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Amselstraße 39
ОглавлениеOtto Baschke war ein gewöhnlicher Mensch, ich meine schon im Hinblick auf seine Physiognomie, die man eher plump nennen würde: ein ausdrucksloses Gesicht mit blondem Backenbart und spärlichem Kopfhaar, kurz ein Gesicht, zu dem einem nur der in solchen Fällen übliche Passeintrag in den Sinn gerät: keine besonderen Merkmale. In beinahe jeder Hinsicht verkörperte Baschke das Mittelmaß, nur in einer einzigen ragte er zweifelsohne vor anderen Menschen hervor. Er verkörperte das Mittelmaß sozusagen in extremis, denn seine Philosophie ließ sich zu einem einzigen Satze bündeln: Richtig ist, was mir, Baschke, gefällt und einen Nutzen verschafft. Er war, mit anderen Worten, der geborene Opportunist.
Gerechterweise - und hoffentlich mit Zustimmung des Lesers - muss hier allerdings hinzugefügt werden, dass ein Baschke sich in jedem von uns versteckt. Gewöhnlich werden wir als Baschke geboren und bleiben Baschkes, bis etwa zur Schwelle der Pubertät. Doch dann pflegt sich in manchen Menschen eine merkwürdige Änderung zu vollziehen, die unsere Anthropologen, Psychologen und die Wissenschaft überhaupt bis heute vor ein schwer zu lösendes Rätsel stellt: Viele von uns beginnen nämlich nach Überwindung dieser Schwelle gegen die eigenen Interessen zu handeln. Die Pubertät ist aus diesem Grund eine gefürchtete Lebensphase, die mitmenschliche Geduld und das Wohlbefinden werden auf eine harte Probe gestellt.
Nicht so bei Baschke. Obwohl mittlerweile schon um ein halbes Jahrzehnt jenseits der Dreißiger, hatte er sich sozusagen dauerhaft – oder wohl eher für alle Zeit - auf der Plattform der Vorpubertät eingerichtet. Die oben genannte Maxime, die bereits der Säugling beharrlich verfolgt: Wahr und richtig ist, was mir nützt, war ihm sozusagen zur zweiten Natur geworden oder, wie man so sagt, in Fleisch und Blut übergegangen, nur dass er sie inzwischen noch etwas erweitert hatte, indem er sie auf ein seinem vorgerückten Alter entsprechendes intellektuelles Niveau emporhob.
Als richtig und wahr galt für Baschke, was die anderen, die Welt, von ihm hören wollte. Denn was sie gerne hört, macht sie zufrieden, und für Zufriedenheit ist sie bereit, in bar zu zahlen. Für einen Menschen mit einer derartigen Philosophie war der Lebensweg vorgezeichnet. Er konnte eigentlich nur, nein, er musste sogar bei der Post ankommen – wie jeder weiß, das größte Massenblatt unseres Landes.
So war es denn auch geschehen, und für den Erzähler dieser leider durch und durch wahren Geschichte besteht daher ebenso wenig Grund, sich über die Rolle Baschkes zu wundern, wie für den Leser, der diese Erzählung in ihren Grundzügen ja sicher schon kennt – ich nehme an, dass er zum gebildeten Teil der Bevölkerung gehört, also hin und wieder zur Zeitung greift oder wenigstens den Fernseher einschaltet oder das Radio.
Niemand sollte sich daher darüber wundern, dass dieser Mann im Auftrag der Post-Zeitung soeben in einem Auto sitzt, einem schäbigen Wagen übrigens - VW Golf älterer Bauart - und einer Frau auflauert, deren Namen uns allen gleichfalls bekannt ist. Es handelt sich um Marianne Steuben. Wie gesagt, für den halbwegs gebildeten Zeitgenossen gehören diese Namen inzwischen zum gängigen Wissensvorrat. Wenn ich dennoch mit einer Geschichte beginne, die uns gleich zu Anfang die Bekanntschaft mit einem so gewöhnlichen Menschen wie Otto Baschke aufdrängt, dann nur deshalb, weil ich mit diesem Vorgehen einen besonderen Zweck verfolge. Wie in so vielen anderen Fällen haben uns die Massenmedien nämlich auch diesmal in die Irre geführt, ja in diesem Fall sogar in ganz besonderem Maße. Es geht ja um ein Verbrechen, das in der Öffentlichkeit ungeheures Aufsehen erregte und sie bis heute beschäftigt. Linke und Rechte, Gut- und Schlechtmenschen, Esoteriker und nüchterne Wissenschaftler hat dieses Verbrechen aufeinander lospreschen und losdreschen lassen. Kein Wunder, dass in einem solchen Krieg der toll gewordenen Meinungen das erste Opfer wie immer die Wahrheit ist.
Mit meiner Darstellung bezwecke ich daher eine Ehrenrettung - nein, nicht etwa eine Ehrenrettung des einst so angesehenen Hauses v. Hochreith. Von einem Adelstitel lasse ich meine Augen nicht blenden und hoffe, dass auch der Leser gegen solche Anwandlungen gefeit ist. Nein, es geht darum, sich gegen die Hetze zu stellen, die eine Massenzeitung, eben die Post, in der Bevölkerung lostrat. Aber genau deshalb, weil es mir um die Wahrheit geht, bleibt mir nichts anderes übrig, als mit Otto Baschke zu beginnen, diesem leider eher mittelmäßigen Menschen.
Seinen reichlich schäbigen Golf hatte er schräg gegenüber von Nr. 39, Amselstraße, geparkt, die sich ihrerseits in einem Viertel mit gutbürgerlichen Häusern aus dem 19. Jahrhundert befindet: gepflegte Fassaden und blühende Gärten mit der Patina eines verdienten Ruhestandes, den die verträumten Gärten und ihre meist unsichtbaren Bewohner sozusagen gemeinsam feiern. Hier wohnt die sogenannte bessere Gesellschaft, die High Society oder Haute Volée, alles Wörter, die in Baschkes Magen ein unbehagliches Gefühl wie ein Zwacken und Ziehen bewirkten. Nur zu deutlich war ihm nämlich bewusst, dass er selbst nicht dazu gehörte, wohnte er doch in einer schlichten Mietskaserne inmitten eines Kleinleuteviertels. Wenn er an die eigenen erbärmlichen Lebensumstände dachte, biss er unwillkürlich die Zähne zusammen, wobei sein nächster Gedanke eine Art von Auflehnung war, deren Adressaten die Unsichtbaren hinter den Mauern der Villen waren.
Ich gehöre nicht zu euch, noch nicht, aber wartet nur ab, ich werde kommen!
Gerechterweise ist hier anzumerken, dass ihm dieser Neidgedanke nur einen flüchtigen Augenblick lang durch den Kopf schoss. Er hatte in diesem Moment ja auch an anderes zu denken, genauer gesagt, an Marianne Steuben, die binnen kurzem durch das Gartentor der Villa treten musste, die sich auf der anderen Straßenseite hinter einer Eibenhecke und der Nummer 39 verbarg. Von dort w+++ Stadt zu ießend zu Fuß ins ß ins hecke n gemeinsam begtegt beeindruckt, vor allem die Sichtweise der Verteidigung. Da war dürde sie sich anschließend zu Fuß ins Zentrum der Stadt begeben. Die Steuben war, so viel hatte Baschke in Erfahrung gebracht, Abteilungsleiterin in einer Zweigstelle der Caritas. Ganz gewiss war das kein Beruf, in dem man Reichtümer anhäufen konnte. Vermutlich hatten schon ihre Eltern in diesem Haus gewohnt, die Tochter wurde also in den Wohlstand hineingeboren. So war das ja meist. Nicht eigenes Verdienst, sondern der Glücksfall einer Erbschaft, eine bloße Laune des Schicksals, hob diese Leute über ihn, Otto Baschke, hinaus.
Die launische Göttin Fortuna! Immerhin hatte sie auch ihm gestern gelächelt. Es fiel ihm schwer, seine schweifenden bis ausschweifenden Fantasien von den Schäferstunden der letzten Nacht losreißen. Endlich einmal eine tolle Frau, wie er sie sich immer wünschte. Mit der konnte man sich sogar in der Redaktion vor den Kollegen, ja selbst vor Deggenhoff sehen lassen. Elegant gekleidet, witzig, schlagfertig und im Bett eine Künstlerin.
Welche angenehmen Empfindungen die Erinnerungen an eine so erfreulich verbrachte Nacht im Kopf von Baschke auslösten, während er die Nummer 39, Amselstraße, im Auge behielt, wird sich jeder Leser mit einschlägigen Erfahrungen ähnlicher Art mühelos vorstellen können, deswegen sehe ich davon ab, das neuronale Blitze und Knistern in seinem Gehirn hier im Einzelnen nachzuzeichnen. Wichtig für unser Ziel der unparteiischen Wahrheitsfindung sind nur die Folgerungen, die Baschke aus seinen frisch zurückliegenden Erlebnissen zog.
Solche Alphafrauen, sagte er sich, sind nur zu halten, wenn man in der Lage ist, ihnen etwas zu bieten!
Zu einem anderen Schluss konnte ein nüchterner Mensch wie Baschke gar nicht gelangen. Ihm war deshalb deutlich bewusst, welch weitreichende Aussichten ihm der heutige Tag verschaffte, oder umgekehrt, in welches Risiko er sich begab.
Hier liegt für mich eine Chance, wie ich sie vielleicht nie wieder bekommen werde. Der Chef selbst hat mich auf den Fall angesetzt. Deggenhoff weiß genau, was er tut, der ist ein gnadenlos kalkulierender Rechner. Wie ein Komet steigst du empor, wenn du einen großen Fisch an Land ziehst. Auf der Stelle verdoppelt er dir dein Gehalt.
Baschke wird es dann heißen, seht euch den Baschke an, ein Vorbild für alle, ein herausragender Mann. Nein, das ist bei ihm keineswegs ungewöhnlich.
Wehe aber, wenn du versagst, dann landest du ganz unten in der Korrekturabteilung eine Etage tiefer - oder er setzt dich überhaupt vor die Tür. Die Post-Zeitung ist ein Haifischbecken, da fressen die großen die kleinen Fische. Das sind alles Kannibalen, die Starken mästen sich am Fleisch der Schwachen. Ist ja kein Wunder. Wir schreiben für die Massen, für das Volk sozusagen. Da muss jedes Wort genau sitzen, das wird von Millionen gehört und gelesen.
Deggenhoff hat ja recht, er hat immer recht.
Stellt euch eine einfache Hausfrau vor, schärft er seinen Leuten ein, oder den Postboten oder den Automonteur von nebenan. Die lesen euren Kram und wollen mit der Nachbarin darüber reden. Das tun sie aber nur, wenn sich ihnen jedes Wort in den Kopf brennt. Ich sage ‚brennen’, jedes Wort muss sich neuronal festfressen, in den Hirnwindungen stecken bleiben, sonst vergessen die Leute die voraufgehende Zeile, noch bevor sie bei der nächsten anlangen. Dann ist das Blatt gerade gut genug für das Klo. Versteht ihr, was ich damit sagen will? Brandsätze sollt ihr schleudern, Zündschnüre legen, womit ihr die öffentliche Meinung auflodern und explodieren lasst.
Vor Deggenhoff hatte Baschke einen ungeheuren Respekt. Er konnte ihm nicht gegenübertreten, ohne den Blick zu senken, so klein und unbedeutend fühlte er sich. Andererseits lebte er auf, sobald er ein lobendes Wort von ihm hörte. Er schrieb keine einzige Zeile, ohne sich bei jeder einzelnen die Frage zu stellen, ob sie vor Deggenhoffs Augen Gnade findet.
Baschke lehnte sich in seinem Wagen zurück. Warum eigentlich Amselstraße? Diese Behördentrottel! Die Parallelstraße haben sie Finkengasse genannt, und die nächste Abzweigung ist der Nachtigallenweg. Ob sie wohl auch einen Spatzenweg haben? Vermutlich deklinieren sie auf diese Weise die ganze Vogelwelt durch.
Die Familie v. Hochreith wohnt nicht weit von der Amselstraße entfernt, vermutlich eine noch bessere Gegend. Die Terrorfrau ist Tochter eines Bankiers, noch dazu eines ganz großen. Die Bank ‚Hochreith und Brüder’ kennt ja jeder – ein klingender Name. Deggenhoff hatte vor Ergriffenheit beinahe geflüstert, als er den Namen nannte: Julia v. Hochreith. Ihr wisst hoffentlich, was das heißt! Ein so großer Fisch geht uns nur alle zehn Jahre ins Netz.
Vor der ganzen Mannschaft hatte sich Deggenhoff die Hände gerieben.
Seht ihr, das macht den Fall erst sensationell, das gibt ihm die richtige Dimension. Wäre die Verbrecherin eine ganz gewöhnliche Frau zum Beispiel mit Migrantengeschichte, dann hätten wir es mit einem banalen Fall zu tun. Damit rechnet unser Land schon seit Jahren, aber dass eine von uns, eine aus der High Society, eine v. Hochreith...
Deggenhoff hörte gar nicht auf, sich die Hände zu reiben, und er sprach den Satz auch nicht zu Ende. Wir wussten ja ohnehin, was er meinte. Da zeigt sich erst, wie weit das Gift in den Volkskörper – Deggenhoff hatte tatsächlich das Wort ‚Volkskörper’ gebraucht – schon einsickern konnte.
Leute, schlug er mit der Faust auf den Tisch, damit auch jeder begriff, worum es für die Post-Zeitung geht. Diesen Fall müssen wir zu einem Riesenballon aufblasen – und wehe, wenn einer von euch ihn vorzeitig platzen lässt!
So war der Chef nun einmal. Schwenkt er eine Karotte vor deinem Gesicht, dann mach dich darauf gefasst, dass er in der anderen Hand mit der Peitsche knallt.
Baschke strich sich über den Bauch, eine Geste, die zu seinen Gewohnheiten gehörte, obwohl dieser Bauch bislang eine eher bescheidene Wölbung aufwies. Die Bewegung vollführte er immer dann, wenn er mit sich im Reinen war, und dazu hatte er wirklich Grund. Vor allen anderen Kollegen hatte Deggenhoff nämlich gerade ihn fixiert und ihm den Auftrag erteilt.
Baschke, hören Sie ganz genau zu. Die Information, die zur Festnahme Julia v. Hochreiths führte, stammt von ihrer Freundin Marianne Steuben. Die werden Sie kontaktieren und sie wie eine Zitrone ausquetschen. Sie müssen alles aus ihr herausbekommen, was sie jemals über die Hochreith gewusst oder gedacht hat. Hören Sie, absolut alles. Wie Sie das machen, das überlasse ich Ihnen, aber dass Sie es machen, ist ein Befehl, bei dem es für Sie und die Post um Tod oder Leben geht. Ich will, dass in den nächsten Tagen unser Land nur noch ein einziges Thema kennt: Die Terroristin Julia v. Hochreith.
Baschkes Golf stammte aus zweiter Hand, und man sah es ihm an: Die Sitze schon ziemlich verschlissen, der Lack an mehreren Stellen verkratzt. Ein Mann wie Baschke musste darunter leiden, war er sich doch deutlich bewusst, etwas viel Besseres zu verdienen. Das hatte er immer gewusst - und offenbar wusste es auch der Chef, sonst hätte er ihm diesen Auftrag gewiss nicht erteilt. Und natürlich wusste es auch die Frau, die ihn gestern zu sich in ihre Wohnung geladen hatte und ihm ihren Vornamen ‚Jutta’ erst in dem Augenblick verriet, als er sich auf dem Absatz zur Treppe von ihr schon verabschiedet hatte. Die Frau hatte ihn, Baschke, gesehen und nicht diesen dürftigen Untersatz. Damit angelt man sich bestenfalls eine Frau für eine einzige Nacht, aber nicht länger.
Bei der Zeitung ist das genauso. Die beschäftigen dich ein, zwei Wochen auf Probe. Dann musst du beweisen, dass du ein Zauberer bist, wie man ihn bei der Post haben will. Wenn du es verstehst, aus jeder Mücke einen weißen Elefanten zu machen, dann bist du einer von ihnen. Wenn du im Gegenteil den Elefanten siehst, aber aus ihm eine Mücke machst – dann bist du für sie auch nichts anderes als so ein Insekt. Du gerätst in das Gitternetz, dann gibt es momentan einen blauen Blitz, und das war’s.
Wisst ihr, was der Unterschied zwischen einem Könner und einem Versager ist?, hatte ihnen Deggenhoff auf ihrer letzten Redaktionssitzung zugeworfen. Ein Versager sieht einen Mann am Straßenrand stehen und eine Zigarette rauchen. Nicht mehr und nicht weniger, einen Mann mit einer Zigarette, das ist alles. Anders gesagt, er hat überhaupt nichts gesehen. Ein Könner sieht ebenfalls einen Mann mit einer Zigarette am Straßenrand, aber er blickt ihm ins Gehirn und liest jeden seiner Gedanken. In diesem Kopf, so ahnt er, wird gerade ein Raubüberfall ausgebrütet oder ein Flugzeugabsturz geplant oder ein politisches Attentat ausgedacht. Ein Könner, Baschke, der sieht niemals nur das, was ihm vor Augen steht, sondern sieht zur gleichen Zeit alles, was in seinem Kopf alles möglich wäre. Der Könner ist der echte Realist. In unserer Zeitung brauchen wir nur den Könner.
Baschke fühlte sich bei diesen Worten elektrisiert: Sie drückten nicht weniger aus als seine eigene Weltanschauung. Als er gestern mit dieser Frau zusammenlag, da dachte er noch an nichts anderes als an ein kurzfristiges Abenteuer ohne weitere Folgen, eines von vielen, die er sich gönnte, weil man doch nicht einzig und allein für seinen Beruf leben kann. Aber dann regte sich der Könner in ihm, das Mögliche stand ihm auf einmal vor Augen. Würde diese Frau nicht die ideale Ergänzung zu seiner immer noch unbeweibten Person abgeben? Er war ja nicht mehr der Jüngste, mit über dreißig wird man von vielen schon zum alten Eisen gezählt.
Baschke blickte auf seine Uhr. Sie zeigte bereits zwanzig vor acht. Normalerweise erscheine Johanna Steuben gegen acht Uhr an ihrem Arbeitsplatz, so hatte ein Detektiv des Hauses im Auftrag von Deggenhoff vorsorglich herausgefunden. Zu Fuß, denn sie legte den Weg jeden Tag auf diese Weise zurück, brauchte sie eine gute halbe Stunde, manchmal etwas mehr, wenn die Ampeltaktung an den Zebrastreifen gerade besonders ungünstig war. Um absolut sicher zu gehen, dass er die Frau nicht verfehlt, hatte Baschke seinen Golf gegenüber von Nummer 39 schon um viertel nach sieben geparkt. Auf keinen Fall durfte er sie verfehlen, eine halbe Stunde Weg musste reichen, um sich ihr als Helfer und Freund zu präsentieren und die wichtigsten Fakten aus ihr herauszuholen.
Das wichtigste Faktum war immer noch offen. Mit ihrem Anruf bei der Polizei hatte Marianne Steuben den Mordanschlag im letzten Moment vereitelt. Aber in welcher Absicht war das geschehen? Hatte die Steuben ihre Freundin vor Schaden bewahren wollen oder war sie eine Verräterin?
Das Motiv der Fürsorge verkauft sich schlecht, damit bekommt man keinen guten Artikel hin, so viel stand für Baschke von vornherein fest. Die Leute sprechen auf starke Gefühle an, sie wollen etwas Deftiges, um sich zu empören. Fürsorge gehört zu den schwachen Gefühlen, mit denen man nur bei Softies und Weicheiern reüssiert. Verrat, das klingt so viel härter und besser. Darüber reden die Leute, das beschäftigt sie noch nach Tagen. Es ist wie bei dem qualmenden Mann am Straßenrand. Man muss nach dem Möglichen forschen, die Wirklichkeit ist eine erbärmliche Sache, für die Post-Zeitung ist die Wirklichkeit nie großartig genug, das hatte ihnen Deggendorf immer schon eingebläut, und er, Baschke, hatte das auf Anhieb begriffen. Er wusste, dass er zum Mittelpunkt seiner Geschichte unbedingt einen Verrat machen musste.
Allerdings musste er damit rechnen, dass die Steuben sich hartnäckig zeigt - intellektuelles Milieu, wir kennen das, die üblichen Vorbehalte gegenüber unserer Zeitung. Der durchschnittliche Geistesmensch glaubt sich ja himmelhoch über die Massen erhaben, die alten Klassenbarrieren wurden in den Köpfen bis heute nie eingerissen. Wenn ich ihr sage, in wessen Auftrag ich hier erscheine, dann muss ich damit rechnen, dass sie das gutbürgerliche Schnäuzchen zu einem Grinsen verzieht und mir einfach den Laufpass gibt. Wir kennen das, darauf sind wir vorbereitet. In solchen Fällen bekämpft man den Teufel mit Beelzebub. Ich werde mich als Journalist eines sogenannten gutbürgerlichen Blattes ausgeben. Eine Notlüge, die mir nicht schaden kann, da niemand unser Gespräch aufzeichnet. Ratsam und eine List, die Deggenhoff sicher gefallen würde, wäre es sogar, ihr mit den schmutzigen Praktiken gewisser Massenmedien zu kommen - da sei es doch weitaus besser, wenn ein seriöser Journalist die Wahrheit in einem seriösen Blatt aufbereitet!
Baschke schloss ganz kurz die Augen, in seinem Hirn poppte eine Weisheit auf, die ihm auch für diesen Fall gültig schien. Hast du es mit einer Frau zu tun, dann appelliere an ihre Gefühle, an ihr mitleidendes Herz! Ein schöner Spruch, dachte er, könnte von Nietzsche sein! Baschke liebte es mit den Namen der Großen zu spielen, wenn auch nur in Gedanken, denn er hatte früh erkannt, dass er sie keinesfalls lesen musste. Wenn man Artikel für den Mann auf der Straße schreibt, dann braucht man einfache Worte und einfache Gefühle. Von den Großen konnte man in dieser Hinsicht nichts lernen.
Das Wichtigste ist das Mitgefühl, erteilte er sich selbst eine strategische Weisung. Wir haben es mit einer Frau zu tun, die bei der Caritas angestellt ist. Die ist von Kopf bis Fuß auf Mitleid eingestellt. Auf die Tränendrüsen werde ich drücken, das hat sich bisher noch immer bestens bewährt. Selbst wenn es anders sein sollte und sie ihre Freundin mit ihrem Anruf bei der Polizei in Wahrheit verraten wollte, zugeben würde sie das bestimmt nicht, sondern immer behaupten, alles nur aus Sorge und Mitleid getan zu haben. Ich muss mich als ihren wohlmeinenden Freund und Helfer anbieten, dem es allein darum geht, die sensationslüstern bellende Meute von der Hochreith fernzuhalten.
Diesmal strich sich Baschke nicht über den Bauch - seine Selbstliebe steigerte sich zu einem Schlag mit der flachen Hand auf das Knie.
Das ist es! Ich muss ihr als Retter erscheinen, der alles daran setzt, die öffentliche Meinung günstig zu stimmen. Gelingt mir das, dann dürfte es nicht allzu schwierig sein, alles aus der Steuben herauszuholen.
So intensiv war Baschke mit sich selbst und den Gedanken zu seinem nächsten Artikel in der Post beschäftigt, dass er nichts davon bemerkte, wie heil und geradezu heiter die Welt in diesem Viertel am südlichen Rande der Stadt noch war. In den sorgsam gepflegten Gärten blühten die Rosen, bei den Nachbarn zur Nummer 39 lockte weißblühender Jasmin, Amseln sangen auf den Buchen jenseits des Zauns. Was sich im Kopf des Reporters Otto Baschke abspielte, besaß nicht den geringsten Bezug zu der umgebenden Stille. Überhaupt strahlte der Himmel im schönsten Blau und wusste offensichtlich nichts davon, dass es einen Fall Hochreith gab, der erst gestern wie eine Bombe geplatzt war und ein Feuer legte, das bald in allen Köpfen lodern sollte.