettenqualm durch die Schneidezähne pustet.
„Die Gitarre von meinem Stief“, sagt Jamaika, „die können wir bestimmt schon mal nehmen.“
„Die ist nicht elektrisch, die ist aus Holz! Willst du rumjammern oder Musik machen?“
„Gossen Posse, die rocken.“
„Yeh!“
„Jedenfalls“, sagt Jamaika, während sie einen perfekten Kringel bläst, „ich hätte da voll Bock drauf! Ne Mädchenband gibt es hier weit und breit noch nicht. Ich sag nur: FAME!“
W-Lan haut in die gleiche Kerbe, „Genau, nicht wie Handball, nur herumlaufen. Das geht da richtig ab, Studio, Bühne, und die Klamotten!“
Sie und ihre Klamotten. W-Lan ist immer perfekt gestylt, nicht nur mit ihrer Manga-Frisur, deren langer Scheitel die Hälfte ihrer Sonnenbrille verdeckt. Sie hat ihren eigenen Stil. Ich weiß nicht, wie viel Paar Chucks sie hat, aber auf jeden Fall so viele, dass sie jeden Tag in der Woche eine andere Farbenkombination trägt. Links pink, rechts rosé ist ihre Lieblingskombi. Oder grün mit charcoal, oder gold mit rot. Ihre Eltern verbieten natürlich unterschiedliche Schuhe, deshalb tauscht sie immer auf dem Weg zur Schule die Farben. Ich kenne sonst niemanden, der ein zweites Paar Schuhe im Rucksack mit sich rum trägt. Aber wenn es aus Eimern schüttet und ihre Schuhe durchgeweicht sind, holt sie in der Schule ihre Reserve aus dem Rucksack.
Jamaika fantasiert weiter, „Fame, wir werden berühmt, reich, reisen!“
Ich korrigiere ihr Bild, „Wir werden gedisst, gemobbt und angespuckt.“
„Quatsch, sei nicht so.“
„Ich weiß nicht“, sage ich und bekomme von Jamaika die Kippe gereicht, „warum gehen wir nicht einfach so zum Gossen Possen-Konzert? Dann können wir sie wenigstens von vorne sehen.“
„Aus 50 Metern Entfernung“, meint Jamaika.
„Und woher nehmen wir die Kohle?“, fragt W-Lan, meine Eltern geben mir für ein Konzert bestimmt kein Geld.“
„Parkbühne ist tierisch teuer“, ergänzt Jamaika.
„Die lachen uns doch aus, und das wär total peinlich. Stell dir vor, wir kommen in die Schule und jeder weiß, dass Gossen Posse uns ausgelacht haben“, sage ich.
Und W-Lan sagt, „Das meine ich mit Luxusproblem. Dann haben wir Gossen Posse kennengelernt!“
Jamaika nickt.
Stimmt, müsste ich zugeben, tue ich aber nicht, „Na, ich weiß nicht. Wir schaffen es noch nicht einmal bis zum Battle.“
„Nicht, wenn wir es nicht versuchen.“
„Wir schaffen keinen einzigen Song, weil wir keine Instrumente haben!“
„Und außerdem – wenn wir uns dann live vor allen blamieren?“
„So what“, zuckt Jamaika mit den Schultern, als hätte sie einen kleinen Elektroschock bekommen.
„Dann gibt’s immer noch auswandern oder plastische Chirurgie“, sagt W-Lan.
„Und du weißt doch, ist der Ruf erst ... Scheiße, Kippe weg!“, zischt Jamaika plötzlich.