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Sonntag III oder: Ein Autor auf Rückreise

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»Neben mir in der billigen Maschine der noch billigeren Airline sitzt ein groß gewachsener Spanier, Mitte fünfzig, mit silbernen Fäden im schwarzen Haar. In Dauerschleife leiert über die Boxen über mir Velvet Underground seinen Sunday Morning

Ich lese den Satz noch einmal.

»Neben mir in der billigen Maschine der noch billigeren Airline …« – und breche ab.

Es ist so skurril, dass ich es jetzt nur deswegen glaube, weil ich es in mein Notizbuch hineingeschrieben und unterstrichen habe. Schwarze Tinte lügt nicht:

Im Flugzeug von Lissabon nach München über Barcelona wird Lou Reed als Beruhigungsmusik für ängstliche Flugteilnehmer gespielt. Unabgesprochen gemeinschaftlich lesen der Spanier im besten Anzug, den ich je gesehen habe, und ich in unseren Büchern. Simultanlesen für Nichtschwimmer und Unberuhigbare. Die Maschine ruckelt. Bis ich sie verlassen werde, unterdrückt diese seltsam gemeinschaftliche Handlung, an dessen Ende wir uns sogar mit einem Nicken voneinander verabschieden, ohne ein Wort gewechselt zu haben, das Gefühl der Überreizung. Dieses Gefühl, das sich nur durch die Rückkehr zu sich selbst bewältigen lässt.

Gut, dass ich während des Fluges zu trinken beginne.

Die Maschine rumpelt bei der Landung, es klingt nach billigem Plastik. Es ist gegen Mitternacht, mit surrendem Fahrgeräusch rollen wir auf die Haltezone zu. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich die Worte schreiben werde oder geschrieben habe.

Wie in Trance entsteige ich dem Flieger, eine spontane Flucht vorbereitend.

Auch hier in Barcelona riecht das Rollfeld nach warmem Teer und Kerosin. Ein Typ kommt auf einem kleinen Gefährt einsam um die Ecke geflitzt, bunte Leuchtklamotten, einen seltsamen Helm auf, Zigarette im Mundwinkel, springt unter das Flugzeug und beginnt, einen riesenhaften Schlauch zu montieren. Sein Gesicht sieht aus wie ein abgetragener Lederschuh. Die Luft ist angenehm feucht. Ich atme tief ein. Nun muss ich sieben Stunden im Flughafen verbringen. Warten ist ein Konzept, das mir vollkommen idiotisch erscheint. Es bedeutet, dass die Zeit mit nichts gefüllt wird, nichts passieren darf, alle Handlungen nur Brücken sind, damit sich alles auf das kommende Ereignis, in diesem Falle den Anschlussflug nach München, ausrichtet. Nur in einer Zeit, in der Velvet Underground zur Fahrstuhlmusik wird, macht das Sinn. Im Bus, nach Flugzeug stinkend, zwischen den anderen, wie Kegel wackelnden Menschen, vom Rollfeld zum nächtlich gespenstischen Flughafenkorpus, beschließe ich, meinen Anschluss nach München zu verpassen.

Ich entsteige dem geisterhaft leeren und unpassend hellen Flughafen wie ein Ertrinkender. Die Flut an Eindrücken, die ich mit mir bringe, könnte vor meinen Augen die Stadt niederreißend schlucken.

Eine fremde Stadt ungeplant zu betreten, fern von daheim, mitten in der Nacht, übermüdet und überreizt, bietet eine kontrastierende Wirkung zum eigenen Selbst. Einen kurzen Moment bin ich versucht, wieder umzukehren. Es ist nicht leicht, sich selbst zu ertragen.

Kein Zurück mehr. Vor dem riesigen, menschenleeren Flughafen klettere ich in den Bus wie ein seltsames Tier. Der Duft der südländischen Frühlingsnacht vermengt sich mit dem Geruch der Großstadt, umso weiter der Bus in das dunkle Zentrum vordringt.

Der Bus hält auf der Plaça de Catalunya. Erhellt von gelben Straßenlaternen erstreckt sich der als Rondell angelegte Platz um die steinerne Fläche. Ich wende mich an den Busfahrer. Mehr mit Händen als mit Worten zeigt er mir eine Richtung, die er mir rät einzuschlagen, wo um drei Uhr noch ein Hotel zu finden sei. Zumindest nehme ich an, dass er meine Intention verstanden hat.

Morgen werden Stände die Rambla wie Treibgut füllen, flanierendes Treiben zwischen Cafés und kleinen Restaurants, unter dem freundlichen Lächeln der alten Fassaden, hinter denen die Häupter der Bäume in den Himmel emporragen. In der Mitte zwischen den Häuserzügen aus alten Gründerzeitbauten, die ihren Charme in der Nacht in historische Düsternis wandeln, ist eine Allee angelegt. Die beiden Fahrspuren sind nur jeweils ein Auto breit, links und rechts der Pappeln. Der Fußweg, breit genug für Marktstände oder Massenschlägereien, dominiert die berühmte Straße. Doch jetzt, in der Nacht, drücken sich fragwürdige Gestalten im Neonlicht durch die Seitengassen. Zwischen den Bäumen, die glatt spiegelnde Allee hinab, tummeln sich Nutten und Zuhälter, betrunkene Jugendliche, Partytouristen und die zwielichtigen Typen, die ihnen nuschelnd Bier, Koks und andere Unterhaltung verkaufen wollen.

Vor einer kleinen Bucht steht ein Taxi. Der Fahrer steht rauchend an die Tür gelehnt, streicht sich immer wieder die langen Haare nach hinten. Sein weißes T‑Shirt ist ein wenig zu kurz und spannt sich über den Bauch, der an seinem ansonsten schlanken Körper hängt. Als ich ihn nach einem Hotel frage, erklärt er mir einen Weg und fügt mit spanischem Akzent an: »If you don’t find the way, do not ask the black girls. I am not racist. But they are prostitutes. They steal your money.«

Danke für den Weg.

Die meisten Nutten sind dunkelhäutige Menschen, deren Spanisch verwaschen klingt. Die Kleidung ist kurz und billig. Sie kauen Kaugummi, als ob sie den Geschmack der vorherigen Kunden mit künstlicher Himbeere vertreiben könnten.

Aufblasen und ploppen lassen.

Ich versuche, meinem verwirrten Kopf die Wegbeschreibung abzuringen, und bewege mich die Straße hinunter, in eine dunkle Gasse hinein. An einer Ecke verhandeln zwei Touristen über käufliche Stellungen mit einer dürren Frau, bewegen sich schwankend nahe an sie heran, der eine betatscht sie und ignoriert den düster dreinsehenden Pimp im Hintergrund. Erst zahlen, dann tatschen, denke ich mir als Sprechblase über den Mann mit dem schlechten Jackett und den geölten Haaren.

Ich ignoriere meinerseits eine Frau, die »Ola Mister, Blow­job?« sagt – es könnte aber auch »Ola, Mr Blowjob« sein. Meine Ignoranz scheint sie aufzuregen, denn sie ruft mir noch mit einigen Metern Abstand Wörter hinterher, die sich vom Angebot, über die Nachfrage hin zu Schimpfwörtern wandeln. Das verstehe ich, auch ohne ein Wort ihrer Sprache zu beherrschen. Schräg gegenüber von mir amüsiert das vier Typen in Trainingsklamotten, einer von ihnen mit ausgebleichten, schlecht gestochenen Tattoos auf den dünnen, drahtigen Armen, den Händen, am Hals und an der linken Schädelseite. Sein Lachen zeigt rechts eine Reihe Goldzähne. Er scheint der Anführer zu sein. Sagt etwas auf Katalanisch zu mir. Geht einige Schritte in meine Richtung und hält mir einen rosafarbenen Ballon entgegen, prall gefüllt.

Einatmen und sich ploppen lassen.

Er grinst mich zwinkernd an. Es ist definitiv sein Teil der Allee. Wir verstehen uns mit einem Blick – ich kenne Typen wie ihn und er braucht Typen wie mich nicht. Er lacht zum Abschied.

Meine Füße tragen mich ziellos die Straße hinab. An einem Mann mit löchrigem Led-Zeppelin-Shirt bleibe ich hängen, kaufe ihm spanisches Bier aus mit Eis gefüllten Plastiktüten ab. Über seiner Schulter strahlt ein neonblaues Schild, das blinkend »Hostel–Hostel–Hostel« verspricht. Umrundend lasse ich den Kameraden der Rockgeschichte stehen, der mich längst vergessen hat und jetzt versucht, einer Gruppe betrunkener Dänen den Preis seiner Dosen zu erklären.

Hostel–Hostel–Hostel.

Danach leuchten in Rot zwei Sterne auf.

Mehr Sterne kann ich heute nicht mehr erwarten.

An der Rezeption sitzt ein alter Mann, argwöhnisch mustert er mich, brummt nur, schüttelt den Kopf auf meine Frage. Dann endlich steht er schnaufend auf, als wäre er von seinem eigenen, mitleidigen, guten Herz völlig entnervt. Woher der Sinneswandel kommt, weiß ich nicht. Brummelnd schlurft er hinter dem Tresen hervor und führt mich nach oben in einen schlecht beleuchteten Flur. Die Wände der Zimmer sind dünn, irgendwo Lachen, irgendwo Schnarchen. Am Ende des Flures hält er an.

Das Zimmer ist winzig, aber das Bad sauber und eines für mich alleine, ohne salzige Surfer, ohne den Mann, den zu kennen und zu verstehen in den letzten Monaten meine Aufgabe geworden ist.

Ein Mensch ist eine Figur, oder umgekehrt.

Der einzige Zugang nach außen, abgesehen von der windigen Eingangstür, ist eine mit knarzendem Plas­tik­rah­men auf einen kleinen Betonbalkon führende, blinde Glastür. Ich übersteige das Plastik und stehe auf nacktem Beton. Kein Tisch. Oder Stuhl. Über mir ragen die umliegenden Gebäude eng in den schwarzen Nachthimmel. Die Klimaanlagen, die dreckig und zerfallen in die Hinterhöfe der Häuser ragen, surren wie ein bedrohlich großer Insektenschwarm.

Ich brauche Schlaf, Ruhe, Abstand. Ein paar Stunden für mich. Und nur mit mir. Meine kleine Tasche mit dem Laptop und dem Notizbuch ist berstend voll mit den Informationen der letzten Monate, mit den Wellen, dem Sand, dem Blindenstock, gefüllt mit diesem Menschen, den ich in den letzten Tagen, Wochen und Monaten begleitet und eingesammelt habe. In Einzelteilen und Stücken liegt er in meiner Tasche verteilt. Dieser Mann, der mir vor einem Jahr noch ein Fremder war, den habe ich, ohne Grenze, schmerzhaft nah und schnell kennengelernt und in seine Bestandteile zerlegt. Um ihn wieder zusammensetzen zu können. All diese Puzzleteile passen an bestimmten Enden zusammen. Gehören zusammen. Schlimmer noch: Es ist meine Aufgabe, sie zusammenzusetzen.

Ich brauche Ruhe, dringend.

Der Alte brummt etwas, das meine Gedanken in Fasern zerfranst. Er riecht nach Zigarre, seine olivfarbene Haut lässt das Weiß des perfekt sitzenden Hemdkragens leuchten. Um seinen Hals liegt eine schwere Goldkette mit dem ebenfalls goldenen, gekreuzigten Nazarener daran.

Ich nicke ihm zu.

Er hält mir eine abgegriffene Kladde hin. Ich könnte auch weitersuchen. Etwas Herzerwärmendes finden. Ein kleines Hotel, das familiär wirkt, in dem ich sogar jetzt, um vier Uhr, herzlich von einer dicken Mama empfangen werde. Drauf geschissen. Ich zücke den Füller, mit dem meine Hand in den letzten Tagen zu verwachsen drohte, und schmiere meinen Namen auf die gestrichelte Linie unter einer von mir nicht lesbaren Vereinbarungen mit dem unverschämten Preis für dieses Drecksloch.

Damit gebe ich auf.

Ich brauche nur fünf Stunden, nur fünf Stunden komatösen Schlaf, um mein System zu entlasten, meine geistigen Filter aufzufrischen, um morgen an den Inhalt der Siebe zu kommen. Um die kleinen, leuchtenden Schätze vom Rest zu trennen, aus dem Strom aus Schlamm die kleinen Klumpen Gold herauswaschen. Und aus ihnen etwas Größeres zusammenzusetzen. Das verdammte Puzzle macht mir Angst.

Der Alte steht in der Tür und glotzt mich froschig an. Ich glaube, ihn grinsen gesehen zu haben. Eine Gesichtsregung, die er während der ganzen Zeit nicht hatte. Vielleicht halluziniere ich aber auch. Nachdrücklich lege ich ihm die Kladde an die Brust und schlage die Tür zu.

Das Zimmer ist ruhig, keine anderen Menschen, nur ich. Irgendwo in dem schmalen Trichter über mir, zwischen den Häusern, schreit eine Frau koital. Die Befürchtung, ich könnte nach vierundzwanzig Stunden auf den Beinen keinen Schlaf finden, überkommt mich. Das muss strategisch angegangen werden, einfach auf das viel zu weiche Bett legen, wird nicht funktionieren. Die Frau wird leiser und verstummt seufzend. Ich ziehe mich nackt aus und entledige mich damit des Flugzeuggeruchs. Aus meiner Tasche fische ich die zwei Büchsenbiere. Aus den Resten in dem kleinen Plastikbeutel zwirbele ich eine letzte Zigarette. Ich stelle mich nackt auf den Betonquader und rauche und stürze das Bier in langen Zügen, die meinen Hals zucken lassen, als wäre ich eine kontraktierende, schlingende Anakonda. Dazwischen Rauch, dann die zweite Dose. Betäubt schüttle ich die letzten Tropfen aus der Dose, die Zigarette bis zum eingedrehten Filter heruntergeraucht.

Das sollte helfen.

Taumelnd lege ich mich auf die Matratze und starre an die Decke, an der sich hypnotisch langsam ein silbern-kalter Lichtstreifen im Ventilator bricht.

Morgen werde ich durch Barcelona laufen. Mich treiben lassen. Ich bin ein Stadtkind und nehme Städte als Umgebung war, als Natur, als einen Puls, den ich fühlen kann, wenn ich bereit bin, mich hinzugeben. Der Puls wird mich nach Gótico führen. Durch schmale hohe Gassen, durch die kühlender Wind streicht. Schmaler Streifen azurblauen Himmels über mir, gedämpft durch die alten rot-steinernen Fassaden. Manchmal wird der Wind den Geruch frisch gewaschener Wäsche mit dem des Meeres vermischen. Ich werde ein Café finden, mich dort an einen kleinen, runden Tisch setzen. Vor mir, im Schatten der schmalen Gasse, zwischen Kaffee und Oliven und einem Glas staubig-trockenen Rotweins, meine Notizen ausbreiten. Die neue Stadt, die dadurch entstehende Ruhe, die Distanz zum Vertrauten und damit zu mir selbst, wird mich ermächtigen, der aufkommenden Flut Herr zu werden.

Das rhythmisch durch die sanften Rotoren gehackte Licht beginnt vor meinem Auge zu verblassen. Kurz bevor mich das gnädige Nichts erreicht, bevor das herbeigeführte Koma beginnt, flackert Widerstand auf. Die Neuronen feuern, die Frage, wo ich beginnen werde, wie es gilt anzufangen, schießt glühend durch meinen Kopf.

Das Bild vor meinen Augen verschwimmt weiter, in meinen Ohren rauschen die Wellen.

Das erste Teil findet seine Verknüpfung.

Es ist Sonntag. Am Anfang stand das Gespräch, an einem Sonntag, ein Einstieg, ein Anfang. Das aus einem winzigen Ereignis folgte, einem Händedruck; ein Ereignis, das aus einer schier unendlichen Verkettung von Momenten entstand.

Ein Leben zu erzählen ist unmöglich, es sind immer nur die kläglichen Versuche, dieser dreidimensionalen Spirale eine vereinfachte Form zu geben, die Zeit in dramaturgische Einheiten zu bringen.

Eine Spirale aus Zeit. Seiner Lebenszeit. Die ich mir durch seine Erzählungen über die letzten Monate aneignete.

Ich bin auch eine Spirale. Der Entschluss ist gefallen, morgen muss es beginnen. Ein Morgen; kurz weiß ich noch, dass auf Sonntag der Montag folgt.

Dann reißt es mich hinab und ich werde blind:

Was du nie siehst

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