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Der tote Zaubergarten

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Für den Chronisten einer Geschichte ist es ein nicht allzu schwieriges Unterfangen, den Menschen in seinem Normalzustand darzustellen. Er darf sich sogar erlauben, seine belustigten Bemerkungen zur Selbstüberschätzung eines Mannes wie Baschke abzugeben. Dessen neue Freundin Jutta würde ihm, hätte er sie jetzt schon näher kennengelernt, sicher auch zu manchem ironischen Seitenhieb ermuntern. In der Welt der Baschkes stimmt eben vieles nicht, auch wenn man ihnen die Gelegenheit gibt, mit Dreigroschenartikeln in einem Massenblatt Millionen von Menschen zu Hass oder Empörung zu entflammen.

Aber jetzt befinden wir uns an einem ganz anderen Ort, nämlich im ersten Stock einer hinter großen Buchen verborgenen Villa, die schon äußerlich vom guten Geschmack und natürlich auch vom Wohlstand, um nicht zu sagen, vom Reichtum ihrer Bewohner kündet. Wenn Wohlstand und Reichtum etwas über den Seelenzustand aussagen könnten, dann dürften wir glauben, uns hier in einem Refugium des Glücks zu befinden. Wären wir vor einer Woche eingetroffen, dann hätte es dieses Glück wohl auch wirklich gegeben, am heutigen Tag aber ist davon nichts zu bemerken. Daher rührt auch die Vorsicht, mit der wir dieses Haus betreten und uns dem Manne nähern, der sich in dessen erstem Stock aufhält. Belagert wird er jetzt ohnehin von allen Seiten. Ein Mindestmaß an Zartgefühl gebietet es, sich nicht noch unter die auf ihn einstürmende Meute zu drängen.

Über einen Menschen im Unglück zu reden, fällt schwer. Es lähmt einem beinahe die Zunge. Denn für den Betroffenen selbst bedeutet es weder Hilfe noch Trost, dass wir uns ihm als objektive, um Verständnis bemühte Betrachter nähern.

Dennoch sind wir gezwungen, Edwin v. Hochreith in seiner Villa aufzusuchen und ihm indiskret über die Schulter zu blicken, denn er gehört nun einmal zu den Hauptpersonen des Dramas, das wochenlang die Gerichte beschäftigte und die öffentliche Meinung wohl noch lange in Atem hält. Allerdings werde ich mich bemühen, dem Vater Julia v. Hochreiths in meiner Darstellung jenes Maß an Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, welches von Leuten wie Baschke und der ganzen übrigen laut bellenden Presse kaum zu erwarten ist. Um es gleich hier zu sagen: Herr Dr. Edwin v. Hochreith ist mir von Anfang an sympathisch gewesen, gleich zu Beginn stand ich auf seiner Seite, versuchte sein Leben und Denken zu verstehen. Wenn irgendjemand schuldlos an dem versuchten Verbrechen ist, dann – so jedenfalls meine Meinung – gilt das von diesem Mann, dem Vater der Angeklagten.

Niemand, der zuvor mit ihm Umgang pflegte, hätte Herrn v. Hochreith in seinem jetzigen Zustand wiedererkannt. Bis vor wenigen Tagen war er, was man eine Erscheinung nennt, ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und buschigen Augenbrauen, physisch imposant, geistig überlegen, aber ohne diesen Vorzug anderen gegensie rnehmer t, war genwar er . Hochreiths.über hervorzukehren. Anders gesagt, war er nie arrogant, sondern pflegte, wie man so sagt, gefällige Umgangsformen. Selbst wenn er in einer Sache unerbittlich sein musste, ließ er sich nie zu Anzeichen von Zorn oder gar Unmut hinreißen. Seine Waffen waren von feinerer, vornehmer Art. Es genügte, dass sich ein wenig Ironie in sein Lächeln mischte – die Kollegen und alle anderen, die ihm intellektuell das Wasser reichten, empfanden den Stich durch ein leicht belustigtes Lächeln nicht weniger tief, als wenn ein Tölpel sie mit einer Ohrfeige bedroht haben würde. Genau darin lag ja die Überlegenheit des Bankiers und ehemaligen Regierungsberaters Edwin v. Hochreiths, dass er nie laut werden, seinen Unmut nie nach außen zu kehren brauchte, um von jenen verstanden zu werden, die ihn verstehen sollten. Wenn man diesem Mann einen Mangel nachsagen konnte - einen sehr großen Mangel vermutlich -, dann war es nur der, dass er gar keinen Wert darauf legte, von anderen verstanden zu werden. Die anderen interessierten ihn nicht.

Erst jetzt, sehr spät, wurde er sich bewusst, dass die anderen - all jene also, die seine Zurückhaltung und seine Ironie nicht verstanden – dass diese anderen die Mehrheit ausmachten, vor der ihn nun niemand mehr schützen würde. Die Mehrheit lauerte draußen vor seinem Haus, sie war frech genug, dauernd zu klingeln, ihm SMS auf sein Handy und Emails auf seinen Computer zu schicken.

Woher hatten sie seine Nummer? Woher nahmen sie die Unverschämtheit, ihn mit Telefonanrufen und Botschaften zu belagern, seinen Namen in aller Öffentlichkeit in den Dreck zu ziehen, den Namen einer Familie, deren Stammbaum mit seinen tiefsten Wurzeln bis ins 12. Jahrhundert reichte? Die ersten v. Hochreiths waren ein Rittergeschlecht aus dem südlichen Franken.

Genau jene Mehrheit, die für ihn bis dahin keine Bedeutung besaß, die belagerte ihn nun. Es nützte ihm wenig, dass er drei Security-Leute damit beauftragt hatte, den Park vor der Villa und diese selbst gegen Eindringlinge zu schützen. Da hatte er immerhin das Recht und die Polizei auf seiner Seite. Auch wenn sein Anwesen nun ein Gefängnis war, aus dem man ihn morgens in einem dunklen Mercedes in die Bank im Zentrum der Stadt fahren musste, das Gefühl, in einem Gefängnis eingeschlossen zu sein, war nicht einmal das Schlimmste. Viel schlimmer war es, was sich gleich nach Bekanntwerden des Unfassbaren zeigte: Er musste erfahren, dass er, bisheriger Chef und Mittelpunkt der altehrwürdigen Hochreith-Bank, über Nacht zu einem existenziellen Risiko für die eigene Firma geworden war. Seine treuesten Mitarbeiter hatten ihn angefleht, öffentlich seinen Rücktritt bekanntzugeben. Nur einen knappen Augenblick lang währte seine Empörung. Dann war ihm klar, dass ihre Forderung nur zu berechtigt war. Die Aktien der Bank waren über Nacht auf ein Zehntel ihres Werts abgestürzt. Mancher Chef hatte schon allein deswegen zurücktreten müssen, weil die Kurve der Aktiennotierung nicht länger nach oben wies.

Dies alles hätte Edwin v. Hochreith noch zu ertragen vermocht. Er war kein Schwächling, kein Mann, der vor Schicksalsschlägen feige zurückgeschreckt wäre. Zehn Jahre seines Lebens hatte er in Neu-Delhi verbracht, in einem Land, wo das Schicksal mit den Köpfen von mehr als einer halben Milliarde Menschen auf grausame Weise Würfel spielt. Von Hochreith kannte den Tod, er kannte die blutige Tatze des Ungeheuers, das sich in grimmiger Wut einen Spaß daraus macht, Menschen, die eben noch lachten und scherzten, zerfetzt in die Gosse zu schleudern. Vor dem Ungeheuren und Unberechenbaren hatte er nie die Augen verschlossen; er ahnte, dass niemand vor der Pranke eines mutwilligen Fatums vollkommen sicher war. Er ahnte es mit jenem ungläubigen Staunen und jenem Schauder, die ihn manchmal in Stunden der Muße heimsuchten, wenn er sich Fragen nach dem Wozu und Warum überließ, Fragen, die er in seinen Arbeitsstunden – und die machten den Großteil seines Lebens aus – weit von sich zu drängen vermochte.

In solchen Stunden war er nicht länger der selbstbewusste, durch sein entschiedenes Handeln allen anderen überlegene Banker, als den man ihn draußen kannte, sondern ein Mann, den die Zweifel plagten. Schmerzhaft war er sich dann bewusst, dass es für ihn keine Erklärung gab, auch wenn andere, z.B. die Inder, in deren Land er mit seiner Familie ein ganzes Jahrzehnt verbrachte, alles so gut zu erklären glaubten. Dort waren sie überzeugt, dass es die Sünden oder Tugenden der eigenen vergangenen Existenzen waren, die den einen ins Unglück stießen, dem anderen Glück bescherten.

Schön, wenn man eine so einfache Deutung besaß. Von Hochreith besaß sie nicht und machte sich auch nicht vor, sie zu besitzen. Ungläubig und manchmal fassungslos blickte er auf die Dinge, die sich in seinem Umfeld ereigneten.

Oft war es ihm freilich eine Hilfe gewesen, die großartigen Verse jenes islamischen Mystikers Djalal od-Din Rumi aufzusagen, die in schöner Kalligraphie auf seinem Schreibtisch prangten:

Ich bin das Sonnenstäubchen, ich bin der Sonnenball.

Zum Stäubchen sag' ich: bleibe! und zu der Sonn': entwall!

Ich bin der Morgenschimmer, ich bin der Abendhauch.

Ich bin des Haines Säuseln, des Meeres Wogenschwall.

Ich bin der Mast, das Steuer, der Steuermann, das Schiff;

Ich bin, woran es scheitert, die Klippe von Korall'.

Ich bin der Baum des Lebens und drauf der Papagei;

Das Schweigen, der Gedanke, die Zunge und der Schall.

Wenn er diese einzigartigen Verse sprach, dann geschah es fast immer, dass die beiden Moscheen links und rechts des Tadsch Mahals vor seinen Augen auftauchten. Er sah, wie ihre klaren Silhouetten im Dämmerlicht des Abends plötzlich zu leben und zu sprühen begannen und ihn in einen ganz seltsamen Zustand versetzten. Für einen flüchtigen Augenblick hatte er damals gefühlt, dass er selbst das Schweigen war und der Schall: die ganze ihn umschließende Welt und andererseits diese Welt nichts anderes als er selbst. Später, in seinen Mußestunden, versuchte er manchmal, die damalige Empfindung durch die Erinnerung erneut in sich zu beschwören, aber es gelang ihm nicht mehr, auch wenn die Verse Rumis ihn jedes Mal auf geheimnisvolle Weise berührten.

Das Indien der Hindus und der Muslime lag bereits mehrere Jahre zurück. Edwin v. Hochreith war sich bewusst, dass die damaligen Gefühlsregungen eigentlich gar nicht zu einem Finanzfachmann passten. Seine tägliche Mission bestand darin, eine Vielzahl an praktischen Problemen zu lösen. Dennoch hatte Indien seine Spuren auch in ihm hinterlassen. Soweit es in seinen Kräften stand, hatte sich der Banker Edwin v. Hochreith vorgenommen, die Summe des Unglücks in dieser Welt nicht noch durch eigenes Tun zu vermehren. Das war sicher nicht immer leicht für den Chef eines Unternehmens, das einer überwiegend reichen Klientel zu Diensten sein musste. Doch war sich v. Hochreith zumindest keiner groben Verfehlungen bewusst; im übrigen schützte er sich durch wohlwollende Strenge und – wenn es sein musste – durch jenes ironische Lächeln, das ihn wie eine Festungsmauer umgab.

Aber was war aus dieser Mauer geworden? Sie hatte ihn nicht vor dem größtmöglichen Unglück bewahrt: Jetzt, von einem Tag auf den anderen, stand seine Festung ohne alle schützenden Mauern da. Edwin v. Hochreith vermochte sich nicht länger zu wehren. Es war nicht so sehr der Verlust der Bank, seiner Bank, der ihn niederdrückte, obwohl ihn der erzwungene Rücktritt überaus schmerzte. Soviel hatte er in Indien gelernt, dass man jederzeit darauf gefasst und bereit sein musste, alles aufzugeben, was einem wichtig und teuer war. Aber eines konnte er nicht verschmerzen. Dieses eine hatte seine Schultern in wenigen Tagen gebeugt und zog ihn wie mit Bleigewichten hinab. Von diesem Schlag, so wusste er, würde er sich nie mehr erholen.

Hochreith hatte sich aus dem Sessel erhoben; nach wenigen ziellosen Schritten durch den Raum blieb er vor dem ‚Zaubergarten’ von Emilie Rajputra stehen. Der Garten hatte ihm noch immer geholfen, er wusste selbst nicht warum. Waren es die feurigen Farben, diese rot und blau lodernden Bäume, die aus einem Labyrinth aufwuchsen? War es diese geheime Ordnung, die das scheinbar chaotische Wuchern beherrschte, keine mathematische, keine abstrakte, sondern - wie sollte man es sagen? - eine Ordnung des Charismas oder der Neugeburt? Er hatte das Bild immer wieder zu ergründen versucht und war dabei doch nie zu einem rational befriedigenden Abschluss gelangt. Das einzige, was sich unbestreitbar von der Wirkung des Gemäldes behaupten ließ, war die doppelte Reaktion, die seine Betrachtung jedes Mal in ihm hervorrief: Es verschaffte ihm einerseits eine tiefe Befriedigung und zugleich eine Ermunterung und Tonisierung, die das Gegenteil von einschläferndem Frieden war.

Das Bild ist, so hatte er sich zugeflüstert, als er das erste Mal vor ihm stand, dieses Bild ist unendlich. Es ist ganz Indien, wie ich es kenne, aber es ist noch viel mehr, weil Indien größer ist als die Welt. Er hatte keinen Augenblick gezögert, das Bild für einen exorbitanten Preis einem kleinen indischen Museum in Allahabad abzukaufen – und diesen Kauf später niemals bereut. Doch als v. Hochreith seine Wirkung jetzt auf die Probe stellte, musste er erleben, dass es gegen das größte Unglück ohnmächtig blieb. Auch der Zaubergarten war nicht imstande, ihm die erdrückende Last von den Schultern zu nehmen und ihn aus seinen Ängsten zu reißen.

Er machte noch einen weiteren Versuch, trat etwas zur Seite, wie er es auch sonst zu tun pflegte, um die in rätselhafter Ordnung aufwuchernde Landschaft von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Man musste die Details in diesem geordneten Chaos ergründen. Es gab ja Geschehnisse in diesem Bild, die herausfordernd wirkten: Gestalten von unbestimmten Konturen, die wie aufpoppende Maiskörner von einem unsichtbaren Dämon in die Höhe geschleudert wurden. Immer erneut hatte er sich gefragt, was die Künstlerin damit sagen wollte. Es war ja keineswegs so, dass sie ein unheimliches Geschehen beschrieb, dazu waren die Farben, das Korngelb der Dächer oder das dunkle Blau der fadengleich aus ihnen hervorwachsenden Figuren viel zu froh oder zu berührend geheimnisvoll. Im Grunde war das Bild nichts anderes als die Welt: ein Rätsel, das er nie lösen würde.

Sein Bemühen verschaffte ihm keine Linderung, er spürte die Ungeduld, den stechenden Schmerz, der seinen Augen keine Ruhe gönnte. Nein, dieses Bild entführte ihn nicht länger in eine andere Gegenwart. Gegenüber dem Unfassbaren versagte es, so wie sein Haus, seine Bekannten, seine bisherigen Freunde alle ohnmächtig gegenüber dem Geschehenen waren. Man hatte ihn aus seinem gewohnten Leben gewaltsam hinausgeschleudert: in eine Landschaft ohne Farben, ohne Himmel und ohne Bäume. Die neue Wirklichkeit hatte mit dem geheimnisvollen Zaubergarten der Emilie Rajputra nichts mehr gemein. Seine eigene Gegenwart war farblos, sie war kein Labyrinth, sondern Ödnis und Nacht.

Wenn es nur ihn betroffen hätte! Viel schlimmer, unendlich viel schlimmer war es, dass es sein eigenes Kind betraf. Vermutlich hatte er versagt, ja, das war ganz sicher der Fall. Ein Kind wird nicht zum Mörder oder lässt sich zu einem solchen machen, wenn das Elternhaus ihm einen sicheren Schutzwall gewährte, so dass auch die größten Versuchungen des späteren Lebens wirkungslos davon abprallen. Kein Zweifel, er selbst hatte sich als unzulänglicher Vater schuldig gemacht.

Hochreith trat mit einer ungewollt hastigen Bewegung zurück, als hätte ihm jemand einen Hieb versetzt. Nur noch aus bloßer Zerstreutheit streiften seine Augen über das Bild, dessen Titel ‚Der Zaubergarten’ ihm auf einmal zweideutig erschien. Ein Zauber konnte Gutes, aber auch Böses bewirken. Es gab da einen Fleck rechts unten am Bild, wo ein trauriges Braun sich zu Figuren verknäuelte, die man für tropisch vegetative Formen, für aufreizende Gebilde der Tiefseefauna oder auch für missgestaltete menschliche Wesen von der Art vielarmiger indischer Götter ansehen konnte. Hochreith hatte aus diesem Bild immer nur Beruhigung gelesen, auf einmal wusste er, dass es auch Angst lehren konnte. Er streckte beide Arme aus, hob das Bild von der Aufhängung, drehte es um und stellte es auf den Boden und an die Wand. Dieser eine Handgriff genügte, um den Raum fremd erscheinen zu lassen. So fremd, wie er selbst sich jetzt darin fühlte.

Da fiel ihm der Mann ein, an den er sich wenden musste:

Kudorsky, murmelte er.

Dieser Name sagt einem Laien vermutlich gar nichts, aber er ist ein Begriff für jeden, der mit dem Gerichtswesen unseres Landes vertraut ist. Kudorsky hat sich als einer der besten und natürlich auch als einer der bestbezahlten Anwälte einen Namen gemacht. Wer über das nötige Geld verfügt und sich in einen Fall verstrickt sieht, der allen anderen als hoffnungslos gilt, der wendet sich an Kudorsky, einen Magier seiner Zunft, der aus wertloser Schlacke Gold und aus Schwarz Weiß zu machen versteht.

Tatsache ist, dass Edwin v. Hochreith Menschen dieses Schlags niemals schätzte. Alle Kunst, die darin besteht, die Wirklichkeit zu vertuschen und zu verfälschen, erschien ihm immer verachtenswert.

So weit ist es mit mir gekommen, flüsterte er im selben Moment, als der Name Kudorsky in seinem Kopf aufblitzte. So weit ist es mit mir und der Familie Hochreith gekommen, dass wir einen Mann wie Kudorsky brauchen. Doch unterdrückte er das aufwallende Unbehagen. Er unterdrückte es, weil er wusste, dass er jetzt keinen anderen als gerade diesen Kudorsky brauchte und dass er, der bis dahin als unbestechlich galt, sogar die Wahrheit opfern würde, wenn das seinem Kind einen Vorteil brächte.

Hinter ihm auf dem Schreibtisch lag die Ursache seiner Verzweiflung: dieser furchtbare Schmutz- und Schmierartikel aus der Post, dem Massenblatt, das von neunzig Prozent der Bevölkerung so gierig wie der tägliche Morgenkaffee eingeschlürft wird. Da stand schwarz auf weiß und für alle Zeit unauslöschlich, was aus der Familie v. Hochreith geworden war. Wenn auch nur die geringste Aussicht bestand, dass ein Kudorsky diese Schmach vor dem Gericht und der Welt zu entkräften vermochte, dann war ein solcher Versuch sein ganzes Vermögen wert. Aber im Grunde schien ihm alles vergeblich. Wie sollte man die gerichtskundigen Tatsachen aus der Welt schaffen, die dieser Artikel beschrieb?

Frau Julchen Terror

Marianne Steuben, ehemalige Freundin der Terroristin, spricht Klartext. Julia v. Hochreith hätte sie schon früher mit ihren linksradikalen Ansichten erschreckt. Ich versuchte, so Frau Steuben, Julia zur Vernunft zu bringen. Vergebens. Leider hat ihre Familie sie von dem verhängnisvollen Schritt nicht zurückhalten können. Sie wissen, Geld verdirbt den Charakter, und in einer Bank gibt es ja Unmengen davon. Religiöser Fundamentalismus und Geldgier, von der sie im Hause eines steinreichen Bankiers natürlich von früh auf umgeben war - ich glaube, beides zusammen hat meiner Freundin den Kopf verdreht. Glücklicherweise habe ich bei meinem letzten Besuch in ihrer Studentenwohnung einen Blick in einen ihrer Notizblocks geworfen, daraus erfuhr ich, dass sie ihren letzten Schritt für den kommenden Tag ankündigt. Sogleich habe ich die Polizei verständigt und auf diese Weise das Verbrechen im letzten Moment verhindert. Ohne mich wäre sie zur Mörderin, vielleicht zur Massenmörderin geworden. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich Julias Unglück bedaure! Jetzt nimmt das Recht seinen Lauf, vermutlich wird meine arme Freundin nie wieder die Freiheit erlangen.

Ist Marianne Steuben eine Verräterin? Lesen Sie unsere nächste Ausgabe!“

Herr v. Hochreith schüttelte den Kopf. Er wusste, dass das unmöglich die Worte Marianne Steubens sein konnten, der besten Freundin Julias, die sie zehn Jahre lang jeden Januar, wenn die Temperaturen in Delhi am erträglichsten waren, für eine Woche besuchte und damals beinahe zur Familie gehörte. So hatte sie niemals geredet, das war nicht ihre Art. Er hätte den Artikel am liebsten zerrissen, stattdessen legte er ihn auf das Fensterbrett und ging zu dem Bild, das er mit der Ansicht zur Wand abgestellt hatte. Er drehte es neuerlich um, hing es wieder an den alten Platz. Dann ließ er sich in den Sessel fallen.

Ein Chronist hat es nicht leicht. Selbst wenn er die Tatsachen einigermaßen verlässlich aus dem Mund der Akteure erfährt, wird er doch niemals in ihren Kopf hineinschauen können. Doch selbst, wenn er sich in ihre Lage versetzt und vielleicht sogar glaubt, wissender oder gar klüger als die Handelnden selbst zu sein, so bleibt er doch immer der unbeteiligte Außenseiter, der über den Schmerz nur berichtet, ohne ihn lindern zu können. Wir lassen einen Mann im ersten Stock der Villa Hochreith zurück, der noch vor wenigen Tagen für viele ein Vorbild, ein Gegenstand der Bewunderung und des Neides war, aber der jetzt nur noch ein Häufchen Elend ist, in dessen Haut kein anderer Mensch stecken möchte.

Im Schatten der Schuld

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