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Montag oder: Wer verliert, der sucht

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Ohne geträumt zu haben, mit dem Gefühl halbseiden gegart worden zu sein, wühle ich mich aus der Decke. Tastend suche ich auf dem Tischchen neben dem Bett, um zu erfahren, ob ich den Tag verschlafen habe. Und finde nichts. Der Wecker muss runtergefallen sein. Das lässt mich erst einmal in die Decke zurücksinken. An einem solchen Morgen wäre eine Motivation dringend nötig.

Ein »Fuck, es ist schon spät« hätte helfen können.

Ich genieße noch einmal kurz, aufgewacht zu sein, und die Ruhe in mir. Ohne Druck. Ohne Fuck.

Das Fiepen in den Ohren ist weg. Das Gefühl im Schädel, von einem Laster getroffen worden zu sein, ist zumindest fast verflogen. Dass ich wieder klar höre, ist verdammt gut. Sonst müsste ich jetzt zum Arzt rennen. Mit meinen Ohren bin ich manchmal ein bisschen vorsichtig. Aber irgendwie dann auch nur manchmal. Es ist ein etwas seltsames Verhältnis, könnte man sagen. Ich weiß, wenn meinen Ohren etwas passiert, dann bin ich sozusagen weg. Oder anders herum: Die Welt ist dann fast weg. Kurz vor dem Horizont. Trotzdem gibt es nichts Besseres, als sich vorne im Moshpit gut betrunken dem gut geführten Krach mit jeder Faser hinzugeben. Von Muskelstrang bis, ja, bis eben zum Trommelfell. Trotzdem, wenn etwas länger anhält, ein Fiepsen in den Ohren, ein Druck oder Drückchen, Schmerz oder Schmerzchen, dann sitzt der Herr Rocker extrem beunruhigt auf einem klebrigen Wartezimmerstuhl und wartet darauf, dass er seinen Namen hört. Und verflucht sich dafür, um sein Gehör gepokert zu haben.

Bevor ich da sitze, denke ich trotzdem nicht darüber nach, was passieren könnte. Die Freude über jeden Moment auf der Bühne ist einfach überwältigend.

Kurz bevor ich wieder einschlafe, bemerke ich, dass ich immer noch keine Ahnung habe, wie viel Uhr es ist. Stöhnend rolle ich mich auf die Seite und taste neben dem Nachttisch, auf dem Boden, neben meinem Bett. Ich greife irgendwas Sockiges. Kein Wecker. Ich muss das verdammte Ding wieder mal im Bad stehen gelassen haben. Wenn ich jetzt das Musikhören während des Duschens gegen die Uhrzeit eintauschen könnte, würde ich es tun. Es hilft alles nichts – ich stehe auf, tappe schlaftrunken und gähnend durch das Wohnzimmer und über den kurzen Flur ins Bad. Mit der rechten fahre ich über das kühle, angeraute Plastik der Waschmaschine gegenüber der Badewanne. Hab’ ihn. Mit dem Zeigefinger drücke ich auf die glatte Erhebung. Mechanisch klingend wie eine Robotervorstellung aus den Siebzigern sagt er die Zeit: neun Uhr zweiunddreißig. Und während ich mich freue, dass es noch nicht zu spät ist, ein bisschen was vom Tag zu haben, da habe ich es noch nicht richtig registriert. Oder wieder verdrängt. Vergessen.

Ich stelle den Wecker zurück und merke mir, wo ich ihn hingestellt habe: linke Kante, Waschmaschine.

Ich muss mir natürlich viele Dinge merken. Es würde sehr helfen, wenn ich für Dinge wie meine Hausschlüssel, meine Unterlagen, mein Taschenmesser oder eben meinen Radiowecker, einen wirklich festen Platz hätte. Oder für mein Handy. Es wäre praktisch, wenn ich schnell losmöchte oder mal meine Rechnungen sortieren muss. Und es wäre vielleicht sogar logisch, also angebracht – das denken zumindest die meisten. Es ist eines der Klischees, die ich leider einfach nicht erfülle. Es wäre manchmal ein praktisches Klischee. So wie jetzt. Dann würde mir jetzt auffallen, dass mein Handy nicht an seinem Platz liegt. Tut es aber nicht.

Das Einzige, was mir jetzt einfällt, ist erst einmal: Sport, Dusche, Frühstück und Kaffee.

Das Erste (Dusche) geht pfeifend und singend vonstatten. Das Zweite (Frühstück und Kaffee) mit Sonne auf dem Rücken. Das Dritte (Sport) verschiebe ich erst einmal auf später. Während ich das Müsli vor mich hinlöffle, denke ich daran, wohin ich sie einladen könnte.

Ob ich sie einladen sollte.

Statt dem Fiepen habe ich immer noch ihre Stimme im Ohr, ihr Lachen. Ich frage mich, was sie gerade macht, ob sie auch ausschlafen konnte. Ob sie gerne etwas von meinem Müsli abhaben wollen würde.

Was ich anziehen könnte. Wenn ich sie einladen würde.

Ob ich verliebt bin.

Ich beschließe, dass es eine gute Idee ist, sie zu fragen, ob sie mit mir essen gehen möchte. Nichts Schickes, eher in diesen kleinen Burgerladen. Burger sind irgendwie lässig, wenn auch ein bisschen arg Berlin zurzeit. Aber der Schuppen ist super, Rock ’n’ Roll und fränkischer Burger. Gegen den Burger sprechen die Soße und das komplizierte Essen. Ich grinse über kompliziertes Essen und löffle mein Müsli.

Es ist wirklich so, dass soßiges Essen für mich ein Kriterium ist, nicht in einen Laden mit jemanden zu gehen. Das gilt allerdings nur für Menschen, die ich noch nicht kenne. Bei Freunden wird mir das egal. Die Gefahr, sich bei soßigen Sachen vollzusauen, ist da. Nicht übermäßig groß. Aber da. Und jemand, der mich gerade kennenlernt, soll nach dem Abend nicht denken: Mann, der Idiot kann nicht mal essen. Deswegen sollte ich so einen Laden meiden.

Also, Soße fällt flach beim ersten Date. Oder Sachen, bei denen ich viel schneiden muss. Dann muss ich das Besteck so kurz am Stiel nehmen, dass meine Zeigefinger fühlen können, was ich schneide, wie viel ich abtrenne. Wenn das auch noch soßig ist, was da geschnitten wird, brauche ich hinterher einen Stapel Servietten. Oder die Toilette; also, genauer, das Waschbecken. Das kann sogar ich voneinander unterscheiden.

Noch so ein Kriterium: Ein Laden, den ich kenne. Es kommt einfach nicht gut, zwischen tollen Witzchen und intimer werdenden Fragen einzuschieben: »So, jetzt muss ich aber pinkeln. Zeigst du mir das Klo?«

Vielleicht sollte ich nicht nur ans Essen denken. Liegt wahrscheinlich am Müsli. Über einen Scheiß kann man nachdenken. Und immer wenn ich über diesen Scheiß nachdenke, fällt mir auf, dass es ein Gedankengang ist, der mir beigebracht wurde.

Es war ein scheißkalter Winter und das Klassenzimmer roch nach Heizungsluft. Mein Platz war in der hinteren Reihe rechts. Ich konnte durch die Fenster einen Vogel singen hören. Meine Deutschlehrerin war eine schon etwas ältere Dame. Ich kann ihre leicht raue Stimme noch hören, wenn ich über diese Dinge nachdenke.

Sie sagte: »Bedenkt immer: Wenn ihr euch beim Essen bekleckert, mit einem Fleck auf dem Pullover herumlauft und es nicht bemerkt, weil ihr es nicht sehen könnt, dann seid ihr nicht einfach ein Mensch mit einem Fleck auf dem Pullover. Ihr seid ein Blinder, ein behinderter Mensch, der nicht fähig ist, sich selbst sauber zu halten. Im besten Fall hilfsbedürftig. Bemitleidenswert im schlechtesten Fall.«

Es ist ein Unterschied, ob man Hilfe bei manchen Dingen braucht oder hilfsbedürftig ist. Das habe ich allerdings nicht nur in der Schule gelernt.

Essen gehen ist vielleicht auch einfach schon die zweite Stufe, ich sollte sie erst mal auf einen Kaffee treffen. Irgendwo schön draußen, Sonne auf meinem Rücken, leckerer Kaffee, tolles Gespräch, super Schattenplatz, wenn es zu heiß wird. Obwohl, so warm wird es noch nicht.

Ich kaue und esse. Die Sonne scheint mir durch mein Küchenfenster auf den Rücken. Ich frage mich, ob ich ihr Typ bin. Oder ob ich es nicht bin. Aber wenn nicht, tja, dann hätte sie mir nicht ihre Nummer gegeben. Ihre Nummer. Nulleinsirgendwas. Zahlen bekomme ich einfach nicht mehr in mein Hirn. Bevor ich Talks auf dem Handy hatte, konnte ich mir Telefonnummern problemlos merken. Ging nicht anders, aufschreiben nützt ja nichts. Ich habe mich lange gegen die Sprachsoftware gewehrt, alle um mich herum, also die Blinden, hatten sie schon. Nur ich nicht. Vielleicht wusste ich instinktiv, dass es mir zwar helfen, aber mein Telefonnummern-Gedächtnis verkommen lassen würde. Das blinde Orakel vom Lande.

In dem Moment schiebt sich eine Wolke oder irgendetwas Unheimlicheres vor die Sonne. Es wird plötzlich kühl. Ich kaue immer langsamer und mein Lächeln verschwindet, während es mir langsam dämmert. Ihre Nummer konnte ich mir nicht merken, also habe ich sie in mein Handy gespeichert. In mein Handy, das ich heute noch nicht in der Hand hatte. Wo es ja schon wegen des Namens hingehört. Das Scheißhandy, dieses nummernfressende Gerät, auf das ich jetzt schiebe, dass ich mir ihre Nummer nicht merken konnte. Und nirgendwo in meinen Hirnwindungen, weil die schon so aufgeweicht sind durch das ewige Zahlen-nicht-merken-Müssen, kann ich einen Hinweis darauf finden, wo das kleine Mistding ist. Oder weil ich einfach schlampig bin. Da ist es wieder, das nicht erfüllte Ordnungsklischee.

Ich lausche, aber bis auf das leise Brummen des Kühlschranks höre ich nichts. Hey, sag mal Piep.

Aber alles kein Problem, gibt für alles eine einfache Lösung. Ich schiebe die Schüssel von mir und gehe mit angehobenen Armen und einem kurzen Kontakt zum Türrahmen in den Flur, taste auf dem Schränkchen. Zumindest das Festnetztelefon ist an seinem Platz. Meine eigene Nummer wählend, mache ich mir Hoffnungen, dass es irgendwo, vielleicht dumpf aus einer Tasche heraus, klingeln wird. Wählen und hoffen. Toll, meine Nummer kann ich auswendig. Ein leises Knacken und kurze Stille im Hörer. Ich warte. Fehlanzeige. Die Mailbox geht ran. Das Scheißding ist aus.

Etwas zu heftig ramme ich das Telefon zurück in die Ladestation. Jetzt hilft nur suchen.

Zuerst suche ich noch ruhig und langsam. Ich bewege mich systematisch, ertaste den rauen Stoff der Jacke an der Garderobe im Flur; weiter zum stummen Diener im Schlafzimmer, über dem lasch die Hose hängt, Jeansstoff, die Tasche innen ist weich und leer; dann durchsuche ich die Tasche, die ich das Wochenende über dabei hatte, befühle die Innentaschen. Nichts. So viele Taschen. Überall Fehlanzeige.

Jetzt kann ich nur noch raten. Ich versuche, ruhig zu bleiben, zu atmen, nicht hektisch zu werden. Das ist so eine Sache, mit der Hektik, das kann blöd ausgehen. Dann schmeiße ich was um oder runter oder werfe alle Systematik über Bord und taste immer wieder da, wo ich schon war. Bringt nichts, sich aufzuregen. Ruhig bleiben. Tastend fahre ich über das Sideboard im Wohnzimmer, über die Furnierfläche des Wohnzimmertisches, taste mich über den Boden des Schlafzimmers auf allen Vieren, fühle mich vorwärts über die schmalen Linien zwischen den Holzdielen, die kühl sagen: Sorry, du Depp, kein Handy hier.

Als ich wieder im Wohnzimmer ankomme, gibt etwas in mir auf. Ich setze mich auf den weichen Teppich, meine Hände versinken ein ganz klein wenig darin.

Früher war ich jähzornig. Manchmal wiederhole ich das so oft, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich nicht doch Lust habe, irgendwas auf den Tisch zu hauen und zu brüllen. So wie jetzt.

Das eine Mal, wenn ich jemandem so offen begegnen kann und sie mir ihre Nummer gibt, muss ich es verlieren. Ich brauche das Scheißhandy. Nachdenken, das hilft vielleicht mehr als Schreien. Also, am Samstag hatte ich das Handy noch, den kleinen, sprechenden Mistapparat.

Am Samstag fuhr ich mit dem Taxi vor dem K4 vor. Und das Taxi hatte ich bei mir um die Ecke aus der Stammkneipe mit dem Handy gerufen. Da hatte ich es noch.

Seit dem ersten Benefiz machten die Jungs und Mädels vom Engel das Catering für uns und die anderen Bands. Tina half mir, die Styroporkisten in den Kofferraum des Taxis zu hieven. Und dann ging es mit der Verpflegung quer durch die Stadt.

Zwei Techniker standen rauchend vor dem Eingang und begrüßten mich. Ein paar Kisten packten sie schon mal backstage. Die letzte balancierte ich auf einer Hand, während ich tastend das Geld für das Taxi zusammensuchte. Den Stock in der einen, die Kiste in der anderen, wandte ich mich Richtung Treppe. Der Druck wuchs in dem Moment, da ich die schwere Türe aufzog und mir durch den hallenden Vorraum die Stimme unseres Gitarristen entgegenrief.

»Mr Nolook, zu allem bereit?«

»Klar«, sagte ich, den Kopf in Chris’ Richtung wendend.

Umarmung, Schulterklopfen.

Darf ich vorstellen? This is the band:

Chris ist der Typ Surfer und Rampensau, wie er im Lexikon unter »Gitarrist« steht. Auch wenn wir uns mit unseren beiden Egos im Raum des Öfteren mal gegenseitig im Weg stehen, verbindet uns viel. Das Surfen, das andere Ende der Welt, Freundschaft. So Zeug eben.

Sein Gitarrenkollege Fabi ist ein Typ mit zwei Gesichtern. Auf der Bühne schaut er drein, als ob er jemanden fressen würde. Also, das höre ich zumindest immer. Ist er von der Bühne runter, ist er einer der wenigen Menschen, die ich kenne, die eigentlich immer fröhlich sind.

Oli, der Bassist, ist dieser große, etwas lethargische und gutmütige Typ, immer mit Mütze, als ob sie nicht zu trennen wären und er schon mit dem Ding auf die Welt gekommen wäre.

Flo schließlich ist unser Schlagzeuger. Flo und Fabi kannten sich schon von einem Hardcoreprojekt, und die Härte im Verbund mit der Präzision, mit der Flo die Drums bearbeitet, tut unserer schnellen Rock-Punk-Mischung gut. Wir raufen uns nun schon seit sechs Jahren zusammen und dehydrieren die Massen. Na ja, Massen; die Leute, die auf unsere Konzerte kommen.

Fabi und ich kennen uns schon ewig, achtzehn Jahre, um genau zu sein. Kein ganzes Leben mehr in meinem Alter, aber doch genug, um jemanden nicht mehr aus dem eigenen Leben wegdenken zu können. Er ist mit leichter Sehbehinderung geschlagen und kam nach Nürnberg, um so wie ich seine Ausbildung zu machen. Und am Anfang kamen wir uns eher in die Quere. Wir hatten unsere nicht vorhandenen oder eben schlechten Augen auf das gleiche Mädel geworfen, das sich zwar nicht die Bohne für uns interessierte, aber den Grund zum Kabbeln gab. Bis zu den Dehydrators hatten wir mal mehr mal weniger Kontakt, so ein bisschen Ebbe und Flut. Manchmal bringt einen erst der Sturm richtig zusammen: Als Fabi für drei bis vier Nächte ein Sofa brauchte, blieb er drei Monate bei mir. Eine tolle Zeit irgendwie. Und weil wir uns kannten, kam ich zu den Jungs in die Band. Immer diese Zusammenhangsketten.

Das Styropor mit unserem Essen quietschte in meinen Händen. Wir verstauten die Warmhaltebox unten im Keller im Backstagebereich und ich machte mich bei Fabi eingehakt auf den Weg zur Bühne.

Vom hallenden Vorraum aus betraten wir durch eine kleinere Türe den Saal, in dem das Benefizkonzert stattfinden sollte. Der Raum roch nach dem, was Wände und Boden seit den Fünfzigern aufgesaugt hatten, um es dampfend wieder abzugeben. Diese Mischung aus Schweiß, Alkohol, kaltem Zigarettenrauch vergangener Tage und der Aura von Bühnenelektronik, metallisch, an Ozon und E‑Gitarren-Gewitter erinnernd. Irgendwer kiffte links hinten im Eck. Ich hörte, wie um mich herum geschoben und aufgeklappt, getestet und eingesteckt wurde. Auf der Bühne ließ Flo, der Schlagzeuger, die Toms und das Becken im Wechsel scheppern – eins, zwei, drei, eins, eins, eins, zwei, drei. In die Geräuschkulisse hinein sagten immer wieder Leute Hallo und klopften mir auf die Schulter. Ich konnte sie nicht alle auseinanderhalten, ließ mir aber nichts anmerken.

Irgendwo hinter mir war der Mischer, der mit den Drums nun zufrieden war. »So, passt. Dann könnte man den Gesang machen.«

»Bringst du mich hoch?«, wandte ich mich an Chris.

Er nahm mich am Arm und führte mich auf die niedrige Bühne. Irgendwer hatte mir erzählt, dass am Sockel der Bühne Totenschädel aufgesprüht waren. Ich fühlte mich bis zu diesem Moment noch nicht so richtig rock, war noch halb im Taxi. Am Arm geführt, über die Totenschädel hinweg, stieg ich auf die Bühne und ertastete vor mir das kühle Mikro. Das kühle, etwas abweisende Metall, das Schaben meiner Schuhe auf der räudigen Bühne: Wie bei den ersten Klängen die Membran der Boxen vibriert, reagierte ich auf die Reize.

Von links von mir, dort wo am Ende des Raumes Sofas standen, hörte ich, wie Oli unter seiner Mütze hervor mit jemanden sprach.

»Das da? Das ist der Sänger.«

Ich sang ein paar Strophen an.

Eine genuschelte Frage.

»Ja, blind«, antwortete Oli laut.

»Ja, blind, stockfinster und so. Gell, Hansi?«, rief Chris hinterher.

»Stuck with the blind, not dark, just no sight«, schrie ich in das Mike und sprang am Ende juchzend hoch. Dann drehte ich den Mikroständer nach links unten und beugte mich darüber. Mein linkes Bein stieß an den Mikroständer und tockend schlug mein Handy durch die Hosentasche gegen das Metall. Grinsend kam ich wieder hoch, das Handy verschoben in meiner Hosentasche.

»Bringt dem Mann doch mal ein Bier!«, rief Flo lachend.

Die andere Band applaudierte.

Jetzt konnte es losgehen.

Da hatte ich mein Handy noch.

Ich überprüfe auf dem Teppich sitzend noch einmal den Erinnerungsfetzen und bin mir sicher: die Kollision mit dem Mikroständer, das Handy in der Hosentasche, durch den Jeansstoff verschoben.

Nach dem Soundcheck, dem Bier und einem tiefen Zug im Sofaeck machte ich den Fehler, den ich immer mache, bevor das alles losgeht: Ich stand am Einlass. Irgendwie gehört es dazu. So wie die Dankesrede, so wie die später fliegenden BHs; ich habe die Sache auf die Beine gestellt, die Hilfe von Freunden und Bekannten in Anspruch genommen, dann muss ich auch die Eier in der Hose haben, mal eine Zeit lang am Eingang zu stehen. So oder so ähnlich sieht die seltsame Argumentation dafür aus. Dagegen spricht, dass ich immer aufgeregter werde. Und dass ich gegen die Aufregung dann gerne noch ein Bierchen trinke, während immer mehr Menschen kommen, viele, die ich persönlich begrüße. Ich sage »Hallo« und »Wie geht’s?«, klopfe Schultern und scharre gleichzeitig hibbelig mit den Füßen: Es soll jetzt endlich losgehen! Ich glaube, Menschen die Mucke machen, sind im Grunde wie kleine Kinder. Trotz Rock-and-Roll-Gehabe versuche ich vor dem Auftritt immer nur zwei Bier zu trinken, sonst verschleimt meine Stimme so. Erst nach dem Auftritt geht’s dann so endgültig ab. Manchmal frage ich mich, ob Lemmy oder so auch auf seine Stimme geachtet hat.

»Hallo Hansi.« Ihre Stimme war toll.

»Hey Hanna!«, lächelte ich in ihre Richtung.

Das war der Punkt, an dem ich endgültig wusste, dass ich scheiße noch mal so richtig aufgeregt war. Wir umarmten uns zur Begrüßung; sie ist größer als ich, in der Länge und im Singen.

»Du hast ja gesagt, ich muss endlich mal kommen«, hörte ich sie lächeln.

»Ja, ja! Auf jeden Fall.«

Seit zwei Jahren gibt Hanna mir Gesangsunterricht. Ihre eigene Musik hat mit unserer nichts zu tun. Aber sie beherrscht ihre Stimme wie ein fein gestimmtes Instrument. Sie greift die Töne, surft auf ihnen und erschafft so leicht und trotzdem bestimmt Stimmungen und Gefühle, dass ich am Anfang dachte, es ist bei mir alles verloren. Und letztes Jahr hat sie tatsächlich Background Vocals für uns eingesungen. Stolz wie Oskar war ich, dass sie tatsächlich für einen Song, dessen Text ich geschrieben hatte, für einen Nachmittag ihre eigene Musik ruhen ließ und mit uns sang.

Und jetzt war sie hier. Ich hatte sofort das Gefühl, dass ich keinen Ton herausbekommen würde. Plötzlich hörte ich, wie laut es um mich herum war, wie viele Menschen da waren.

»Du darfst nicht zu hart zu mir sein.«

»Ach was, das wird schon. Das ist übrigens Alexa.«

»Hi Alexa.« Ich wandte mich in die Richtung, in der ich sie vermutete, und streckte meine Hand aus.

Eine kühle, kleine, aber kräftige Hand umschloss meine.

»Schön, dich kennenzulernen.« Ihre Stimme war schokoladig.

Ich vergrub meine Linke in der Tasche. Als ob sie mich sofort verlegen machen würde. Meine Hand stieß an das Handy.

»Du bist also der Benefizrocker?«

»Ja ich …« Jetzt musste mir was einfallen.

»Herr Flirtmeister, wir müssten mal backstage«, unterbrach Fabi meinen ungelenken Denkversuch. »Hallo Hanna«, legte er nach, ich hörte Stoffrascheln, Umarmung.

Er stand neben mir, lehnte sich auf das runde Bar-Tischchen, das sich leicht kippelnd bewegte, auf dem auch ich meinen Ellbogen hatte.

»Ja, ja, ich komme gleich.« Bitte sag nicht: »Das seh’ ich auch.«

»Das seh’ ich auch«, gluckste er.

Alexa lachte klar und sanft, weniger über das bescheuerte Wortspiel, als vielmehr darüber, dass ich immer noch ihre Hand in meiner hatte. Glaube ich. Sie roch ein wenig nach Rauch und frisch gewaschenen Haaren und einem Hauch von Meerluft. Manchmal habe ich das Gefühl, dass nur Weinkenner und Whiskyfreaks wissen, wie ich Menschen beschreibe.

»Es tut mir leid, das ist wirklich, ich weiß auch nicht …«, stammelte ich und zog meine Hand zurück, lächelte unbeholfen in ihre Richtung.

»Schon gut«, sagte sie freundlich.

»So, auf geht’s.« Fabi legte seine Hand auf meine Schulter.

Ich hakte mich ein und versuchte, dabei lässig auszusehen.

»Dann setzen wir das Gespräch nach dem Konzert fort, ich überlege mir bis dahin was Schlaues.« Wenigstens ein charmanter Satz.

»Alles klar.« Sie klang, als ob sie mir glauben würde.

»Erst mal wird Musikgeschichte geschrieben. Ich bring ihn dann frisch gefeudelt zurück.« Fabi drehte sich mit mir ein, nach links, in Richtung des Flures.

»Das will ich hoffen.« Auch das klang so echt, wie ich es mir nur wünschen konnte.

Ich rumpelte mit Fabi gegen den Tisch, mein Handy schlug hart dagegen.

»Mann, wer ist das denn?«, fragte Fabi, während wir uns durch die Leute zum Backstagebereich drängelten.

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, es ein bisschen abzutun. Fabi lachte nur. Hinter uns floss der Lärm in den Konzertsaal und wir verschwanden backstage.

Im verrauchten, niedrigen Raum, der, vollgestopft mit unserem Zeug, gerade noch Platz für uns, die Kiste Bier und das Sofa mit einem kleinen Tisch davor hatte, saßen wir mit den anderen Bands zusammen. Der Schlagzeuger der Headliner des Abends erzählte einen seltsamen Witz nach dem anderen.

»Was ist grün, und wenn es dich trifft, bist du tot?« Kunstpause. »Billardtisch!«

Wir lachten betrunken und verraucht, kickten uns gegenseitig in dem kleinen Raum weiter in Bühnenstimmung.

»Was ist weiß und stört beim Essen?« Kunstpause. »Lawine.«

Ich konnte richtig fühlen, wie sich über uns der Saal füllte, und ich dachte daran, dass sie auch da oben stand. Direkt über mir. Obwohl ich ja keine drei Sätze mit ihr gewechselt hatte. Ich zählte noch mal nach. Aber eigentlich waren meine Sätze ja sowieso nur halbe gewesen.

»Ein Blinder und ein Tauber machen zusammen Musik …«

Keine Kunstpause.

Plötzliche Stille im Raum. Er brach ab.

Ich ergänzte: »… sagt der Blinde: ›Tanzen sie schon?‹ Sagt der Taube: ›Wieso, spielen wir schon?‹«

Kenne ich von meinem Vater.

Alle lachten. Irgendwer klopfte mir auf die Schulter. Ich mag es, locker zu sein. Es ist, wie auf dem Surfbrett stehen und spüren: Wenn du locker bist, dann tragen dich die Wellen. Aber wenn du verkrampfst, fällst du ins orientierungsfreie Wasser. Also: locker bleiben, auf der Welle gleiten, mitziehen und sich dem Strom anpassen.

Wir machten uns bereit, auf der Welle zu reiten, ein paar von uns zogen sich um, ein Hütchen wurde ausgepackt und dem lachenden Sänger der anderen Band auf seinen Punkerkopf gebunden, ich schraubte meinen Mikrofonständer zusammen, den ich mit Fabi aus einem Blindenstock gebastelt hatte. Wir bildeten einen Kreis und stießen noch einmal an – es konnte losgehen.

Auf jeder Bühne habe ich einen Bereich, in dem ich mich bewegen kann. Links von mir stellt Chris die Begrenzung dar. Rechts von mir die Kante einer Box, genauso vor mir. Auf der Bühne brauche ich diese Eckpunkte. So kann ich mich bewegen, ohne Gefahr zu laufen, auf die Fresse zu fliegen oder aus Versehen jemanden zu treten, der es nicht verdient hätte.

Der Jubel, der uns entgegenschlug, brachte mich innerlich hüpfend auf meinen Platz.

»Hi Leute, schön, dass ihr alle da seid.« Grölen und Johlen als Antwort. »Wie jedes Jahr freuen wir uns auch dieses Jahr, euch ordentlich einzuheizen und mit eurem Geld was Gutes zu tun!«

Rechts hinter mir zählte das Klacken der Stöcke mit leisem »one, two, three, four« den Takt ein, und die ersten Riffs von Paranoid rollten von der Bühne hinab. Ich hob den Arm, stampfte im Takt, die andere Hand legte sich um das Mikro; mit Hüftschwung griff ich an und los ging’s.

Bevor ich als Sänger bei den Jungs landete, war ja immer die Frage, wie ich mich auf einer Bühne bewegen sollte. Als ich dann auf der Bühne gelandet war, ohne dauernd auf der Fresse zu landen, fragte irgendwer, ob die Gesten und Bewegungen antrainiert sind. Also, ob ich Bühnenmoves geübt hätte. Von Freunden weiß ich, dass die Aufgabe des Sängers nicht nur das Singen ist. Aber niemand übt das. Ich versuche mir das immer vorzustellen, wie man das macht. Vor dem Spiegel bringt es für mich nichts. Ich hätte einen Trainer gebraucht. Aber es ist sowieso nicht einstudiert. Das ist ein Gefühl, das eben so herauskommt. Es geht ums Rocken. Ums Bewegen. Darum, das Publikum mitzunehmen. Das muss ich eben auf engem Raum machen, damit das funktioniert. Aber es ist nicht einstudiert, antrainiert oder sonst was. Es sind die Mucke und der Spaß, die mich mitreißen. Kick nach vorne, Arm nach oben, bei »Fuck you« den richtigen Finger raus, den Kopf bangen, Gas geben. Bei den ruhigeren Songs schließe ich die Augen, lege den Kopf zurück; bei Paranoid spanne ich den Hals an, so dass die Sehnen hervortreten, und zeige Zähne. Das gehört dazu. Es gehört auch das Gesicht dazu; auch wenn ich blind bin, habe ich Mimik.

Es treiben mich der Song und das Gefühl, vor so vielen Menschen zu stehen, an. Und an diesem Abend die Vorstellung, dass sie da in der Menge stand, nein, am besten noch: tanzte.

Der dritte Song verklang und ich streckte den Arm ins Publikum – Hände berührten meinen Arm. Alle da, ein Riff jaulte auf, jemand sprang in die Menschen, die gerade meine Hand gepackt hatten. Ich richtete mich auf und zog das Shirt aus, drehte mich zurück und riss das Mikro an mich.

Das Ausziehen ist mittlerweile Programm; eine Marke. Das Bedürfnis ist komischerweise echt. Wenn ich mich wohlfühle auf der Bühne, kommen die Schuhe und das T‑Shirt weg. Barfuß, oben ohne. Ich habe da keine Scheu und irgendwie ist es einfach gut zu spüren, dass man das kann. Ein bisschen Sixpack zeigen, grinsend die Oberarme anspannen und den schweißglänzenden Körper in der von den Scheinwerfern erhitzten Luft drehen. Es ist eben ganz oder gar nicht, auf der Welle reiten, sich dem Gefühl hingeben, dass man gerade die Balance gefunden hat und weiß, dass die Welle einen so lange tragen wird, wie man sie respektiert und keine Angst hat. Und natürlich ist es ein bisschen eingebildet.

Irgendwann in er Mitte unseres Gigs flogen BHs und Höschen auf die Bühne. Ich wusste, dass Björn einigen Mädels die Dinger in die Hand gedrückt hatte, aber ich genoss die Show und wickelte einen BH um meinen Blindenstock und steckte mir einen anderen in die Hosentasche.

Pretend to; dann funktioniert’s auch.

Es war eines dieser befreienden Konzerte. Die Leute gingen mit, Applaus und Gejohle als Belohnung; dass einige manche Passagen schon mitgrölten, war ein besonderer Kick, und ich traute mich, ein paar Pogokicks schwingend, ein wenig aus meinem Radius hinaus.

Das Rocken, Australien, die langen Bar-Nächte, all das ist eine Wendung, die ich nicht vermutet hätte, nachdem meine Vorstellung von dem, wie das Leben abzulaufen hat, sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte.

Bei der letzten Nummer gaben wir noch einmal alles. Wir erreichten die letzten Strophen und mir knickten die Knie ein. Ich rief schwer schreiend die letzten Zeilen in das Mikro und lehnte mich nach vorne auf die Box.

Das Handy drückte sich durch den Stoff der Hosentasche gegen mein Bein.

Da bin ich mir sicher.

Es bleibt unentscheidbar, ob ich es nun dort verloren habe oder nicht. Ihre Nummer hat sie mir dort gegeben und ich bin mir sicher, dass ich es da noch hatte. Logisch. Aber danach habe ich es nicht mehr benutzt.

Aber falls ich es doch dort verloren habe, dann hat es vielleicht dort jemand gefunden. Der Gedanke wirkt wie ein Turbo. Ich springe vom Teppich und hechte, die Arme ein wenig vor mir ausgestreckt, in den Flur zum Telefon.

Es läutet eine gefühlte Ewigkeit bis jemand abnimmt.

Ob Sachen gefunden wurden – ja.

Ob sie das dann aufheben – ja. Aber sie bringen sie zum Fundbüro Süd. In zyklischen Abständen und so. Das war jetzt gerade fällig, wegen Datum und Anfang vom Monat und so und ich müsste also ins Fundbüro.

Ich und mein scheiß Glück.

Das Problem mit der Bewegung – einfach losmarschieren ist nicht drin. Im Fundbüro war ich noch nie und ich kenne den Weg nicht. Google wird helfen.

Das mit dem sprechenden Computer und der Internetnutzung habe ich erst vor ein paar Jahren angefangen. Das erleichtert vieles. Sehr vieles. Aber eben nur virtuell. Ich kann den Computer durch das Sprachprogramm benutzen, aber zum Fundbüro muss man eben selbst kommen. An das Leseprogramm gewöhnt man sich mit der Zeit. Ist ähnlich wie mit dem sprechenden Wecker: ein Roboter aus einem Siebziger-Jahre-Science-Fiction.

Die Nutzung des Internets macht vieles leichter für mich. Fahrpläne, Wegbeschreibungen, alles ohne nerviges Herumtelefonieren, vorgelesen von meinem persönlichen Terminator ohne Kill-Befehl. Brillant natürlich auch die Braillezeile; alles Wunder der Technik, die für mich alltäglich sind.

Das Fundbüro Süd ist nicht weit weg von einer U‑Bahnhaltestelle. Von dort zurück sollte es gehen. Hin allerdings wird schwierig. Vor allem, weil ich so durcheinander wegen des bedepperten Handys bin. Zurück bin ich dann ruhiger, da fahre ich dann mit der U‑Bahn zurück. Okay, eins nach dem anderen: ein Taxi. Ich muss dem Fahrer nur sagen, von welcher Seite er hinfahren soll, dann habe ich die Orientierung, und ich spare mir eine Fahrt. So oder so ähnlich ist mein Plan. Mit der U‑Bahn zurück. Und meinem Handy.

Wenn es da ist.

Es ist bestimmt da.

Es muss einfach da sein.

Ich ringe mit mir, ob es eine gute Idee ist, alleine in das Fundbüro aufzubrechen. Obwohl ich gerne bis ans Ende der Welt fahre und mich über die Welt bewege, sind solche Entscheidungen manchmal trotzdem nicht leicht.

Ich könnte den Taxifahrer warten lassen. Aber das fände ich feige. Die U‑Bahnhaltestelle ist direkt die Straße hinunter vom Fundbüro aus. Das ist machbar. Auch ohne Hund, den ich noch nicht habe.

Ich lege das Telefon zur Seite und beschließe, dass ich erst einmal trainieren muss. Erst einmal das tun, was ich tun wollte, mich nicht gleich abhängig machen. In Unterhose und T‑Shirt setze ich mich auf mein Rennrad, das auf einer Rolle im Schlafzimmer steht, und fange an zu fahren. Zu denken, zu schwitzen. Noch während ich strample und schwitze und denke, fällt mir auf, dass ich vor lauter Aufregung was durcheinanderbringe. Normalerweise trainiere ich erst und dusche dann. Das macht auch Sinn. Gerade ergibt aber nichts Sinn, also ist der Quatsch schon wieder folgerichtig.

Was für ein Chaos; in mir.

Manchmal bin ich zu schnell, als dass ich hinterherkommen würde.

Die Tendenz, mich schnell und heftig zu verlieben, ist in den letzten Jahren besser geworden. Das Heftig ist geblieben, aber das Schnell hat sich verändert.

Als ich im Internat war, gab es eine Phase, in der ich das Gefühl hatte, niemals mehr eine Frau kennenzulernen, zu knutschen, zu vögeln. Irgendwie drehte sich dann doch immer wieder alles um dieses Thema. Und egal, ob nun im Internat oder an den Wochenenden zu Hause in meinem kleinen Heimatkaff, immer wieder wurde mir klar, dass die Mädels mich mochten. Und je näher ich der Zwanzig kam, desto schlimmer wurde das: Sie mochten mich eben; wie einen Freund oder einen Bruder.

Und niemand knutscht mit seinem Bruder.

Auf dem Dorf konnte ich nicht mit dem Mofaschlüssel in der Tasche lässig am Bushäuschen unterhalb des Hügels, an dem sich der Ausläufer meiner Heimat erstreckt, in der Sonne warten. Ich konnte auch später nicht mit dem röhrenden Auspuff angeben und sagen: »Hey Baby, steig ein, ich fahr dich später auch heim, aber jetzt lass erst mal hier weg – ich will dir was zeigen.«

Im Internat war es ähnlich. Es ging auch da immer um was, das man vorzeigen konnte. Je besser die Jungs sehen konnten, desto leichter war es. Aus irgendeinem Grund kam ich tatsächlich nie dazu, eine Beziehung mit einem blinden Menschen zu führen. Auch im Internat waren es die Mädels, die zumindest mehr sahen als ich, auf die ich abfuhr. Nicht mit Kalkül, das war einfach so.

Bernie war damals mein Vertrauter in diesen Sachen. Der Typ war blitzgescheit, wir spielten zusammen Goalball und er war gerade noch so sehbehindert. Er konnte tatsächlich so gut sehen, wie er behauptete. Eine echte Ausnahme. Am gefährlichsten ist es, sich mit einem hochgradig Sehbehinderten zu bewegen. Meiner Erfahrung nach überschätzen die sich meistens und bauen deswegen auch den größten Scheiß.

Bernie und ich machten die Woche über gemeinsam das Internat unsicher, stellten den Mädels nach, gingen nachts in der Küche räubern und stahlen uns über ein Fenster auf ein Flachdach, wo wir dann unter dem Nachthimmel lagen, soffen, ratschten und rauchten. In dieser Nacht lagen wir auch auf dem Dach, verputzten Zwieback mit Leberwurst und tranken billiges Büchsenbier.

Als wir uns die letzte Kippe teilten, sagte Bernie zu mir: »Du musst das so sehen: Jetzt wollen die Mädels jemanden, der größer ist, älter ist … du weißt schon … führt. Jetzt schaust du halt mal ein paar Jahre in die Röhre.«

Man kann es nicht anders sagen, zwischen 14 und 17, meine Güte, da standen sie alle auf mich. Und dann, plötzlich – niemand mehr. Bis ich 21 wurde, hatte ich das Gefühl ein Aussätziger zu sein.

»Aber dann, Alter, dann wirst du richtig abräumen – also, wenn du weiter so Goalball spielst und so schlank und gut aussehend bleibst und nicht fett wirst.« Er stieß mir kameradschaftlich in die Seite. »Und vor allem, weil dann langsam auch noch andere Sachen wichtig werden, nicht nur Mofa fahren und die dickste Karre. Innere Werte, verstehst du?«

Genau so war es dann auch.

Trotzdem: Immer schön im Training bleiben. Schwitzend werde ich langsamer. Ich steige vom Rad und dehne mich, so dass sich alles weich und geschmeidig anfühlt. Dann gehe ich zu meiner Wohnzimmertür. Im Türstock klemmt eine Stange für Klimmzüge und darüber einige Klettergriffe, die mir ein Kumpel festgemacht hat.

Sport war schon im Internat super. Mit unserem Trainer waren wir viel unterwegs, vielleicht kommt auch daher dieser Reisefimmel, der Drang, beweisen zu wollen, dass ich mich bewegen kann. Die Goalballmannschaft war eine eingeschworene Sache und wir haben hart trainiert. Als wir in Prag zum Qualifikationsspiel für die ­Junior­en-Europa­meister­schaft waren, wurde mir klar, dass ich Sportler werden könnte. Aber da stand ich mir wohl selbst zu sehr im Weg. Meine Bindung zu meinem Zuhause und meinen Eltern war einfach zu ausgeprägt. Aber das Goalballspielen, das Radfahren auf dem Hof meiner Eltern, das hat eine Grundlage geschaffen. So kann ich jetzt an der Wand über meiner Wohnzimmertür hängen und merke, wie meine Arme Zug um Zug das Brennen beginnen.

»… und nicht fett wirst«, sagte er. Bin ich nie geworden. Aber ich bleibe in manchen Momenten eben doch jemand, der mitgenommen werden muss. Egal wie bewundernswert selbstständig ich bin, ich bleibe blind und in manchen Situationen aufgeschmissen. Das hat Bernie damals im Prinzip gesagt, halb betrunken, aber doch ein bisschen klug, auf dem Flachdach liegend.

Das klingt mir noch heute in den Ohren. Da steckt drin, dass ich zu bemitleidenswert bin. Oder dass ich eben nicht derjenige sein kann, der die Lady galant und überraschungsmäßig abholt. Sie muss diejenige sein, die holt und zeigt und die Welt für zwei sieht. Sie sieht eben Dinge, die ich nie sehen werde.

Trotzdem ist das alles kategorisches Denken, dieser Frauen-sind-so-und-Männer-so-Mist. Im Prinzip hatte Bernie recht, aber gleichzeitig ist es auch dieser idiotische Schubladenscheiß, in dem ich auch lande. Wenn ich genau drüber nachdenke, ist es eben mit mir vielleicht auch ein bisschen so: Die ganzen Schubladen, in denen ich stecke, sind erfundene Scheiße, und irgendwo in dem stinkenden Haufen sind ein paar Reste Wahrheit drin. Die Wahrheit ist: Ich werde nie galant der Dame meines Herzens zuvorkommen und den Drink von der Bar für sie holen. Aber es sollte eben auch kein Problem sein.

Immer wieder ziehe ich mich hoch und lege dann von links anfangend die Hände auf die Griffe, arbeite mich hoch, um mich dann wieder nach unten zu arbeiten, bis ich wieder am Anfang hänge, und beginne dann wieder mit dem Zug nach oben. Hochziehen, hocharbeiten, abbauen, hängenlassen, Arme nicht komplett strecken, leichten Winkel halten; wieder von vorne. Ein ewiges Spiel.

Über fünfzehn Jahre nach dem Abend auf dem Dach denke ich oft an Bernie und dieses Gespräch, und dass ich heute zu ihm sagen würde: »Weißt du, irgendwie mag das ja stimmen. Aber das viel größere Problem liegt da in der Faszination. Ich bin Mädels begegnet, die wollen mit dir in die Kiste, weil sie sich denken, dass Blinde einfach viel feinfühligere, also sensiblere Liebhaber sind.«

Dann würde Bernie sagen: »Und? Bist du?«

»Keine Ahnung, du Pfeife, ich hab’ noch nie was mit ’nem Blinden gehabt.«

Bernie lacht und gibt mir den Rest der Kippe wieder: »Also, hör zu, der Punkt ist: Es ist okay. Sie wollen ja nur mit dir vögeln. Und dann war’s das. Aber viel schlimmer ist dieses … fasziniert sein. Vom blinden Hansi, der so selbstständig ist. So toll, obwohl er blind ist. Und die Faszination mit dem Blinden, die vergeht. Und dann ist es plötzlich nur noch normal. Und nach normal kommt nervig. Und nach nervig kommt ein Sehender, der halt einfach was sehen kann und sie dir ausspannt.«

Jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob der imaginäre Bernie oder ich das sage. Ich beende das ausgedachte Gespräch. Schwitzend lasse ich die Trainingsleiste los und nehme dem ausgedachten Bernie die Antwortmöglichkeit. War ein feiner Kerl, aber auch ein Klugscheißer.

Schwer atmend liege ich auf dem kühlen Holzboden, lang hingestreckt, eine Brücke zwischen Flur und Wohnzimmer bildend. Einzelne Tropfen rinnen mir über die Brust.

Es geht immer um den Vergleich, dieses »Du« dort und dieses »Ich« hier. Was geht bei »Du« und was geht bei »Ich«? – oder so. Manchmal ist es auch praktisch, sich dem direkten Vergleich zu stellen. Erhebend im doppelten Sinn. Das ist mir irgendwie ziemlich früh klar geworden, vielleicht nicht völlig bewusst, aber doch ziemlich klar.

Wahrscheinlich durch Tom.

Mein Vater baute damals an den Hof an. Links vom Eingang in das Wohnhaus. Toms Vater und meiner waren Freunde, und so schien es damals ganz natürlich, dass wir auch Freunde waren. Wir spielten viel zusammen. Der Rohbau diente uns Kindern als Burg oder Raumschiff, U‑Boot oder Raketenbasis. Sozusagen ein Ort voller Möglichkeiten. Ob Räuberhöhle oder Rennbahn, entschied die Tageslage. Bald kannte ich die noch nicht fertiggestellten Räume, die Säulen, die irgendwann mit Türstöcken und Türen versehen werden würden, und konnte mich mit Tom frei bewegen. Wir schleppten meine He-Man-Figuren hin und bevölkerten den von der frühsommerlichen Sonne erwärmten Beton mit dem ewigen Krieg zwischen Gut und Böse. An manchen Stellen hatten die Männer, die an dem Haus bauten, Sand hinterlassen, mit dem wir kleine Welten bauten. Als der Kampf zwischen den Parteien heftiger wurde, nahmen wir die Figuren vom Boden auf und liefen über einen Treppenabsatz. Verfolgend, Schuss- und Schwertgeräusche nachahmend, ließ ich mir von meiner an der Wand entlangtastenden Hand den Weg zeigen. Dann hörte die Wand auf und ich hielt an. Toms Schritte verhallten, schleiften in die Stille und dann kam er, ein Stück von mir entfernt, weiter unten mit sattem Geräusch wieder auf.

Vorsichtig tastete ich mit meinem Fuß, mein Turnschuh ragte über die bröckelige Betonkante ins Nichts. Ich blieb, wo ich war, vor mir ging es hinunter. Seit fünf Jahren blind, konnte ich mich auch schon damals nicht an irgendetwas erinnern, das ich irgendwann einmal gesehen haben mochte. Es konnte zwanzig Zentimeter hinabgehen oder in eine tiefe, tödliche Schlucht.

»Spring, Hansi.« Toms kindliche Stimme war noch erhitzt von unserem Lauf.

»Nein, da geht es runter.«

»Ja eben. Spring!«

Ich hatte Angst.

»Spring schon. Ich passe auf.«

»Du kannst gar nicht auf mich aufpassen, wenn ich springe.«

»Doch. Kann ich.« Schon als Kind klang er, als ob seine Überzeugung die Welt verändern würde.

»Quatsch, kannst du nicht.«

Meine Zunge schmeckte nach Adrenalin. Einen kurzen Moment war es still. Irgendwo hörte man eine Kuh unpassend in die Szene brüllen.

»Sind wir nun beste Freunde oder nicht?«, sagte Tom eindringlich.

Waren wir.

Also sprang ich.

Ein Moment der Ungewissheit, der so kurz war wie die Distanz. Ein kurzes Schweben, die Arme rudernd ausgestreckt, hoch konzentriert, in der linken Hand den mit Schwert bewaffneten Plastikhelden. Meine Füße landeten auf dem kaum einen Meter entfernten Boden und ich zerschellte nicht auf dem Grund einer steinernen Schlucht. Tom und He-Man hatten mich beschützt.

»Siehst du, wenn ich da bin, ist immer alles super.«

Tom war mein bester Freund. Über die Jahre hinweg wurde er immer beliebter, hatte den Mopedschlüssel in der Tasche, und wir gingen zusammen zu dem Bushäuschen, das schon meinen Schwestern als Treffpunkt mit Jungs gedient hatte, gingen auf Partys und in den Wald. Aber immer war er derjenige, der im Mittelpunkt stand. Noch ein bisschen weiter im Mittelpunkt, weil er, der Coolste im Dorf, den Hansi mitnahm. Das meinte er nicht böse. Aber es war der Vergleich, der funktionierte. Wäre ich nicht blind gewesen, wir hätten uns um den Mittelpunkt gestritten und hätten keine Freunde sein können.

Weil er nicht auf mich hätte aufpassen müssen, als ich sprang. Manchmal muss man einfach alleine springen.

Ich rapple mich vom Boden auf.

Nach einer zweiten Dusche beschließe ich, ein Taxi zu rufen und alleine, ohne Tom und ohne Bernie und ohne mein Leben von irgendetwas abhängig zu machen, ins Fundbüro zu fahren.

Na ja, vielleicht ein bisschen abhängig von dem Handy. Genauer gesagt: von ihrer Nummer.

Der Taxifahrer ist einer dieser fränkischen Typen, die mit ihrem jovial breiten Akzent nur für Kenner freundlich wirken. Er fährt mich in die Südstadt, beweist seine Freundlichkeit und bringt mich von seinem Taxi aus bis zur gläsernen Eingangstüre des Fundbüros.

Ich krame meinen Geldbeutel heraus, nehme einen Schein und lege ihn in die eine Hälfte des kleinen, klappbaren Plastikdings und schiebe ihn bis in die Klapplasche. Dann klappe ich es zu und falte den Schein, wo er herausragt, um das Plastik – er endet auf der Oberfläche an der Stelle, an der in Braille »20« steht. Mit den neuen Scheinen geht das auch ohne den kleinen Helfer. Auf der Vorderseite haben sie rechts und links einen schraffierten Bereich mit erhabenen Linien. Beim Fünfer ist der Bereich durchgehend, beim Zehner gibt es eine Unterbrechung, beim Zwanziger zwei. Beim Fünfziger geht es dann wieder ohne Unterbrechung los, der ist ja aber auch größer. Die Europa-Serie; quasi Blindengeld. Ich ziehe den Schein aus der Plastikvorrichtung in meiner Hand und halte ihn dem nach Deo riechenden Mann entgegen.

»Jawoll. Soll ich auf Sie warten, junger Mann?«

»Danke«, winke ich ab. »Ich fahr dann mit den Öffis.«

»Also net, dass Sie die Bahn net finden«, sagt er laut.

»Da lang geht’s zur U‑Bahn, oder?« Ich drehe mich in die von mir aus linke Seite und strecke den Arm aus. Für den Hinweg habe ich mich meiner Faulheit hingegeben, einfach zu viel Anspannung, um mir den Weg zu erschließen. Aber zurück, da wird dann alles gut sein. Da fahre ich dann mit der U‑Bahn.

»Richtig.« Das Erstaunen ist nicht zu überhören. »Na, dann«, setzt er hinterher und drückt mir mein Wechselgeld in die Hand. »Dann ist ja gut. Schönen Tag noch.«

Er entfernt sich und ich drücke gerade gegen die Glastüre, als seine Schritte anhalten und über den Boden schleifen, weil er sich zu mir umdreht. »Ham Sie vorher angerufen?«, ruft er mir zu. »Also, weil, es gibt ja noch andere Fundbüros.«

Ich bekomme schlagartig einen hochroten Kopf. Anrufen, ja – das wäre natürlich eine Möglichkeit gewesen.

»Ja, klar, alles gut«, lüge ich und drücke so schnell wie möglich die Türe auf. Scheiße, ja, ich hätte vielleicht einfach anrufen können. Das wäre das Einfachste von der Welt gewesen, und ich hätte gewusst, was kommt. Manchmal bin ich so fixiert darauf, die Aufgabe, die vor mir liegt, zu lösen, dass ich vergesse, es mir einfacher zu machen. Ein bisschen mehr Nachdenken hätte geholfen.

Mit dem Stock vor mir orientiere ich mich in dem trocken riechenden Raum. Obwohl er groß ist, hallt er nicht, er klingt eher vollgestopft. Links von mir klirrt es, eine große Fläche klirrender Momente. Dazwischen sagt eine Frau immer wieder murmelnd, aber aufwallend: »Scheiße, verdammte«, »Das muss doch …« und »Arschloch«, und sie wirkt dabei, als ob sie dort nicht zum ersten Mal suchen würde. Ich halte mich etwas links davon. Der Raum öffnet sich, wird im Klang weiter, transportiert das Klappern einer Tastatur zu mir. Es riecht nach Klamotten, metallisch, nach Staub und Karton. Ein Sammelsurium. Ich gehe weiter, bis mein Stock klackend anstößt. Plastik auf Holz; ich lege die Hand auf den Tresen.

Das Klappern verstummt.

»Guten Tag, was darf ich für Sie finden?« Die Stimme unterhalb von mir ist jung, der Mann hat eine seltsame Betonung in den Worten. Als ob er heimlich eine Spielshow moderieren würde.

»Ich habe mein Handy verloren, von Samstag auf Sonntag.«

»Das ist ja hochinteressant.«

Hinter mir wird das Klirren und Klappern plötzlich sehr laut und das Fluchen der kleinen Frau geht über in eine Art Knurren.

»Frau Hölzer, bitte, lassen Sie die Schlüsselwand stehen. Kommen Sie morgen wieder.«

Ganz plötzlich ist es still, auch das Tastaturgeklapper verstummt. Hinter mir die Schritte von Frau Hölzer.

»Sie haben meinen Schlüssel«, murmelt sie jetzt direkt neben mir über den Tresen hinweg. Sie ist etwas kleiner als ich und klingt, als ob sie ein Reibeisen verschluckt hätte.

Ich hätte wirklich anrufen sollen.

»Dieser Schlüssel ist hier, ich weiß es sicher. Geben Sie mir den Schlüssel.« Es klingt wie eine Drohung.

»Frau Hölzer, wie Sie sehen, habe ich gerade einen Kunden, einen Suchenden, warten Sie, bis Sie dran sind.«

Während ich mich noch über das Wort Suchender wundere, spricht mich Frau Hölzer an.

»Trauen Sie dem Mann nicht. Er ist verrückt.« Sie packt mich erstaunlich fest mit ihrer kleinen, runzligen Hand. »Ist es wichtig, was Sie verloren haben?«

Eine verdammt gute Frage. »Ja. Irgendwie schon«, beschließe ich.

Sie streckt sich klammernd nach oben zu mir. »Er wird es Ihnen nicht geben. Meinen Schlüssel versteckt er seit sieben Monaten.«

Ich bin in einem Irrenhaus gelandet. Etwas hilflos tätschle ich ihre Hand. »Was für einen Schlüssel suchen Sie denn?«

»Er öffnet die letzte Türe am Ende des Flurs in meiner Wohnung«, sagt sie verschwörerisch. Dann setzt sie ihre Erklärung träumerisch abwesend fort: »Hinter der Türe am Ende des Flures ist ein großes Zimmer. Ich habe es verschlossen, das große Zimmer, in dem mein Herbert früher an seinem Schreibtisch saß und schrieb und arbeitete. Nachdem er gegangen war, beschloss ich, es darin zu lagern; mit all meinen …« Sie unterbricht sich, als ob sie sich selbst ertappen würde. »Was geht Sie das an?« Sie zieht ihre Hand energisch zurück.

»Gar nichts – Sie haben mir das doch erzählen wollen.«

Es entsteht eine seltsame Stille. Der Mann vor mir steht auf. Seine Stimme ist nun anders, als ob er einen Gangster imitieren würde.

»Sie sollten vorsichtig sein, wen Sie beschuldigen, Frau Hölzer. Wenn Sie denken, Ihr Schlüssel ist hier, dann suchen Sie ihn. In der Kartei ist er nicht. Und nun gehen Sie zurück zur Schlüsselwand, oder gehen Sie nach Hause.«

Frau Hölzer schnaubt. Dann entfernt sie sich schlurfend. Das Klirren setzt, zusammen mit dem leisen Fluchen, wieder ein. Ich beuge mich etwas näher zu dem jungen Mann vor mir.

»Was ist hier eigentlich los?«, sage ich irritierter, als ich zugeben möchte.

»Nichts. Das ist Frau Hölzer. Sie ist vor sieben Monaten hier hereinmarschiert und sucht seitdem diesen Schlüssel zu der verschlossenen Türe in ihrer Wohnung. Manchmal holt sie ihr Sohn ab. Wenn es zu schlimm ist oder sie nicht gehen will, wenn wir schließen.«

»Aha.« Mehr fällt mir dazu nicht ein. »Hören Sie, ich muss mein Handy wiederfinden.«

Er lässt sich schwungvoll auf seinen Sessel fallen, die Plastikrollen schleifen billig über das Linoleum.

»Natürlich – heute suchen wir: das Handy!« Er hat jetzt wieder seine Showmasterstimme. Ich bin mir nicht sicher, wer von den beiden den größeren Dachschaden hat. »Ist es neu, groß, bunt, dunkel – oder anders gesagt: Können Sie mir sagen, von was für einer bestechend tollen Marke Ihr Handy ist?«

»Ähm …«

»Eine prä–zi–se Beschreibung ist notwendig. Ich erkläre die Regeln: Vor Ihnen, da ist der Tresen, dahinter sitze ich und ich sitze: vor einem Computer. Alles was wir finden, das wird in einer Datenbank in dem Computer verzeichnet, mit besonderen Merkmalen beschrieben und daraufhin im Keller in einem Lagersystem abgelegt und mit einer Zahlen-Buchstaben-Kombination versehen. So kann es wiedergefunden werden.«

»Ich bin ja nicht blöd«, schnappe ich.

»Das habe ich auch nicht gesagt – nur: Ich kann für Sie nichts finden, wenn Sie mir nichts beschreiben. Und ich kann nur anhand der Merkmale, der besonderen Merkmale, feststellen, ob das Ihr Handy ist, oder Sie sich nur eines unter den Nagel reißen wollen.« Den letzten Teil sagt er theatralisch, als ob er jemand anderen nachahmen würde.

»Willst du mir sagen, dass ich hierherkomme, um mir ein Handy zu besorgen?«, frage ich entgeistert.

»Das ist die Sorge von der Verwaltung und eher allgemein gemeint als auf dich bezogen.« Seine Stimme ist plötzlich wieder normal. Mein versehentliches Zum-Du-Übergehen rückt uns plötzlich näher. Als ob er mich schon mal gesehen hätte – und seitdem nicht leiden kann.

»Mein Handy, das ich Scheiße noch mal am Samstag oder Sonntag verloren habe, ist total billig und alt. Das größte Merkmal ist, dass da eine Telefonnummer drauf ist, die unersetzbar ist.«

»Welche Farbe?« Er klingt irgendwie seltsam dabei. Ich muss ziemlich doof dreinsehen, denn er setzt nach: »Das Handy, nicht die Telefonnummer.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder?«

»Doch. Klar. Hast du eine Vorstellung davon, wie viele Handys da unten im Keller liegen?«

»Ich weiß die Farbe nicht«, schnauze ich.

»Warum nicht?«

»Weil ich blind bin!«

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ziemlich laut geworden bin, während er immer noch ziemlich ruhig ist. Und dass seine Antworten in eine Richtung seltsam klingen, die ich einfach nicht benennen kann.

»Das heißt ja noch lange nicht, dass du nicht weißt, welche Farbe dein Handy hat«, sagt er trocken.

Scheiße, der Verrückte hat gar nicht so unrecht.

»Ich glaube, es ist schwarz. Und es hat eine Sprachsoftware drauf, sonst könnte ich es nicht benutzen.«

»Das könnte eine laaaaaange Suche werden.« Die Betonung des Wortes lange macht mich schon wieder wütend. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass der Kerl vor mir zu viele Spielshows, Filme und Serien angesehen hat.

»Egal wie laaaaange du suchst: Ich brauche das verdammte Handy«, entgleitet mir wieder die Stimme. Meine jähzornige Seite wird von diesem Typen mit Leichtigkeit hervorgezaubert.

»Das hört sich nach einer lebenswichtigen Nummer an. Aber ich kann nichts tun, wenn ich nicht ein paar Merkmale habe.«

Das nimmt mir den Wind aus den Segeln. »Es ist von Nokia«, sage ich kleinlaut.

»Na, damit hätten wir das Ganze schon mal auf fünfunddreißig Stück eingegrenzt! Ich hoffe, dein Tastsinn ist so gut, wie es die Mythen über Blinde erzählen. Ich gehe in den Keller und hole sie.«

Ich höre, wie er sich auf dem Drehstuhl umdreht, aufsteht und sich langsam schlurfend entfernt, während das Geklirr und Gefluche im Hintergrund gefährlich anschwillt.

»Halt, warte, mir ist was eingefallen«, hebe ich den Kopf rufend. »Es müsste mit den Sachen von den Jungs aus dem K4 abgegeben worden sein.«

Ich kann den Schwung richtig hören, mit dem er sich umdreht.

»Das hört sich doch ganz danach an, als ob unser blinder Freund mit scharfem Blick uns dem Erfolg ein bisschen näherbringt.« Es hört sich nicht an, als ob er mich verschaukelt, eher wie gelernter Text. Er springt auf seinen rollenden Bürostuhl auf, wie ich das nur bei Pferden und meinem alten Motorrad gemacht habe, und fängt wie wild an, in die Tasten zu hacken.

Es vergeht für mich eine Ewigkeit.

Die Mühle in meinem Kopf dreht sich wieder um sie. Ich merke, dass ich grinse. Das muss ziemlich grenzdebil aussehen – grinsdebil.

»Nein, tut mir leid. Kein Handy dabei«, reißt mich seine lakonische Feststellung aus meinem Gedankenkarussell.

Meine Schultern hängen, mein Grinsen ist verschwunden. Erwartungen tragen einen immer schön hoch, bis man tatsächlich so tief fallen kann, dass man sich auf jeden Fall die Fresse blutig schlägt.

Er muss hinter dem Tresen meine Enttäuschung sehen.

»Tut mir leid, ich hätte wirklich gerne geholfen.«

Mir fällt darauf nichts ein.

»Willst du deine Mailadresse oder Telefonnummer hierlassen? Ich würde dir Bescheid geben, falls doch noch was auftaucht.«

Irgendwie nett. Ich winke ab. Die Vorstellung, dass der Spielshow-Fund-Master meine Nummer hat, ist eher abschreckend als hilfreich.

Ich drehe mich um und lasse den Stock die Vorarbeit machen. Links von mir ist immer noch das Fluchen und Klirren zu hören. Ich mache die zwei Schritte weiter, in Richtung der Türe, der Raum wird hier kleiner und dumpfer.

Eine Idee hält mich zurück. Mich an »Scheiße« und »Arschloch« orientierend drehe ich mich in Richtung der Schlüsselwand, die sich, dem Klirren nach zu schließen, über mehrere Meter erstreckt.

»Frau Hölzer?«

»Ja? Ah, der blinde Mann ohne Telefon.« Niemand, der normal ist, spricht dieses Merkmal in meiner Gegenwart so aus. Und trotzdem klingt sie klarer, jünger. Was für ein Irrenhaus.

»Hören Sie, mich geht Ihr geheimes Zimmer nichts an. Aber ich habe einen Vorschlag für Sie.«

Das Klirren hört auf. Sie macht einen Schritt auf mich zu.

»Kennen Sie den Bahnhof?« Ich sage es verschwörerisch und hoffe, mich so mit ihr zu verbünden.

»Jaja, natürlich.« Frau Hölzer kommt trippelnd etwas näher.

»Dort ist unten, neben dem Gemüsestand, im Durchgang zur Passage, ein Schlüsselmacher. Verlassen Sie diesen Raum hier, der ist nicht gut für Sie.« Ich strecke meine Hand aus und finde ihre dünne Schulter, an der ich sie sanft berühre. »Ich weiß, dass der Herr, dem der Laden gehört, sehr nett ist und auch, ja, so eine Art Hausbesuch macht. Der kommt zu Ihnen, besieht sich das Schloss und macht Ihnen einen neuen Schlüssel. Dann können Sie wieder in den Raum hinein.«

»Aber er hat meinen Schlüssel geklaut«, flüstert sie mir entgegen.

»Das glaube ich nicht, er ist nur ein bisschen … seltsam. So wie Sie«, lächle ich.

Sie sagt gar nichts. Sie steht nur vor mir.

»Das wird schon wieder«, sage ich noch, weil mir nichts Besseres einfällt.

Schlagartig wird mir bewusst, dass ich hier bin, in einem Raum, den ich nicht kenne, am anderen Ende der Stadt – also fast –, und dass die Umgebung hier diesen verzerrten, leicht irrsinnigen Bleigeschmack hat.

Ich muss hier weg.

Ohne ein weiteres Wort, aber irgendwie mit dem Gefühl, das Richtige zur verzweifelten Frau Hölzer gesagt zu haben, drehe ich mich um und kann die Richtung der Türe ausmachen, weil sie gerade aufgeht. Lederjacken knarzen, an mir vorbei gehen zwei Typen. Einer riecht nach Pomade und langer Nacht, der andere trägt schwere Stiefel und macht satte, bedrohliche Schritte. Die beiden gehen an mir vorbei zum Tresen.

Es scheint jetzt absolut sicher, dass es gleich Ärger geben wird.

Vielleicht klaut der Typ hinter dem Tresen wirklich Sachen, und die beiden sind da, um ihm dafür ordentlich eine zu verpassen. Ich mache, dass ich durch die sich schließende Tür hinaus auf die Straße komme. In mir dreht und wirbelt sich alles durcheinander. Das Zentrum, das Auge des Zyklons, ist die Enttäuschung.

Kein Handy – keine Nummer – kein Date.

Die Türe fällt hinter mir klappernd ins Schloss. Ich atme kurz durch, krame in meiner Tasche und ziehe eine Kippe hervor. Irgendwie werde ich schon an ihre Nummer rankommen. Ich versuche, ruhig zu werden und durchzuatmen, ziehe und schmecke den Rauch. Es ist kühler geworden, der Abend senkt sich über die Stadt. Von der Hauptstraße dröhnt der Feierabendverkehr und der süßlich-strenge Geruch der Abgase legt sich über die feuchte, frühabendliche Luft.

Und dann löst sich meine Ruhe auf. Selbst wenn ich an ihre Nummer herankomme – in dem verdammten Scheißding sind über vierhundert Kontakte gespeichert. Kontaktmöglichkeit zu Freunden rund um den Globus, Bekannte, meine Geschäftskontakte, Wildnisschule, Presse, Patienten – alles weg.

Die Ruhe ist dahin. Ich taste mit dem Stock nach vorne.

Und mir ist sofort klar, dass ich die Orientierung verloren habe.

Die Scheißorientierung geht im Lärm unter, der vorher nicht da war. Oder die Enttäuschung darüber, dass im verdammten Fundbüro nur Verrückte waren, aber kein Handy, vernebelt mir den Kopf. Das ist etwas, das mir auch in anderen Situationen auffällt. Ist mein Kopf voll, ist kein Platz für Orientierung. Ich werde dann verwirrt von mir selbst, laufe tapsiger, als ich das sonst tue, nehme die Zeichen der Umgebung schlecht oder zu spät wahr.

Ich mache einen halben Schritt, den gleichen zurück, drehe den Stock in die andere Richtung. Die Spitze meines Stabes geht ins Leere; Bordsteinkanten erkennt man an der rauen Oberfläche. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich von rechts oder von links kam. Dem Lärm nach zu urteilen, ist rechts von mir, in ein wenig Entfernung die Hauptstraße, auf der es gerade hupend und röhrend zur Sache geht. Okay, ruhig bleiben, sich erinnern, von wo man kam. Das Taxi hatte auf der anderen Straßenseite gehalten, deswegen hatte mich der Fahrer zur Tür gebracht, er meinte, man könne mich nicht alleine über die Straße gehen lassen.

Die Straße vor mir kann ich überqueren, da scheint es ruhig zu sein. Ich mache die Schritte vor und laufe los. Mein Stock rattert über den schlecht in Schuss gehaltenen Teer.

Nach einige Schritten stößt mein Stock an die dumpf tockende Oberfläche eines Autoreifens. Ich bewege mich seitlich dazu. Schräg hinter mir wird Motorengeräusch lauter und hält dann an. Das setzt mich unter Druck, und ich schlage mir das Knie hart am Kühler des parkenden Autos an, während ich es seitlich watschelnd umrunde. Mein Kopf glüht.

Das Auto fährt heulend an und entfernt sich, um sich in den Lärm der Hauptstraße einzubringen.

Jetzt habe ich die Straße überquert. Das löst mein Links-Rechts-Problem aber nicht. Nicht mal ein bisschen.

Früher wäre ich bestimmt verzweifelt darüber. Es ist das Gefühl, gestrandet zu sein. Die Informationen, die ich von meiner Umwelt bekomme, werden plötzlich punktuell und haben nur noch eine Reichweite von zwei Metern. Wie ein verhungernder Ballwurf. Ich bin aufgeschmissen, weil ich keinen Orientierungspunkt mehr ausmachen kann. Je bewusster ich suche und krame, desto schlimmer wird es.

Es gibt nur noch eine Sache, die hilft. Und die habe ich nicht; jetzt bin ich auf Augen angewiesen. Wie mir das auf den Sack geht.

Ich stelle den Stock auf, senkrecht neben mir, hake meinen rechten Daumen im Gürtel ein und bleibe ruhig stehen. Reflexartig greife ich in meine Jackentasche, um mir von meinem Handy die Uhrzeit sagen zu lassen – ich verfluche mich. Wie gesagt, früher wäre es jetzt die Zeit gewesen, in gackernde Panik zu verfallen. Heute schäme ich mich nur ein bisschen. Das erste Mal überwand ich diese Panik und die Scham in Heathrow, am Flughafen. Dort saß ich auf einem Koffer und fragte mich, wie zum Teufel ich dahin gekommen war.

Alles hatte mit dem einem Fluchtgedanken begonnen. Weg aus Deutschland. Nicht für immer; aber für so lange, dass es fast für immer wäre. Oder zumindest so dauerhaft. Am besten für immer mit kleinen Unterbrechungen. Ich wollte weg. Um etwas Sinnvolles zu tun. Um irgendwo in der Entwicklungshilfe zu arbeiten oder auf einem Bauernhof. Oder auch, um einfach nur weg zu sein.

Es war auch der ideale Zeitpunkt für solche Wünsche.

In den Jahren davor hatte ich schon verschiedene Länder bereist. Immer auf Achse, immer mit Angst im Gepäck. Und vor allem immer mit Frauen. Einmal, nachdem sich Tanja einfach während unserer Reise durch Gran Canaria von mir getrennt hatte, heulte ich den ganzen Rückflug über. Vielleicht gar nicht so sehr wegen ihr. Also nicht wegen ihr im Speziellen. Ich war überzeugt davon, dass die beschissene Maschine abstürzen würde. Jeden Moment würde ich mit sechshundert Stundenkilometern auf dem brettharten Meer in Einzelteile zerschreddert werden. Und das auch noch alleine. Also nicht physisch, sie saß ja noch neben mir, denn ob getrennt oder nicht, sie musste oder wollte ja auch wieder zurück. Aber ich würde ungeliebt verrecken und meine einsamen Reste würden von den Fischen gefressen werden.

Es geht dabei um ein universelles Gefühl, das ich kenne. Es steht nicht unmittelbar und jeden Tag im Vordergrund, aber es begleitet mich, wie ein Beigeschmack, der darauf wartet, sich auszubreiten. Der auf die richtige Gelegenheit wartet zu wachsen. Und dich schließlich zu überwältigen. Wie zum Beispiel, wenn sich deine Freundin während des gemeinsamen Urlaubs von dir trennt, dann ist es da. Das Gefühl, abgeschottet zu sein. Und es übernimmt das Ruder.

Damals, kurz vor Heathrow, bevor ich am Auswandern gehindert wurde, um etwas ganz anderes zu entdecken, da war nicht irgendeine Beziehung zwischen Gran Canaria und der Oberpfalz in die Brüche gegangen. Da war eine Reise zu Ende gegangen. Die Kurzfassung der Reise geht so: Man denkt, dass man die Frau fürs Leben gefunden hat. Und ordentlich nach den katholischen Riten erzogen wird geheiratet. Und dann fremdgevögelt. Und sich dann geschieden.

Ich war also alleine und hatte die Schnauze gründlich voll. Ich war siebenundzwanzig geworden und hatte diese Zeit auch gebraucht, um mich auf eigenen Füßen zu spüren. Und um zu merken, dass jetzt endlich auch der Zeitpunkt war, das Dorf, aus dem ich komme, hinter mir zu lassen. Zu dieser Zeit hatte ich ja schon einige Jahre nicht mehr zu Hause gewohnt. Durch das Internat hatte ich mein Elternhaus immer nur an den Wochenenden genießen dürfen. Immer nur kurz etwas zu haben, wonach man sich sehnt, das macht die Sehnsucht nur noch größer, und so war der Hof zum Zentrum meiner Welt geworden. Das kleine, sich an den Hang schmiegende Kaff war immer der Nabel meines Universums.

Das begann sich nach der Trennung zu ändern. Und wenn schon, dann eben richtig. Also richtig weg. Dachte ich damals jedenfalls. Also große Pläne und Schaumschlösser.

Mein Freund Michl brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück und riet mir nach zwei Flaschen Wein, mal die Eier in die Hand zu nehmen und erst mal ordentlich Englisch zu lernen. Bevor man alles abreißt und für immer fortgeht, könnte man ja erst mal zwei Wochen ausprobieren.

Alles Punkte, mit denen er nicht unrecht hatte. Trotz gebrochenem Herzen und wilden Träumen im Schädel hatte ich meinen Verstand nicht komplett verloren. Ich plante also eine Reise nach England. Damals noch ohne Internet und mit der Unterstützung der Boxen, aus denen in Schleife die Kooks in typischer Insel-Indie-Rock-Manier ein wenig weinerlich, aber wunderschön rockten. Dahin wollte ich, dahin, wo diese Jungs herkamen. Ich war so aufgeregt, dass sich vor der Reise meine Nebenhöhlen so sehr entzündeten, dass sie mindestens auf die Größe meines Kopfes anschwollen. Jetzt hatte ich zwei Köpfe und beide waren stur genug, sich nicht aufhalten zu lassen.

So landete ich also in Heathrow.

Wenn man blind ist, dann kümmert sich die Fluggesellschaft ganz besonders. Nachdem sich mit großem »Bis bald!« und »Pass auf dich auf!« verabschiedet wurde, brachte man mich ins Flugzeug. Trotz meiner schmerzenden Stirn war der Flug entspannt gewesen, gut, irgendwie ein Aufbruch im besonderen Sinne. Nach der Landung wurde ich an der Schwelle nach England an einen freundlichen Mitarbeiter übergeben. Den verstand ich auch recht gut. Das beruhigte mich. Obwohl er das auch gar nicht gemusst hätte, brachte er mich zu der Bushaltestelle, an der mein Bus nach Oxford fahren sollte. Ich hatte eine Gastfamilie. Meiner Mutter hatte ich erzählt, dass die Sprachschule, wo ich zwei Wochen lang mein Englisch aufpolieren wollte, nur zwei Häuser weiter sei. Das war mittelprächtig gelogen. Tatsächlich musste ich mehrere Busstrecken, also mit Umsteigen, nutzen, um von dem Haus der Gastfamilie in die Schule zu kommen. Mit dem Bus musste ich jetzt auch fahren. Die Gastfamilie sollte mich an der Bushaltestelle in Oxford abholen.

»Sänk ju, gudbei«, verabschiedete ich mich von dem freundlichen Herrn der Fluggesellschaft. Dann saß ich auf meinem Koffer. Aus der Brusttasche meiner Jacke suchte ich eine Kippe und hoffte, mit warmem Rauch die Situation erst einmal zu überlagern zu können. Klickend sprang das Feuerzeug an, und ich lenkte, indem ich Daumen und Zeigefinger an der Spitze der Kippe hielt, die Flamme an den richtigen Punkt. Saugte den Rauch ein. Atmete aus. Und bemerkte, dass es ziemlich still war. Sicher, man hörte Autos, und ein Stückchen entfernt konnte ich durch die sich öffnenden Schiebetüren hindurch in unregelmäßigen Abständen das geschäftige Treiben des Flughafeninneren hören. Durch die schwere Luft zog sich immer wieder das Röhren startender Flugzeuge.

Aber um mich herum, in meiner Nähe, hörte ich niemanden.

Keine Stimmen, keine Gespräche, kein Geraschel.

Ich saß alleine auf meinem Koffer, um einen Bus zu bekommen, den ich nicht sehen konnte. Von dem auch niemand wusste, dass ich ihn bekommen wollte. Mich also auch nicht darauf hätte hinweisen können. Genauso gut hätte ich auf einer einsamen Insel darauf hoffen können, mein rettendes Schiff zu entdecken.

In solchen Momenten wird mir klar, dass ich auf eine ganz speziell beschissene Art von der Welt getrennt bin. Manches entgeht mir einfach. Manche Informationen, Zugänge, Möglichkeiten sind einfach nicht da. Und sind auch nicht alleine zu kompensieren.

Ich saß auf meinem Koffer und spürte, wie sich kühl und schleichend die Panik in mir breitmachte. Damals waren es noch viel mehr die murrende Stimme meines Vaters und die lächelnde Art meiner Mutter, die in mir sprachen, zu mir sagten: »Das ist nichts für dich, das habe ich ja gesagt!«

Während ich vor mich hin fluchte, mich verfluchte für diese beschissene Idee, fühlte ich deutlich, dass es jetzt verdammt nochmal um eine Entscheidung ging. Ich konnte entweder in Tränen ausbrechen und festlegen, dass ich einfach nicht fähig war, alleine zu reisen. Oder darauf vertrauen, dass es einen Weg geben würde, immer.

Während ich noch so hin und her überlegte, hörte ich das schwere Schnaufen des Busses. Und plötzlich war eine Stimme neben mir.

»Excuse me, which direction are you waiting for?«, fragte ein junger Mann.

»Oxford«, brachte ich gerade so heraus.

»All right, here you go.«

Die helle Männerstimme hatte schlanke Finger, mit denen der junge Mann mich jetzt zum Bus brachte. Der Bus roch warm und nach Polster und der Busfahrer sagte mir, dass er mir sofort Bescheid geben würde, wenn die richtige Haltestelle erreicht sei.

Ich setzte mich neben die helle Männerstimme. Als sein Handy vibrierte, konnte man dumpf durch seine Hosentasche Luke singen hören: »Do you want to see the world? Do you want to see the world? Do you want to see the world in a different way?« Der Song wurde unterbrochen, als er das Gespräch entgegennahm. Aber in meinem Kopf, da lief der Song weiter. Schrammelnd und jauchzend schraubte sich der Song vorwärts, während der Bus seinem Ziel entgegenrollte und mich durch England chauffierte.

Meinem Ziel entgegen, mich für Weltreisen und Reißaus nehmen vorzubereiten.

Meine Nebenhöhlen waren während der einstündigen Busfahrt wie von selbst abgeschwollen. Ich atmete tief ein. Hinter mir fuhr der Bus an, ich stand in der warmen Sonne, es roch leicht nach Stadt, die Vögel jubilierten. Ich hatte eine volle Ladung Euphorie abbekommen und winkte dem für mich unsichtbaren, aber hörbar schnaufenden Bus hinterher. Das lief alles ziemlich gut.

Eine kleine, etwas knubbelige Hand legte sich auf meinen Arm.

»You must be Johann, how nice to meet you.« Seine Stimme hatte ein leichtes Zittern, als ob er innerlich vibrieren würde, als wäre er furchtbar unsicher. Und mein Name klang eher wie »Jowhänn«. Nach der Begrüßung sprach er außerdem schnell, die Wörter zu einem langen, atemlosen Brei zusammenziehend. Ich verstand kein Wort. Aus seinem Mund roch es nach totem Tier. Ebenso vibrierend und schnell nahm er mich am Arm und brachte mich nach Hause.

Das kleine Häuschen, in dem die beiden wohnten, hatte ein wenig Rasen davor und war warm und herzlich wie seine Frau, der ich dort begegnete. Reihenhaussiedlung auf Britisch. Dass sie besser zu verstehen war als ihr Mann, beruhigte mich ein wenig. Irgendwie absurd war dabei, dass die kleine Lady im englischen Haus zwei künstliche Hüften hatte, und als ich meinen Hintern das erste Mal auf die Schüssel setzte, baumelten meine Beine in der Luft. So auf dem Wasserklosett für Menschen mit besonderen Bedürfnissen dachte ich darüber nach, was wohl ein Behindertenscheißhaus für Blinde sein könnte und musste lachen.

So kam also der blinde Physiotherapeut nach England und landete bei therapiebedürftigen Menschen.

Und zwar sehr netten Menschen. Ich bewohnte das Zimmer der mittlerweile ausgezogenen Tochter, das die beiden an Gaststudenten vermieteten.

Gast und Student, das war ich in Oxford. Bei der Familie war ich echter Gast, wurde betüddelt und bekocht. Das kann in England ja durchaus etwas anstrengend sein, aber die Dichte an Chips und Frittiertem hielt sich in Grenzen. Und der Rest war so, wie ich mir zumindest vorstelle, dass ein Studentenleben sein muss. Das mag ein bisschen klischeebeladen sein, aber da ist niemand gefeit vor.

Vier Stunden am Tag hatte ich Englischunterricht. Die übrige Zeit verbrachte ich mit fünf Menschen, die ich dort kennen lernte, meiner UK-Clique:

Da war die hübsche Koreanerin, die mit ihrem spitzen Lachen schnell mein gebrochenes Herz eroberte. Sie war witzig, wahnsinnig intelligent und mir an Fleiß und Charme haushoch überlegen. Ich stolperte in Internatsgewohnheiten und war schon wieder verknallt. Dann gab es einen Sportlertypen aus Heidelberg, der schneller die Nummer der Koreanerin hatte, als ich bis drei zählen konnte. Und einen etwas orientierungslosen Südtiroler, der ein wandelndes Musiklexikon war. Das Duo infernale der Truppe aber waren Carlo und Luca. Die beiden italienischen Jungs waren von Italien nach England ausgesandt worden, um die Klischees nicht nur am Leben zu halten, sondern sie für immer in Stein zu meißeln. Nie wieder habe ich so etwas Frauenfixiertes kennengelernt. Jede Frau wurde das Zentrum, um das sich das Streben und Reden und Denken der beiden Jungs mit dem sonnigen Akzent drehte. Außerdem rannten sie in jedes italienische Restaurant, um sich Pasta essend darüber zu beschweren, dass die Briten keine Pasta machen konnten.

Mit dieser Truppe machte ich Oxford unsicher. Von Café zu Pub, von Kneipe zu Konzert ziehend, fühlte ich mich so richtig Kooks, so richtig studentisch. Mit Bier bewaffnet genossen wir die Zeit an der Themse. Am Campus wurde man tagsüber mit Flyern überschüttet, freie Wahl, Musik und Drinks und lange Nächte.

Als das erste Wochenende anstand, beschlossen Carlo, Luca und ich, dass wir zwei Tage in London verbringen mussten. Als ich das meiner Gastfamilie erzählte, freuten sie sich. Die Lady des Hauses drückte mir mit kurzen, knubbeligen Fingern eine Digitalkamera in die Hand und sagte, dass ich Fotos mitbringen soll. Klar, kein Problem. Ich gab die Kamera weiter an Carlo und Luca.

London war ein Trip, den wir irgendwie zwischen Kultur und Absturz hineinorganisierten. Und der eigentlich für mich deswegen wichtig war, weil ich irgendwann am Ende eines Abends mit den Jungs in einem kleinen Rockclub landete, der uns endgültig fertigmachen sollte. Kurz bevor ich wusste, dass es nun schwierig werden würde, ohne Seegang einen Schritt zu machen, saß ich an der Bar. Der Laden dröhnte angenehm über mich hinweg, neben mir flirteten Carlo und Luca mit einer mit den beiden etwas überforderten, aber vom italienischen Flair überzeugten Lady. Ich wandte mich lächelnd von den beiden ab, drehte mich auf meinem Hocker ein und lauschte durch den Lärm hindurch, ob der Barkeeper in der Nähe war.

»Do you want a drink?« Die Stimme schnarrte mit einem Akzent, bei dem R mit einem A ersetzt wurde.

»Yeah sure – if you could catch the barkeeper«, lallte ich selbstbewusst.

»We’ll manage that, bro.«

So lernte ich Greg kennen. Der Typ machte eine dreimonatige Reise durch Europa, quatschte einfach jeden an, und er konnte trinken, als ob es kein Morgen gäbe.

»Everything is in short distance«, erklärte er mir das Europa-Faible der Australier, oder sein eigenes. »You could see eight countries within a couple of hundred miles. That’s why we come to Europe!«

Und noch eine Runde!

»You’re a cool guy, Johann.« Seine Hand schlug erschütternd auf meiner Schulter auf. Und ich musste breit grinsen, denn bei ihm klang mein Name wie »Joe’änn«. »If you ever come to Melbourne, give me a call, man. Here’s my number.«

Oder er sagte Sidney. Oder eine ganz andere Stadt.

Am nächsten Tag fuhren wir entspannt und mit dickem Schädel zurück nach Oxford. In meiner Tasche ein kleiner Zettel mit Gregs Nummer, den ich auch fast verloren hätte.

Das mit dem Verlieren und Finden scheint eine Art Muster bei mir zu sein. Die Dinge fügen sich ineinander. England war eine Art Vorbereitung. Ein erster Schritt, ein erster Zettel – den ich zum richtigen Zeitpunkt wiederfinden musste.

Zurück im kleinen Reihenhaus meiner Gasteltern, wurde ich mit Mittagessen und Tee empfangen. Als ich der Lady des Hauses die Kamera überreichte, war die Freude groß. Mit elektronischem Klicken wurde das Gerät eingeschaltet, um die Schnappschüsse zu begutachten, die ich nie sehen würde. Als wohl die ersten Bilder auf dem Display erschienen, hörte ich, wie die Gastmutter scharf einatmete. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ihr Mann unterdrückte ein Lachen. Jedes Bild war eine besondere Sehenswürdigkeit, die von den Jungs entdeckt worden war. Carlo und Luca waren ihrem Lebenssinn gefolgt. Und hatten Titten und Hintern fotografiert. Dazwischen immer wieder mal eine Brücke, ein Tower, eine Kirche. Aber ansonsten: boobs and butts.

Trotz meines Lachanfalls bekam ich die englischen Worte zusammen, um sie zu bitten, die Bilder trotzdem an meine Familie zu schicken. Aber die Gastmutter weigerte sich verschämt murmelnd.

Die beiden Frauenfixierten habe ich nie wiedergesehen. Sportlertyp und Musiklexikon dagegen haben mich sogar noch einmal in Nürnberg besucht, und wir feierten uns ein Wochenende durch die Bars. Was die spitz lachende Koreanerin heute macht, weiß ich nicht. Ich stelle mir gerne vor, dass sie das Gewissen von Carlo und Luca ist und mit den beiden irgendwo in Italien auf einer Vespa fährt.

Mich hatte diese Reise reich beschenkt; so verabschiedete ich mich mit einem »Thank you, goodbye« und suchte mir mit dem klackenden Stock den Weg in den Bus, der mich zurück zum Flughafen bringen sollte. Drei neue Dinge im Gepäck:

Bessere Englischkenntnisse.

Einen Zettel mit einer Telefonnummer zum anderen Ende der Welt.

Und das Vertrauen in meine Möglichkeit zu reisen.

Denn diese Reise hatte mir bewiesen, dass es geht. Vielleicht deswegen, weil ich das erste Mal alleine unterwegs war. Ohne Frauen, ohne Klassenkameraden oder Kumpels. Weil es ein Testlauf war. Die Panik, die Sorge, die aufwallend sagt, du bist in einem großen Raum, den du nicht ertasten kannst, und deswegen wirst du hier niemals herauskommen, die gibt es schon immer noch. Aber England hat bewiesen, dass es nichts macht, dass die Angst manchmal da ist. Sie stößt mich immer wieder darauf, dass die Welt sehr groß, ich sehr klein, die Welt ziemlich schwierig und ich ziemlich blind bin. Manchmal muss man eben an sich selbst erinnert werden. Aber das ist okay. Jeder kann mal verloren gehen. Auch ich. Und dann muss ich eben die Arschbacken zusammenkneifen und muss verdammt noch mal jemanden fragen. Es geht einfach darum, ein bisschen Vertrauen zu haben. Und zugeben zu können, wenn die Richtung einfach nicht klar ist.

So wie jetzt.

Ich höre etwas langsame, klackende Frauenschritte, die sich in meine Richtung bewegen. Das Klacken kommt auf meine Höhe und ich wende mich ihr zu.

»Entschuldigung«, lächle ich der fremden Person entgegen. »Tut mir leid, dass ich Sie störe. Ich hab’ ein bisschen den Überblick verloren – wo ist denn die U‑Bahnstation?«

Sie bleibt stehen. »Gleich die Straße runter, junger Mann, da können Sie schon das Schild seh…«

»Rechts oder links von mir?«, lächle ich sie an und hebe leicht den Stock.

»Ach Gott, das tut mir jetzt leid. Ich hab’ nicht geseh… also, dass Sie nicht … ich führ’ Sie schnell hin.«

Sie tritt einen Schritt auf mich zu, sehr nah, und ich kann ihr schweres Parfum riechen.

»Nein, das müssen Sie nicht. Kein Problem, nur eine Richtung wäre toll«, sage ich, automatisch einen Schritt zurückweichend.

Ihre weichgecremte Hand greift mein Handgelenk, zwei dicke Ringe bilden kühle Stellen auf meiner Haut. Ihre Hand ist fleischig. Sie hakt sich unter, ihr Arm ist weich und groß und rund und ich kann durch die Berührung ihren Bauch an meiner Seite spüren, ihre Stimme kommt von etwas unterhalb von mir.

»Aber junger Mann, das ist doch ü–ber–haupt kein Problem.« Sie hat nun eine neue Betonung.

Sie dreht sich ohne Vorwarnung um und geht los. Reflexartig lasse ich den Stab nach vorne. Vertrauen ist gut, fühlen ist besser.

»Sehen Sie gar nix?«, ruft sie direkt neben mir.

Sie betont jedes einzelne Wort, als ob ich mich zu allem Übel nicht nur verlaufen hätte, sondern auch noch schwerhörig wäre. Das kann man auch manchmal erleben, wenn ein ganz besonders deutscher Mensch mit einem Menschen kommunizieren muss, der nicht deutsch klingt. Oder ganz besonders anders, also ausländisch im Allgemeinen, aussieht. Dann werden die Worte laut und auf diese ganz spezielle Art betont. Es unterstellt eine Form von Dummheit. Oder Taubheit.

»Ja, gar nix«, erwidere ich.

Ob ich es je schaffen werde, in einer solchen Situation bierernst zu sagen, dass ich sie leider nicht hören kann, weil ich taub bin, da bin ich mir nicht sicher.

»Ü–ber–haupt nix?«, fragt sie silbenhüpfend.

Die Wiederholung ist standardmäßig und gehört dazu. Programmatisch wie Werbung. Das macht man auch mit den National-Andersartigen, ich glaube deswegen wiederholen die auch immer alles. Döner mit Soße?Ja, mit Soße.Mit Soße. Mit Scharf?Ja, scharf.Mit scharf … Und so weiter.

Man erzieht zur Wiederholung. Und wundert sich dann, dass sich alle gegenseitig für dumm halten.

»Nein. Gar nichts«, sage ich zu der Werbewiederholungsfrau.

Danach ist es ein bisschen still. Ich bin zu stur, um mehr zu erzählen, sie hat ja auch nach nichts gefragt. Also bekommt sie auch gar nichts. Sie bringt mich zum Eingang der U‑Bahn, ich bedanke mich und lächle in ihre Richtung. Sie sagt mit Freude in der Stimme: »Schönen Tag noch!«

Es klingt nach einer guten Tat.

»Ihnen auch«, murmle ich, mich von der guten Tat wegdrehend, und spüre, wie die runde Spitze meines Stockes auf die geriffelte Oberfläche der Rolltreppe trifft. Über die Rolltreppe gelange ich zum U‑Bahnsteig. Ich mache zwei Schritte links von der den Stock zurückstoßenden Oberfläche und stehe in der Mitte. Hier bin ich sicher und kann auf die U‑Bahn warten.

Je länger ich an solch einem Ort stehe und warte, umso höher die Wahrscheinlichkeit, von jemandem angesprochen zu werden. Vor allem, wenn Feierabend ist. Also wenn viel los ist, die Menschen oder Leute nichts mehr zu tun haben, das sie in Zeittaktung zwingt. Da steht dann der Mann, dessen herausstechendstes Merkmal an dem Stock erkennbar ist. Er, der Blinde, steht da.

Ob man durch rumstehen hilflos wirken kann, da bin ich mir nicht sicher. Aber irgendwie scheint es so, als ob ich über die Jahre einfach nicht die richtige Haltung gefunden habe, die sagt: Ich warte hier, alles ist gut.

So wie man den Soßengeber zur Wiederholung erzogen hat, ihn zum Ausländer erzieht, so kann man auch jemanden zum Behinderten, zum Blinden erziehen. Deswegen ist er nicht mehr oder weniger behindert. Aber er oder sie wird diesen ganz besonderen Status erhalten. Im besten Falle wird dieser Status als Aufforderung verstanden, den scheinbar Hilfsbedürftigen, laut und deutlich anzusprechen. Im schlimmsten Falle wird die Person angefasst, am Arm, der Schulter, der Hand.

Mir passiert das häufig.

Und obwohl ich nicht dabei bin, mich vor die U‑Bahn zu stürzen, um mein blindes, nichtsnutziges Dasein zu beenden, fasst dann eine Frau mit schlanken Fingern um meinen Arm. Oder die kräftigen, dicken Finger einer älteren Dame berühren meine Hand. Die prankenartigen Hände eines Mannes landen auf meiner Schulter. Kleine Hände, große Hände, dünne, kumpelhafte, dicke, schlanke, lange, zarte, schwitzige, behaarte oder glattgecremte, in jedem Fall fremde Hände.

Alle in einem Reigen aus unterschiedlich gearteter Menschenliebe, die die Stimme der Person vorbereiten. Die Stimmen formulieren, die Hand an mir, besorgt, liebevoll oder kumpelhaft, im Sozialarbeiterjargon oder nüchtern, wichtigtuerisch oder einfach nur unsicher Fragen an mich:

Kann man helfen?

Hey Mann, brauchst du Hilfe?

Geht’s dir gut?

Brauchen Sie Hilfe?

Sind Sie blind?

Hallo, brauchst du was?

Na, alles roger?

Oft wäre ich wirklich aufgeschmissen ohne Hilfe. Ohne Menschen, die kein Problem damit haben, einen erwachsenen Mann am Arm zu führen. Stufen anzusagen. Mich zur Toilette zu führen. Oder mich für jeden Scheiß abzuholen.

Wenn ich wirklich an fremden Orten bin und nicht über meinen verdammten Schatten springen kann, dann war ich immer wieder froh, angesprochen zu werden und Hilfe angeboten zu bekommen.

Aber die vielen Hände machen mich manchmal so wütend, dass ich die Leute gern anschnauzen würde. Oder zurückfragen möchte, ob sie jemanden brauchen, um zu warten. Ob ich verzweifelt auf sie wirke, oder warum ich zur Hölle als Quotenbehinderter für die gute Tat herhalten muss.

Von solchen Gedanken wird mir leicht schlecht und ich schäme mich in mich hinein.

Hin und wieder kann ich mich nicht beherrschen, wische die jeweilige Hand weg. Es ist vor allem das Anfassen. Irgendwie ist mir auch immer noch nicht klar geworden, warum ich angefasst werde, ich höre die Leute ja, wenn sie mich ansprechen. Und ich habe noch nie gedacht, dass da gerade ein wirklich netter Mensch den Blinden neben mir anspricht und Hilfe anbietet. Auch wenn ich nicht angefasst werde, ist mir klar, dass ich gemeint bin.

So ähnlich wie die Frau vorhin wiederholend und be–to–nend gesprochen hat, so ist das Anfassen auch etwas, das einen kategorisiert. Kein normaler Mensch fasst einfach einen anderen, fremden Menschen an. Wenn man auf solche Gedanken kommt, ist man normalerweise ziemlich betrunken oder hält sich für unabkömmlich mit seinen siebzehn Jahren und kassiert dann eine saftige und berechtigte Maulschelle. Denn es dringt ungefragt in die Privatsphäre eines fremden Menschen ein. Obwohl mir jetzt noch niemand am U‑Bahnsteig an den Hintern gefasst hat und es bei mir ja nicht um sexuelle Belästigung geht. Was mich wütend macht, ist, dass ich zu behindert bin, um eine Privatsphäre zu haben.

Aber es bleibt dabei, dass ich mich zu Recht schlecht fühle, wenn ich so denke. Zugegeben, mir ist auch schon der eine oder andere dumme, unfreundliche Scheißspruch rausgerutscht. Irgendwer hat mir mal erzählt, dass vor allem Blinde so reagieren: Lass mich, ich kann das. Keine Ahnung, ob das stimmt. Es tut mir für die Menschen leid, die über ihren Schatten gesprungen sind, sich dachten, Hey, vielleicht ist da was im Argen, und mich angesprochen haben und wegen meiner Abfuhr vielleicht nie wieder helfen. Weil der Blinde am Bahnsteig die Hand weggewischt hat und gefragt hat, ob ihm wieder jemand das Schild mit der Aufschrift

HILFE!

ICH BIN BLIND

UND WEIT WEG VON ZU HAUSE

umgehängt hat, wird er jemand anderen der Vorsicht halber ignorieren. Jemanden, der ihn auch so anschnauzen könnte. Jemanden, der Hilfe bräuchte. Und der keine bekommt, weil ich Vollarsch meinen Ich-kann-das-Finger-weg-Trip hatte.

Diese Art von Trip hatte ich schon immer. Meine Mutter erzählt, dass ich schon als kleiner Junge einen furchtbaren Dickschädel hatte. Und natürlich alles selber machen wollte. Um diesen Drang in sich zu haben, die Welt entdecken zu wollen, Geschwindigkeit und Höhen und Tiefen und Grenzen austesten und erfahren zu wollen, dafür muss man nicht sehen. Aber es stellt eine ganz bestimmte Bedingung, wenn dieser Drang da, das Sehen aber fort ist.

Meine ältere Schwester hat einmal gesagt, dass alles einen Sinn hat. Wenn ich sehen würde, meinte sie, dann wäre ich keine fünfunddreißig geworden, weil man mich dann mit achtzehn vom nächsten Baum hätte kratzen müssen, gegen den ich mit dem Motorrad gekracht wäre.

Na ja, wer weiß, Sinn oder Nicht-Sinn – der Sinn »Sehen« fehlt auf jeden Fall. Ein Körnchen Wahrheit kann da schon dran sein.

Das alles rattert durch meinen Kopf, während ich auf die U‑Bahn warte. Heute fasst mich niemand an. Ziemlich alleine stehe ich am Bahnsteig, bis die U‑Bahn Wind und dieses Pfeifen vor sich hertreibend einfährt. Ich gehe nach vorne, bis die rauen Linien unter meinen Füßen sind und folge meinem Stock über den schmalen Abgrund in den Wagon. Von der U‑Bahn sanft geschaukelt, lasse ich mich durch den Untergrund wieder zurück in bereits erschlossenes Terrain bringen und beschließe schon auf dem Weg, nicht nach Hause zu gehen.

Ich habe keine Lust auf die Stille in meiner Wohnung.

An meiner Haustüre vorbei gehe ich vom Tocken des Stockes begleitet die Straße hinunter, überquere sie geradeaus und komme im Engel an. Seitdem ich hier im Viertel wohne, hat er sich zu meiner Stammkneipe gemausert. Ein guter Ort, wenn man zu faul zum Kochen ist oder einfach ein bisschen Gesellschaft und ein kühles Bier sucht.

Über den knirschenden Kies durchquere ich den kleinen Biergarten und betrete den langen Raum, den ich so gut kenne. Das Stimmengewirr ist klein, unterlegt von Musik. Es riecht nach Gastfreundlichkeit. Den hohen Tresen links von mir lassend, gehe ich an den kleinen Tischreihen rechts von mir entlang, ein Stückchen in den Raum hinein.

»Hallo Hansi. Was treibt dich denn hierher?« Heikos runde, tiefe Stimme kommt vom Tresen.

»Der Stock«, sage ich grinsend und ertaste mir einen Hocker am Tresen neben ihm.

Die Gesellschaft von Heiko ist jetzt genau das Richtige. Mit ihm ist man nicht alleine, aber irgendwie auch nicht verpflichtet. Heiko geht auf die Sechzig zu. Er ist ein großer Mann, wirkt in seiner Art etwas einfach und bieder, ist aber eigentlich ein belesener Typ. Ein versteckter Arbeiterintellektueller oder so. Seine alte Schlosserwerkstatt um die Ecke hat er noch von seinem Vater geerbt, eine Sache, die immer seltener wird, aber gut zu ihm passt.

»Siehst müde aus«, nuschelt er in seinen Bart.

»War ein anstrengender Tag.« Ich rücke mich auf dem Hocker zurecht und lege die Arme auf den Tresen.

Er nimmt einen tiefen Zug und stellt den Krug vor sich ab.

»Servus Hansi, Bier? Magst was essen?« Tinas Stimme kommt von hinter dem Tresen, das Gemurmel der Gäste mühelos überflügelnd.

»Ja, irgendwas mit viel Soße«, nicke ich ihr zu.

»Der Heiko kann dir ja vorlesen, was es gibt«, sie grinst, das kann ich hören.

»Ach was, Tina, das machst du doch viel schöner. Wir könnten deiner Stimme den ganzen Abend zuhören, wie du von Schweinebraten und Lamm und Bratkartoffeln und Klößen säuselst.«

Tina liest mir vor, das tut sie gerne. Ich bestelle und nehme ein Bier dazu. Heiko und ich essen zusammen. Wir sprechen kaum, während wir essen, nur ab und zu ein paar kurze Sätze, das ist schön. Am Ende legt mir Tina einen großen Stapel Papierservietten hin. Es ist ein bisschen wie zu Hause.

»Sag mal Hansi, du warst doch schon viel unterwegs. Ist es schwierig zu reisen?«, fragt Heiko nachdenklich.

Ich weiß, dass er das nicht auf meine Blindheit bezieht.

»Ja, aber es ist toll.«

Er überlegt eine Weile.

»Ich war noch nie fort. Wann gehst du wieder fort?«

»In drei Monaten, Portugal«, stelle ich freudig fest.

»Zum Surfen?«

»Ja.« Ich versuche mir vorzustellen, dass ich bis dahin so entspannt bin, wie ich es jetzt, in diesem Moment, bin. Und scheitere.

»Weißt du, Heiko, seitdem ich reise, fragen mich die Leute immer, warum ich das mache, also, weil ich ja das Land nicht sehe. Als ob man ein Land nur durch die Augen wahrnehmen würde. Oder ich nie wüsste, wo ich bin.«

Heiko legt seine raue, abgearbeitete Pranke auf meine Hand. »Lass dir nur keinen Humbug erzählen. Die Leute wissen ja nichts über dich.«

»Sogar meine Mutter versteht es nicht«, sage ich kopfschüttelnd.

Heiko lacht dröhnend. Dann trinkt er und stellt den leer klingenden Krug auf das Holz vor ihm.

»Du gibst einfach zu viel auf die Meinung von anderen.«

Er bezahlt die Zeche und verabschiedet sich wie immer mit »Bis bald«.

Zeit zu gehen, man kann nicht alle Probleme am Tresen lösen.

Die Wohnung ist still. Ich schließe hinter mir die Wohnungstüre. Mein Stock kommt an die rechte Seite des Türrahmens. Immer; das ist wohl einer der wenigen, festen Plätze. Ich tappe durch die Wohnung, ein bisschen schwer vom Essen und vom Bier und setze mich, das Telefon mitnehmend, in die Küche. Am Küchentisch lege ich das Telefon vor mich. Ich könnte meine Mailbox abhören. Es könnte sein, dass jemand mein Handy gefunden hat. Jemand von der Band, vielleicht Fabi, der angerufen hat und sagt: »Hey Hansi, ich habe dein Handy gefunden.«

Ich wünsche mir es.

Wünsche sind gut, sie spornen an – aber manchmal produzieren sie zu hohe Erwartungen. Erwartungen an eine Mailbox, was für ein Scheiß. Aber ich kann mir ungefähr vorstellen, wer auf die Quatsche geredet hat und warum, und wahrscheinlich ist Fabi nicht dabei und wahrscheinlich auch kein freundlicher Unbekannter, der mein Handy hat. Wie sollte der auch an meine Nummer kommen? Also bleibt meiner Erwartung nur Fabi übrig.

Ich fische mir eine Zigarette aus der Schachtel und zünde sie an. Das größere Problem ist, dass es mich an das Naheliegende erinnert. Ich könnte Hanna anrufen. Einfach bei ihr in der WG und sagen: »Hey. Hab’ mein Handy verloren. Magst du mir die Nummer von Alexa geben?«

Das kann ich nicht machen. Meine Gesangslehrerin ist zwar nicht so jemand wie eine Lehrerin in einer Schule. Sie würde das auch bestimmt verstehen. Witzig finden. Ihren Mitbewohnern erzählen. Buschgeflüster. Doch dafür bin ich einfach zu schüchtern. Wie ich dann ihre Nummer wählen soll, wenn ich mein Handy wiederhabe, das ist noch eine ganz andere Frage.

Tastend ziehe ich den Aschenbecher zu mir und zerdrücke die Kippe.

Dann nehme ich das Telefon und scrolle durch das mir entgegensprechende Gerät. Vier Nachrichten. Okay, los geht’s. Ich scrolle von der Stimme geführt durch die Nachrichten und fange bei eins an.

1. Eine Nachricht von Andi wegen des Surfens.

Nix war’s.

2. Eine Nachricht meiner Mutter, die sich Sorgen macht, weil ich nicht ans Handy gehe.

Verdammte Axt.

3. Eine von meiner älteren Schwester, die sich im Auftrag meiner Mutter Sorgen zu machen hat.

Ein Versuch noch.

Nun mach schon.

4. »Hey Hansi.« Das ist Fabi, er klingt ein bisschen verschnupft. »Ich hab’ dein Hä…« Er holt Luft. »… dein Hä…« Ich halte es kaum aus. »Häääää…« Dann niest er herzhaft auf meine Mailbox. Aus Reflex weiche ich ein bisschen vom Hörer zurück.

Rascheln, rotzendes Schniefen.

»Sorry. Also, ich hab’ dein Hemd gefunden, das hast du vergessen, liegt im Proberaum. Bis nächste Woche, Alter.«

Mein Hemd. So eine Scheiße. So ist das mit den Wunschträumen. Ich lege das Telefon weg.

Meine Mutter ist der einzige Mensch, den ich normalerweise immer, sofort und auf der Stelle zurückrufe. Ich kann ihr einfach nicht antun, sich ewig Sorgen zu machen, ob ich noch lachend lebe oder vor lauter Blindheit in die nächstbeste Häckselmaschine gefallen bin. Obwohl es in meiner Umgebung eher wenige Häckselmaschinen gibt. Aber ich kann ihre Sorge verstehen, sie ist Teil ihrer Liebe zu mir.

Tastend fische ich den Wecker vom linken Rand der Waschmaschine, lausche der Uhrzeit. Heute ist es zu ausnahmsweise zu spät für einen Rückruf – und ich bin zu fertig.

In Gedanken verspreche ich ihr, mich morgen zu melden.

Tapsend gehe ich ins Schlafzimmer und falle schwer aufs Bett.

In meinem Kopf höre ich Heiko dröhnend lachen.

Kein Licht brennt um mich herum, welchen Sinn sollte das auch haben? Und so weiß kein Sehender, ob ich zu Hause bin oder nicht.

Was du nie siehst

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