Читать книгу Der Teufel trug Jeans - Tibor Simbasi - Страница 7

Alles nette Nachbarn ?

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In der Schule ging es zu wie in jeder anderen beliebigen Schule wahrscheinlich auch. Manche Lehrkräfte empfanden wir als gut, andere wurden gar nicht gern gesehen. Bei den Schülern war es genauso. Die meisten waren recht brav aber es gab immer einen der für seine Streiche bekannt oder auch gefürchtet war. Bei uns in der Klasse war das der Werner. Man konnte nie sicher sein. Wenn er in der Nähe war, ließ er sich immer etwas Neues einfallen. Er hatte immer eine Idee die Lehrer zu ärgern. Einer älteren Lehrerin, die gerade ihren Führerschein erhalten hatte und nun stolz einen Volkswagen fuhr, legte er mal zwei Holzklötze unter das rechte Hinterrad. Als diese nun nach Schulschluss heimfahren wollte ging beim Versuch anzufahren immer wieder der Motor aus. Egal wie viel Gas sie gab, vorwärts oder rückwärts wollte, das Auto rührte sich nicht vom Fleck. Ein zur Hilfe geholter Hausmeister entdeckte dann den Grund. Nicht nur die Schüler, auch die Lehrerschaft, haben heimlich noch lange darüber gelacht. Die Lehrerin hat seit dem Tag immer nach allen Rädern geschaut bevor sie einstieg.

Zu der Zeit wurden die Kinder noch geschlagen, wenn sie unachtsam waren oder etwas angestellt hatten. Da gab es Lehrer, die deswegen gefürchtet waren. Mir ist sogar ein Fall bekannt, wo einem Schüler durch die Schläge das Trommelfell geplatzt ist. Der Lehrer wurde nicht zur Rechenschaft gezogen. Das war eben damals völlig normal, schlagen in der Schule. Was mich aber immer erstaunt hat war: am häufigsten rutschte die Hand Vertretern der Kirche aus. Egal ob Pfarrer oder Religionslehrer. Schon sehr merkwürdig und schwer zu verstehen als Kind. Im Laufe der Jahre wurde es aber immer weniger. Die Neuzeit kam auch langsam in der Schule an.

Zuhause führten wir ein ärmliches Leben, allzu oft war kein Geld da um genug Lebensmittel einzukaufen. So passierte es schon mal, dass wir ohne Frühstück zur Schule mussten oder kein Pausenbrot mitbekommen haben. Der Körper fühlte sich matt und schwach, der Magen knurrte. Vor Hunger war mir oft schlecht. Um etwas zum Essen auf den Tisch zu bringen gingen wir einmal auf einem Feld „stoppeln“, wie die Mutter es nannte. Wir liefen einen schon abgeernteten Acker ab und haben dann die von der Erntemaschine nicht gefundenen oder auch wieder heruntergefallenen Kartoffeln aufgelesen. Doch das sahen die Bauern gar nicht gerne. Lieber haben sie diese Reste verrotten lassen, als dass wir sie uns holen durften. Sie sprachen sogar offen von Diebstahl und haben anderen wirklich gar nichts gegönnt. Unser Speiseplan war meistens sehr dürftig. Erbsensuppe, Linsensuppe, Bohnensuppe, wenn möglich mit Gemüse aus dem Garten oder Kartoffeln mit einer dünnen Mehlsoße. Das wurde fast täglich zu Mittag gegessen. Das Abendessen bestand aus Brot und Margarine, im Sommer garniert mit Schnittlauch oder Radieschen. Wenn wir Glück hatten gab es auch mal Marmelade. Getrunken wurde Leitungswasser. Manchmal hat die Mutter uns Kindern auch einen Kakaotrunk aus Wasser und Schokoladenpulver zubereitet, mit Dosenmilch verfeinert. Das war aber selten der Fall. Wir haben dann so viel davon getrunken, so dass der Bauch weh tat. Fleisch kam bei uns fast nie auf den Tisch, und wenn mal dann nur am Sonntag. Vater hat hin und wieder schon mal ein Kotelett oder ein Schnitzel gegessen. Für alle reichte das Geld aber nicht. Süßwaren, Kuchen oder andere Leckereien gab es nie, weil es zu teuer war. Wenn die Tante mit dem Onkel zu Besuch kamen hat Mutter meistens Wurstaufschnitt gekauft, der denen dann aufgetischt wurde. Die Eltern haben im Wohnzimmer mit ihnen gegessen. Wir Kinder dagegen in der Küche.

Irgendwann zu dieser Zeit wurden wir Kinder dann zu der am Ende der Strasse ansässigen Metzgerei geschickt, um nach Abfällen zu fragen. Der Inhaber, selbst Vater von 4 Kindern, gab uns großzügig eine ganze Tüte voll Wurstzipfeln und ein wenig schon angelaufene Ware. Nun bekamen wir fast täglich 50 Pfennig in die Hand gedrückt und mussten dort Abfall holen. Mir war das schon peinlich, denn ich habe mich doch immer sehr geschämt. Nicht genug, dass uns viele Leute schon als Flüchtlinge bezeichneten, den Abfall der Menschheit. Jetzt mussten wir auch noch um Abfall betteln. Die Bezahlung mit 50 Pfennig war ja nur symbolisch. Wenn der Metzger nicht selbst im Laden stand und nur eine Angestellte bediente war es besonders peinlich. Da sie wohl der Meinung war, etwas Besseres zu sein ließ sie uns das auch spüren. „Aha, da sind ja mal wieder unsere neuen Kunden, die Flüchtlinge. Willst wohl wieder Abfall haben“, rief sie laut, damit es auch alle Anwesenden verstehen konnten und grinste noch dabei. Schon beschämend und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Es gibt eben, wie überall auf der Welt, gute und weniger gute Menschen. Viele Leute im Ort behandelten uns wie Aussätzige mit musternden, entwürdigenden Blicken oder unqualifizierten, dummen Sprüchen ließen sie ihrer Ablehnung freien Lauf. Manche verboten sogar ihren Kindern mit uns, den schmutzigen Flüchtlingen, zu spielen. Einem Kind, welches als Mensch zweiter Klasse abgestempelt wird, tut so etwas sehr weh. Vor allem, wenn man daheim auch noch so behandelt wird. Ungeliebte Kinder können sich nicht normal weiterentwickeln und sind für die Zukunft geschädigt.

Es gab aber auch sehr viele nette Leute, die uns wie jeden anderen Menschen auch behandelten, aber da fing das Dilemma dann an. Diese wirklich netten Mitbürger schenkten uns oft Kleidung, Schuhe und andere Gebrauchsgegenstände, wie etwa auch mal ein Möbelstück. Schon waren sie in der Zwickmühle. Einerseits wollten sie vor allem uns Kindern helfen, anderseits unterstützten sie damit auch die Faulheit des Vaters. Natürlich waren wir eine große Familie, die zu unterhalten einiges kostete aber mit dem Einkommen einer regelmäßigen Tätigkeit und dem Kindergeld vom Staat konnte man doch gut über die Runden kommen. Mit Faulheit jedoch kommt man nicht weit. In dem Wohnblock lebten fast nur Familien mit Kindern. Die Mütter waren alle daheim, versorgten die Kinder, gingen nicht, wie heute üblich, arbeiten. Die Männer waren alle Arbeiter oder kleine Angestellte. Es gab also nur ein Gehalt und trotzdem sind viele im Laufe der Zeit ausgezogen. Sie hatten sich ein Eigenheim gebaut. Bei uns reichte es nicht mal zum Notwendigsten. Wir Kinder trugen alle nur geschenkte Kleidung und Schuhe. Als einmal keine Schuhe in meiner Größe vorhanden waren musste ich flache Damenschuhe anziehen und damit auch die Schule besuchen. Was war das so peinlich. Ich versteckte mich wo es nur ging. An eine Nachbarin erinnere ich mich sehr gerne. Diese Frau, ihr Mann war im Krieg gefallen, war eine Seele von Mensch. Immer nett, immer höflich, immer korrekt. Bevor diese Dame etwas verschenkte, hat Sie uns immer kleinere, leichte Arbeiten verrichten lassen, wie den Hof kehren, Kohlen aus dem Keller holen oder einkaufen. So hat sie uns die Menschenwürde gelassen. Als ich dann erwachsen und schon verheiratet war habe ich dieser vorbildlichen, netten Frau immer wieder mal eine Ansichtskarte geschrieben. Sie hat sich darüber sehr gefreut.

Eine andere Frau hat sich einmal absichtlich, sehr laut, im Hof mit einer anderen über unsere Mutter geäußert. Sie meinte: „die arme Frau tut mir schon leid, so viele Kinder bringen viel Arbeit mit sich, sie kommt ja gar nie zur Ruhe. Dem Mann sollte man den Dietel abschneiden. Der arbeitet nicht, ist immer nur zuhause, angeblich krank aber Kinder zeugen, das kann er. Dafür ist der nicht krank, das geht, der faule Hund“. Der Vater stand in der Küche hinter vorgezogener Gardine und hörte alles mit an, schimpfte wie ein Rohrspatz aber das Fenster öffnen der Frau die Meinung sagen dazu war er zu feige.

Hatte ein Nachbar Kohlen bestellt wurden die vor dessen Kellerfenster abgeladen. Konrad und ich haben dann gefragt ob wir helfen können diese in den Keller zu werfen. Oftmals haben die Leute dankend angenommen. Wir konnten uns somit Taschengeld verdienen, das wir daheim nicht bekamen. War jedoch der Vater da hat er uns das Geld gleich wieder abgenommen. Wir haben aber immer geholfen, so hatten wir wenigstens das Geld, wenn er nicht da war. Einmal bekamen wir zwei Fahrräder als Lohn, nicht mehr die allerbesten aber das war unwichtig, denn man konnte damit fahren.

Im Hauseingang nebenan, wohnte im zweiten Stockwerk eine Familie mit zwei Kindern, ein Mädchen und ein Junge. Der Mann war so ein aufbrausend ungeduldiger Zeitgenosse. Durch eine Kriegsverletzung war er Frührentner und hatte daher viel Zeit. Jeden Nachmittag half er seinem zehnjährigen Sohn bei den Hausaufgaben, wobei er den Unterschied zwischen Hilfe und eintrichtern wohl nicht so ganz verstand. Dauernd war der am schreien: „bist du so dumm oder stellst dich nur blöd an“. Bei offenem Fenster hat das natürlich jeder mitbekommen. Der Bub konnte einem schon leid tun. Auch mit seinen Nachbarn ging er ziemlich schroff um. Alles musste nach seinen Willen gehen, sonst wurde er richtig böse. So ging er einmal mit einem Messer auf einen Mitbewohner los. Nur das beherzte, mutige Eingreifen eines Nachbarn war es zu verdanken, dass nicht etwas Schlimmeres passierte. Ob sich das mit seinem Glauben vereinbarte verstand ich auch nicht so recht. Der Mann ging jeden Tag, morgens und abends, in die Kirche, sang dort auch im Chor und hatte einige Ämter inne. Die Kinder aber waren zwei ganz nette, liebe, höfliche, freundliche Geschöpfe. Für mich kristallisierte sich damals heraus, nicht der häufige Besuch einer Kirche zeigt einen gläubigen Menschen, ein guter Christ kann ich auch zuhause sein. Dazu ist nicht unbedingt der Gang in eine Kirche erforderlich. Mögen mich alle Gläubigen steinigen aber es war nun mal oft zu beobachten: Sonntagmorgen gingen die Leute zum Gottesdienst. Kaum war dieser vorbei wurde sofort wieder mit dummem Gerede über andere Mitbürger hergezogen. Selbstverständlich verhielten sich nicht alle Kirchenbesucher gleich aber doch schon einige Unbelehrbare. Für mich waren das die Scheinheiligen.

Für so manchen Mann war der Sonntag die einzige Abwechslung vom Alltag. Der Besuch im Wirtshaus stand an. Pünktlich um 10 Uhr am Morgen gingen sie dann im Feiertagsanzug mit Krawatte gekleidet zum Frühschoppen in das Gasthaus. Nach einigen Runden Karten spielen und etlichem Biergenuss kamen sie genauso pünktlich um 12.30 Uhr wieder zum Mittagessen nach Hause. Es war ihnen gegönnt, da sie ja sonst nichts hatten. Urlaub konnte oder wollte man sich zu der Zeit noch nicht leisten. Die einzigen, die mal verreist sind waren ein Rentnerehepaar. Sie verbrachten einen Erholungsurlaub in der Schweiz. Unvorstellbar für die meisten Menschen, verreisen, Urlaubsfahrt, und dann noch ins Ausland. So weit weg, was wurden sie beneidet.

Eine Familie aus dem Wohnblock traf es wiederum ganz hart. Die Mutter war nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Zurück blieb ein Vater mit zwei 12 und 14 Jahre alten Söhnen. Der Mann versuchte nun mit allen Mitteln den Kindern die Mutter zu ersetzen und ihnen über die Trauer hinweg zu helfen. An einem Sonntag, etwa 8 Monate nach dem Tod der Mutter begab er sich mit den Söhnen auf eine Fahrradtour. All zu weit kamen sie nicht. Kurz hinter der Ortsausfahrt fuhr ein Pkw in die kleine Gruppe. Seine beiden Kinder wurden tödlich verletzt und nur der Mann überlebte. Nun war er ganz allein. Wir haben ihn alle sehr bedauert aber das half ihm ja auch nicht weiter. Kurz darauf ist er weg gezogen. Es geht immer alles weiter, nur manchmal fragt man sich schon wie und wo.

Eines Tages, ein Sonntag, klopfte es am Abend an der Tür. Eine Frau stand mit ihrem Kind, ein Mädchen, davor und brachte uns 5 oder 6 ganze Torten. Sie waren bei der am selben Tag ausgerichteten Feier zur Kommunion der Tochter übrig geblieben. Was haben wir Kinder uns gefreut, denn so wunderbarer Kuchen oder gar Torten gab es doch bei uns nie. Das war ein richtiger Festschmaus. Keine Torte hat je wieder so gut geschmeckt wie diese von damals. Die Leute lebten recht einfach und beschaulich, konnten sich noch nicht so viel leisten wie heute, waren aber mit sich und ihrem Umfeld zufrieden. Von der heutigen Hektik war noch nicht allzu viel zu spüren.

Zu den weniger guten Menschen zählte leider auch der Vater. Nun, da er nicht arbeitete wurde ihm langweilig. Wie sollte ein langer Tag vorüber gehen, wenn man nicht arbeiten will? Die Antwort für ihn war glasklar: anderen das Leben so schwer wie möglich zu machen und das verstand er fabelhaft. In der Waschküche im Keller, die jede Familie zeitweise benutzen konnte, stand ein riesiger Waschkessel, der mit Holz beheizt wurde. Da hinein kam die ganze Wäsche zum einweichen. Je nach Art der Kleidung, Buntwäsche, Feinwäsche oder Kochwäsche, wurde das Wasser mehr oder weniger stark erhitzt. Drei Waschvorgänge waren somit nötig um alle Kleidung zu reinigen. Damit der Schmutz sich löste wurde nach dem Einweichen jedes Wäschestück auf einem Waschbrett kräftig geschrubbt. Danach kam alles in eine mit klarem Wasser gefüllte Wanne und wurde ausgespült. Zum Schluss wurden die Kleidungsstücke zum Trocknen auf die Wäscheleine gehängt. Bei einem 10 Personen Haushalt war das eine sehr schwere Handarbeit und dauerte meist 2 Tage. Diese Tätigkeit wurde nun Konrad zugeteilt. Der Vater kontrollierte alles ganz genau und wehe er war mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Dann gab es Prügel. Er schmiss die Wäsche auf den Boden und alles sollte noch mal gereinigt werden. Aus reiner Schikane musste Konrad sehr oft jeden Waschgang wiederholen. Es machte dem Vater sichtlich Vergnügen ihn zu quälen. Die größeren Mädchen mussten Geschirr spülen und abtrocknen. Für weitere Aufgaben waren sie noch zu jung. Da wir durch den Arbeitsverlust des Vaters nun auch nicht mehr genug Brennholz hatten wurde ich oft zum Händler geschickt um Kohle einzukaufen. Stets 2 Zentner musste ich heimbringen. Da es mir nicht möglich war 100 kg auf den Schultern zu tragen wurde mir ein kleiner Kinderschlitten zum Transport mitgegeben. Das war logischerweise meistens im Winter der Fall. Der Händler wog die Briketts oder Steinkohlen auf einer antik-verdächtigen Waage ab und schüttete sie in die Säcke, die mitgebracht werden mussten. Er legte mir diese auch immer hilfsbereit auf den Schlitten. Unglücklicherweise wohnten wir oberhalb vom Ortskern, der Brennstoffhändler befand sich aber unten im Dorf. Ein Schlitten, auf dem ein Gewicht von 100 kg lastet, ist verdammt schwer zu ziehen, vor allem wenn es bergauf geht und wie leider öfters der Fall, nicht genug Schnee auf der Strasse liegt. Der Winter kann sehr lang sein. 2 Zentner Kohle sind schnell aufgebraucht, also musste ich schon etliche Male diesen beschwerlichen Weg gehen. Das war immer eine richtige Plackerei.

Während wir Kinder und auch die Mutter mit der neuen Heimat recht zufrieden waren gefiel es Vater hier überhaupt nicht. Das war drüben anders. Dies war besser dort, manches gab es da nicht. Andauernd hatte er etwas auszusetzen. Am liebsten wäre er zurück nach Leipzig gegangen. Er sehnte sich nach der alten Umgebung und hatte schlicht Heimweh. Den Weg zurück gab es aber nicht. Man würde ihn sofort wegen Republikflucht an der Grenze verhaften, das wusste er natürlich genau. Der Grund dafür, dass er nicht mehr zurück konnte war auch gleich gefunden. Nicht etwa er war wegen der Kindesmisshandlung von Konrad und die dadurch resultierende Flucht schuldig. Das sah er schon mal gar nicht ein, Schuld hatten immer andere. Der Grund für all sein Dilemma war Konrad: „wegen dem kann ich nicht mehr zurück“, schrie er ihn einmal an. Seine ganze Wut und den ganzen Zorn darüber ließ er immer öfters am Bruder aus.

Eines Tages musste Konrad den Wohnzimmerboden, der mit Dielen ausgelegt war, schrubben und dann Bohnerwachs auftragen. Danach musste er noch polieren. Dauernd stand Vater dabei und schikanierte ihn. „Das war noch nicht ganz sauber. Dies ist nicht richtig. Da ist noch Schmutz und ein wenig schneller arbeiten“. Er suchte die Nadel im Heuhaufen und wollte ihn nur wieder quälen. Als er dann angeblich unter dem Wohnzimmertisch noch Schmutz sah, griff er sich Konrad am Hemdkragen und schleuderte ihn regelrecht wie einen Hund unter den Tisch. Fast täglich fiel ihm etwas ein, wie er Konrad herum jagen, demütigen und prügeln konnte. Es hatte den Anschein, als wolle der ihn bewusst klein kriegen, kaputt machen. Den Willen brechen, ihm die Seele nehmen, ihn als ein jederzeit benutzbares Lebewesen, ja ihn wie einen Hund abrichten. Ein Sklave der sich nicht wehrt, mit dem man alles machen kann, ein Leibeigener. Wie recht ich mit meiner Vermutung hatte sollte sich schon bald bestätigen. Nun hatte Vater doch die ganze Woche über Zeit um einzukaufen. Er arbeitete ja nichts, sondern lag nur auf der Wohnzimmercouch, sah fern oder schikanierte uns. Ausgerechnet am Sonntag, wenn alle Geschäfte geschlossen hatten, mussten wir oft Zigaretten für ihn holen. Seine Lieblingsmarke gab es auch in keinem Automaten. Es blieb uns daher nichts anderes übrig als bei den dafür in Frage kommenden Händlern an der Hintertür läuten und bitten uns doch Zigaretten zu verkaufen. Am Sonntag Leute, die die ganze Woche hart arbeiteten zu belästigen das war schon peinlich. Und alles nur wegen der Raucherei. Ohne Zigaretten heimkommen, diese Möglichkeit gab es nicht, denn dann gab es Prügel und wir wurden wieder losgeschickt.

Die Stimmungslage Zu hause bei uns richtete sich meistens nach dem Kontostand. War Geld vorhanden, so war auch das Leben einigermaßen erträglich. Wenn nicht, konnte man die schlechte Laune des Vaters kaum noch aushalten. Dann wurde er rabiat und ließ seinen Frust an den Kindern aus. So ist es auch nicht verwunderlich, dass immer, wenn es Kindergeld gab, eitel Sonnenschein herrschte. Dieses brachte der Postbote, denn es wurde in bar ausgezahlt. Mutter musste den Empfang quittieren um es gleich dem Vater zu übergeben. Meistens dauerte es dann auch nicht lange bis er meinte: „mir fällt die Decke auf den Kopf, ich muss mal raus hier“. Er zog die beste Kleidung an und fuhr mit dem Zug nach Kaiserslautern. Erst sehr spät in der Nacht kam er zurück. Das waren die wenigen Stunden ohne die sonst allgegenwärtige, bedrückende Angst. Solange er außer Haus war konnten wir frei atmen. Das Kindergeld wurde jedoch für 2 Monate ausgezahlt und somit waren diese Momente der Befreiung entsprechend selten.

Wir sind wohl auch die einzigen Kinder in der Schule gewesen, die sich nicht auf die Ferien gefreut haben. Dann konnten wir dem Elternhaus überhaupt nicht mehr entfliehen, sondern mussten alle Launen vom Vater ertragen. Was waren wir froh, wenn die Schulferien vorüber waren und wir wieder in die Schule gehen durften. Selbst Feiertage, wie Ostern oder das Weihnachtsfest war für uns kein Anlass zur Freude. Im Gegenteil, wir wurden dann nur traurig. Andere Kinder konnten es kaum erwarten bis endlich Heiligabend war und rätselten gespannt über die zu erwartenden Gaben. Wir jedoch wussten genau, es gab dieselben Geschenke wie immer - eben Nichts. Bei uns wurde am Christabend das Wohnzimmer abgesperrt und der Baum vom Vater geschmückt. Nach einiger Zeit durften wir dann in die Wohnstube um den Weihnachtbaum zu bewundern. Hatten wir Glück, so stand auch für die Kinder ein Weihnachtsteller mit Süßwaren dabei, aber nur wenn Geld dafür vorhanden war. Mit den Worten: „So nun habt ihr genug gesehen. Jetzt könnt ihr zu Bett gehen“, wurde der Tag dann abrupt beendet. Es gab keine Gedichte, keine Weinachtlieder, keine persönlichen Geschenke. Auf was sollten wir uns also freuen? Während der ganzen Kindheit bekamen wir nie ein Spielzeug oder andere Dinge, die unsere Herzen hätten höher schlagen lassen. Zum Osterfest war das nicht anders. Einige Eltern aus dem Wohnblock versteckten bei gutem Wetter morgens im Garten die Osternester für ihre Kinder. Bei der Suche beobachteten wir sie dann vom Küchenfenster aus. Was freuten sie sich, wenn sie ihr Nest gefunden hatten. Bunt angemalte Ostereier, Bonbons und meistens ein riesiger Osterhase aus Schokolade, waren darin. Von all dem konnten wir nur träumen.

Der Geburtstag war für uns auch nichts Besonderes. Hätte Mutter nicht ab und an mal die Bemerkung: „Ach ja, heute hat die oder der Geburtstag“, losgelassen wäre es niemandem aufgefallen. Gratulation oder gar ein kleines Präsent gab es nicht und eine kleine Geburtstagsfeier war absolut undenkbar. Bei einer so großen Familie ist es finanziell gesehen kaum möglich jeden Geburtstag großartig zu feiern. Ein kleiner selbst gebackener Streuselkuchen, zusammen mit den Geschwistern verzehrt, hätte uns aber doch schon gereicht. Wenn es mal einen seltenen Anlass zur Freude gab, dann wurde der gleich wieder zerstört. Ein Schulfreund hat mich mal zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen. Als ich nun den Vater um Erlaubnis gebeten habe meinte der nur: „klar kannst du da hingehen aber die Hildegard wird mitgenommen“. Sie war damals gerade einmal 2 Jahre alt. Den Einwand konnte ich vergessen, denn seine Anweisungen waren Gesetz. Der Feier fernbleiben ging auch nicht, denn das hätte er als Auflehnung verstanden. Eine Geburtstagsfeier unter Jugendlichen und dann ein Kleinkind im Schlepptau. Nie wieder hat mich jemand eingeladen. Ein anderes Mal war unsere Tante zu Besuch gekommen. Als sie hörte, dass im Ort gerade die alljährliche Kirmes stattfindet, wollte sie dieses Volksfest unbedingt besuchen. Kurzerhand wurde beschlossen, dass wir alle, Tante, Onkel, Eltern und insgesamt 11 Kinder hin gehen. Oh was für ein Wunder! Wir bekamen sogar eine Karte für das Karussell, doch auch da wurde die Freude über die bevorstehende Fahrt gleich wieder zunichte gemacht. Wir durften uns kein Fahrzeug aussuchen, wie etwa Motorrad, Traktor, Feuerwehrauto. Nein, Vater bestimmte sofort: „alle in den Omnibus“. So saßen wir wie die Heringe darin und waren froh als die Karussellfahrt endete.

Natürlich ist es ganz normal, wenn in einer Großfamilie die älteren Kinder ihre jüngeren Geschwister hüten aber jeder Mensch braucht auch mal eine gewisse Zeit für sich allein und die war doch recht knapp bemessen. Standen nicht gerade Arbeiten an wurden wir Kinder nach draußen geschickt oder mussten ins Bett gehen. Wir waren lästig und haben beim fernsehen gestört. Als bekannt wurde, dass eine Sonntagsschule gegründet wurde, so eine Art Kirche für Kinder, wurden wir sofort dahin geschickt. Alle ohne Ausnahme. Kein Kleinkind ist eine Stunde still und so störten sie den Unterricht doch sehr. Das war aber Vater total egal. Er hatte seine Sonntagsruhe und konnte fernsehen. Am Abend, wenn wir zu Bett geschickt wurden, musste alles sehr schnell gehen, sonst wurde er richtig wütend. Bei einem Toilettenraum in dem nur eine gusseiserne Wanne stand, 8 Kinder gewaschen werden mussten, oder sich selbst waschen, da geht das nicht immer so rasch, wie man es gerne hätte. Als es wieder mal nicht so schnell ging wie er es gerne hätte brach die Mutter den Waschvorgang ab. Wir sollten ausnahmsweise ohne die Nachttoilette zu Bett gehen. Ich war noch nicht ganz fertig und wollte nun wie von der Mutter geheißen durch die Küche ins Schlafzimmer. Da sah er meine schmutzigen Füße. „So willst du also ins Bett“, hörte ich ihn noch schreien. Dann wurde es auch schon dunkel. Mit einem Topf, der auf dem Küchenherd stand, schlug er mir von hinten auf den Kopf. Daraufhin war ich bewusstlos. Ein Arzt wurde natürlich nicht geholt. Nach einiger Zeit bin ich wieder aufgewacht und mir war übel. Außerdem hatte ich Kopfweh und musste mich übergeben. Als sich mein Wohlbefinden dann einigermaßen gebessert hatte musste ich zu Bett gehen und durfte anschließend zwei Tage die Schule nicht besuchen. Angeblich war ich die Treppe hinunter gestürzt.

Als die Ärzte auch weiterhin keine Diagnose über die seltsame Krankheit beim Vater stellen konnten, schickte ihn der Hausarzt Anfang des Jahres 1965 kurzerhand zu einer Kur. Das ärgerte den Vater ungemein. Da er aber weiterhin Krankengeld beziehen wollte, musste der Kuraufenthalt wohl oder übel angetreten werden. Zähneknirschend fuhr er also in eine Kurklinik nach Bad Dürkheim in die Pfalz. Wir hatten drei Wochen Frieden, das hieß ‚Urlaub von der Hölle’. Unter Aufsicht der Ärzte konnte er sein selbst gebasteltes Armband, welches die Blutzirkulation behinderte, nicht anlegen. Was konnte man anderes erwarten. Es kam wie es kommen musste. Selbstverständlich durch die hervorragenden medizinischen Anwendungen. Die Schwellung der Hand verschwand auf wunderbare Weise. Der Chefarzt schickte ihn nach einer letzten Kontrolluntersuchung wieder heim. „Sie sind wieder ganz gesund und können wieder arbeiten gehen“, meinte er zum Abschluss.

Wieder zu Hause war er nur noch zornig. Das Krankengeld wurde nicht mehr gezahlt. Das war nun vorbei. Um weiterhin ein Einkommen beziehen zu können musste er sich beim Arbeitsamt als arbeitsuchend melden. Die Aussicht auf Arbeit wiederum verursachte bei ihm die nur denkbar schlechteste Stimmung. Wahrscheinlich um über neue Möglichkeiten sich vor Arbeit zu drücken nachzudenken war er nur noch am Grübeln, und er hatte mal wieder einen grandiosen Einfall. Durch Zeitungsinserate war bekannt, dass ein Chemiewerk im 6 km entfernten Nachbarort dringend weitere Beschäftigte sucht. Eine besondere Ausbildung sei nicht erforderlich und die Tätigkeit sollte sehr gut bezahlt werden. Damit beim Arbeitsamt ein Nachweis erbracht werden konnte, dass Vater sich um Arbeit bemühen würde, sollten Konrad und ich dort wegen Arbeit für ihn nachfragen. Die Absage, die er natürlich erhoffte, sollte schriftlich bestätigen werden. Als Beweis seiner aufopfernden, schweißtreibenden aber eben doch erfolglosen Suche nach einer Arbeitsstelle. Er schickte uns mit dem Fahrrad dort hin. Es herrschte ein eisiger Winter, weil es die ganze Nacht geschneit hatte. Die Strassen waren mit frischem Schnee bedeckt und es wehte ein kalter Wind. So machten wir uns auf den Weg. Da es nicht möglich war bei diesen schlechten Straßenverhältnissen zu radeln waren die Fahrräder zusätzlicher, unnötiger Ballast. Nur sehr langsam ging es voran. Mühsam kämpften wir uns durch den harschen Schnee, der oft bis zu den Knöchel reichte. Schon sehr bald hatten wir nasse Füße und froren trotz der Anstrengung beim Schieben der Räder durch den hohen Schnee. Endlich, nach gefühlter, unendlich langer Zeit kamen wir dort an. Der Anblick von Konrad und mir muss wohl recht erbärmlich gewesen sein. Nur so konnte ich mir erklären, dass der Pförtner uns bis zur Rezeption im Werk vorgelassen hat. Die Vorzimmerdame des Personalleiters wusste nicht so richtig, was sie mit uns anfangen sollte. War der Chef damit einverstanden zwei Kinder in seinem Büro zu empfangen? Sie kämpfte sichtlich um eine Entscheidung, überwand sich dann und meldete uns an. Nach einer kurzen Wartezeit empfing uns der Personalchef. Als wir sein Büro betraten orderte er über die Gegensprechanlage sofort Tee und Gebäck. Danach durften wir ihn begrüßen und unser Anliegen vorbringen. Ganz ruhig und aufmerksam hörte er zu als wir um eine Arbeitsstelle für den Vater baten. Dabei legte er die Stirn nachdenklich in Falten. Die Dame aus dem Vorzimmer brachte den Tee und das Gebäck. Unser Gesprächspartner gab zu verstehen, dass wir uns bedienen können. Gerne kamen wir dem nach. Währenddessen unterhielten wir uns über belanglose Dinge. Dem Personalchef interessierte alles Mögliche: wo wir herkommen, wie lange wir dort wohnen, ob es uns da gefällt, wie groß die Familie ist, was und wo der Vater schon alles gearbeitet hat und viele andere Dinge. Nachdem alle Fragen beantwortet waren räusperte er sich und meinte: „so nun wollen wir mal auf das eigentliche Thema, den Grund für euren Besuch zurückkommen“. Wieder räusperte er sich. Man konnte sein Unbehagen spüren. Also begann er: „euer Auftreten in Ehren aber hier handelt es sich um den Vater. Dazu folgendes, wenn ein Mann es nicht für notwendig hält sich selbst um eine Anstellung zu bemühen und sich persönlich vorstellt, dann können wir diesen Mann hier nicht gebrauchen. Auch werde ich keine schriftliche Ablehnung ausstellen. Damit würde man ihm ja noch einen Gefallen tun und das machen wir ganz bestimmt nicht“. Damit war das Gespräch beendet, Konrad und ich dankten nochmals für den Tee und das Gebäck und machten uns dann auf den beschwerlichen Heimweg. Da keiner eine Uhr besaß, wussten wir nicht ob bereits viel Zeit verstrichen war. Es müssen etliche Stunden gewesen sein, als wir spät am Nachmittag endlich nass und halb erfroren daheim ankamen. Der Vater wartete schon ungeduldig auf unsere Rückkehr. Kaum hatten wir die Wohnung betreten ging sein Brüllen auch schon los. „Wo seid ihr denn so lange gewesen ? Ich warte hier wie auf glühenden Kohlen und ihr treibt euch in der Gegend herum. Solange Zeit braucht doch kein Mensch für die paar Kilometer. Habt ihr die schriftliche Bestätigung der Ablehnung?“ Ja, nach eventueller Arbeit wurde nicht gefragt. Er wollte nur ein bedauerndes Schriftstück über seine leider gescheiterte Bemühung für eine Anstellung. Als wir seine Hoffnung enttäuschen mussten interessierte es ihn nicht, weshalb oder warum. Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht. Außer sich vor Wut schnappte er sich den Stubenbesen, der immer in einer Nische der Küche stand und drosch damit auf uns ein. In Panik floh ich aus der Wohnung auf die Strasse hinaus, rannte um den Wohnblock und blieb erst an dessen Seite stehen. Dort verharrte ich, blickte ängstlich um die Ecke und schaute, ob mir jemand folgt. Unschlüssig was ich nun tun sollte, fiel mir die Frau auf, die vom Fenster aus dem zweiten Stockwerk des Polizeireviers auf der anderen Straßenseite alles beobachtet hatte. In meiner Not berichtete ich ihr hastig was gerade geschehen ist und bat sie um Hilfe. Im nächsten Moment brach alles in mir zusammen. Ich konnte nicht glauben was ich nun sehen musste. Obwohl mir das Blut über das Gesicht lief sagte die Frau kein Wort. Im Gegenteil, sie grinste mich unverhohlen an, weidete sich an meiner nicht zu übersehender Angst, ja sie ergötzte sich regelrecht daran. Einerseits war ich wie gelähmt, anderseits schossen mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Woher soll denn eigentlich noch Hilfe kommen, wenn schon hier nicht geholfen wurde. Sie war doch immerhin die Frau eines Polizisten, einem Vertreter des Gesetzes. Aber ich war ja nur ein Flüchtling. Warum sollte man da helfen? Alles in mir war leer, ohne jede Hoffnung. In diesem Moment hasste ich diese Frau. Die Mutter kam, weil sie geschickt worden war um mich wieder hereinzuholen. Was sollte ich jetzt noch tun ? Alles war hoffnungslos. Ich folgte ihr zurück in die Wohnung und bekam dort den Rest an Schlägen. Dass ein Flüchtlingskind so wenig zählt, Erwachsene dermaßen gleichgültig sein können, diese Erkenntnis hat mich noch lange beschäftigt. Die Frau des Polizisten habe ich nicht mehr beachtet oder gar gegrüßt.

Der Teufel trug Jeans

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