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Richterin Wollbruck
ОглавлениеIm Gerichtssaal drängen sich die Menschen, selbst im Innenhof des großen Gebäudes in der Marschallstraße herrscht Gedränge, der Sicherheitsdienst hat das zweiflügelige Eingangstor mit Hilfe dreier Wachleute schließen müssen. Daran war natürlich der ungeheure Medienrummel schuld. Ein offenkundig terroristischer Anschlag - das allein hätte schon für einen vollen Saal gesorgt, aber ein Anschlag geplant von einer jungen Frau aus bester Familie, das war eine Sensation, die auf Anhieb zum Gesprächsstoff für Millionen von Menschen wurde. Unbedingt wollte jeder wissen, was für ein Mensch oder besser, was für ein Unmensch diese Tochter aus bestem Hause war. ‚V. Hochreith’, diesen Namen hatte man bisher nur mit Ehrfurcht über die Lippen gebracht. Selbst als die meisten anderen Banken bereits ins Gerede gekommen waren, schien die Bank ‚Hochreith und Brüder’ jenseits allen Zweifels und aller Verdächtigungen zu stehen. V. Hochreith, dieser Name galt als Synonym für Seriosität und Anständigkeit - ein leuchtendes Gestirn an einem Himmel, an dem nur noch wenige Sterne glänzten, zu denen die Leute mit Vertrauen aufblicken konnten. Die Nachricht, dass eine Tochter aus diesem Haus beinahe ein unerhörtes Verbrechen begangen hätte, schlug deshalb im Bewusstsein der Öffentlichkeit wie eine Bombe ein. Von einem Moment auf den anderen hatte der Name allen Glanz eingebüßt, sich schlagartig verdunkelt, statt Vertrauen erregte er nun äußerste Empörung. Dieser lief gleichsam mit einem Sprenggürtel herum. Auch wenn die Ordnungskräfte aufgrund ihres rechtzeitigen Eingreifens die Zündung dieses Gürtels verhindern konnten, der Name war ruiniert, in tausend unförmige Stücke zersprungen, zerfetzt und in den Dreck gezogen.
Die im Gerichtssaal zusammengeströmten Menschen drängten sich in Erwartung auf einen Schauprozess. Sie hatten einem Namen vertraut und sahen sich in ihrem Vertrauen getäuscht. Das ist es, was Menschen am wenigsten vertragen und wogegen sie sich mit dem Bedürfnis nach Rache wehren. Wenn es kleine Leute, arme Teufel oder Irregeführte sind, die ein derartiges Verbrechen begehen, dann wird das allenfalls noch für begreiflich gehalten; von solchen Leuten kann man sich eben nichts Besseres erwarten. Aber eine Tochter aus einem Hause, das vielen bis dahin als Vorbild galt, das empfinden sie als Betrug, arglistige Täuschung oder schlimmer noch: als Verrat.
Richterin Wollbruck hatte für solche Gefühle ein feines Gespür. Sie wusste, welche Erregung die Verletzung der öffentlichen Moral außerhalb des Gerichtssaal hervorzurufen vermag. Im Grunde, so ging es ihr durch den Kopf, erwartete die Menge im Saal und natürlich ebenso auch die durch die Presse seit Tagen aufgehetzte Öffentlichkeit eine Art staatlich inszenierter Hinrichtung von ihr, ähnlich wie während der Französischen Revolution, als eine sensationslüsterne Menge mit besonderem Genuss bei der Guillotinierung Dantons und Robespierres zusah, den einstigen Führern des Umsturzes. Die gleichen Gefühle waren auch in diesem Fall zu erwarten. Jemand, der bis dahin ganz oben stand und die besondere Achtung seiner Mitmenschen genoss, der sollte jetzt vor aller Augen ausgepeitscht werden; Julia v. Hochreith hatte die ihr entgegengebrachte Achtung schmählich missbraucht.
Richterin Wollbruck war allerdings fest entschlossen, sich diesem Bedürfnis nach Rache energisch zu widersetzen. Sie war eine ruhige, nicht leicht zu irritierende Frau. Ihrer unbeirrbaren Gelassenheit und Selbstsicherheit verdankte sie die schnelle Beförderung auf den verantwortungsvollen Posten, den sie seit wenigen Jahren bekleidete. Es war sehr selten, dass jemand mit dreißig das Amt eines Richters übernehmen durfte. Es war außerdem nicht lange her, da wäre es noch undenkbar gewesen, dass die überwiegend maskuline Mannschaft der Jurisprudenz eine Frau mit diesem Amt betraut.
Thea Wollbruck war sich gleichwohl sicher, dass der Prozess einfach verlaufen würde: eine reine Routine. Die Ausgangslage ließ ja keinerlei Zweifel zu. Julia Hochreith, die Angeklagte, hatte sich den Gürtel umgelegt und sich zu Fuß auf den Weg ins Zentrum der Stadt begeben. Wohin? Das hatte sie bis dato nicht sagen wollen, trotz intensiver Befragung durch die Kriminalpolizei, vielleicht war es der Gürtler Fleisch- und Gemüsemarkt, auf dem an einem Sonnabend Vormittag regelmäßig mehr als tausend Menschen zusammenströmen. Vielleicht war es die Kathedrale, die Folgen eines Terroranschlags wären dort noch viel grauenhafter gewesen. Die Angeklagte hatte nichts abgestritten, sie zeigte auch keinerlei Reue - eine solche Verbohrtheit sei ihm in seinem ganzen Berufsleben noch nicht vorgekommen, so der Polizeipräsident, der sich die Vernehmungsprotokolle hatte zur Durchsicht und Prüfung übermitteln lassen.
Die Anwesenheit so vieler Menschen und der gespannte Blick der Öffentlichkeit auf den Prozess waren für Frau Dr. Wollbruck kein Anlass zu besonderer Besorgnis. Die Richterin war sich allerdings durchaus bewusst, dass der voraussehbare Andrang und der mögliche Einfluss, den die Volkswut auf das Verfahren ausüben könnte, vermutlich die Verantwortung dafür trugen, dass man gerade ihr den Prozess übertragen hatte. Gern hätte Thea Wollbruck darin einen Beweis besonderer Wertschätzung vonseiten ihrer Kollegen erblickt. Sie war aber Realistin genug, um zu wissen, dass man einen Fall wie diesen, der in der Öffentlichkeit höchstes Aufsehen erregt, gewöhnlich keinem Richter überträgt, der erst über ein halbes Jahrzehnt Berufserfahrung verfügt. Donnegat und Gersten, die beiden ältesten und wohl auch erfahrensten Richter des Hauses, wären zuallererst in Frage gekommen. Thea Wollbruck musste sich daher eingestehen, dass es weniger eine ihr entgegengebrachte besondere Wertschätzung als vielmehr das Bedürfnis der alten Herren war, das heiße Eisen möglichst weit von sich zu schieben, das sie veranlasst hatte, den Fall an sie abzutreten.
Tatsache war dann aber, dass Thea Wollbruck den Casus sorg- und bedenkenlos übernommen hatte. Wenn ein Fall so eindeutig ist wie dieser, dann nimmt die Gerechtigkeit ihren durch nichts zu beirrenden Lauf - gerade dieser Umstand verschaffte der Richterin ein Gefühl von Verlässlichkeit und von Ordnung. Zwar war die Welt vorübergehend aus den Fugen geraten, aber sie, die Richterin, trug einen Anteil und ein Verdienst daran, dass die verletzte Ordnung anschließend wieder ins Lot gerät. Darin lag ihr eigener geringer Beitrag, der Beitrag der Jurisprudenz, so hatte es ihr Lehrer Prof. Kunz einmal großspurig, aber im Grunde ganz richtig ausgedrückt, zur Aufrechterhaltung dessen, was Theologen und Philosophen als Weltordnung bezeichnen. Darin liegt der eigentliche Sinn der Jurisprudenz.
An diese Worte ihres damaligen Lehrers erinnerte sie sich gern. Selten waren ja die Momente echter Befriedigung, die sie mit der Gewissheit beschenkten, einen Beruf gewählt zu haben, mit dem sie nicht nur einverstanden sein konnte, sondern den sie auch wirklich liebte. In vielen Verfahren war es ja keineswegs ausgemacht, wo das Recht eigentlich lag, der Angeklagte war nur selten ein unzweideutiger Verbrecher, oft trugen auch Kläger und Opfer einen beträchtlichen Teil der Schuld. Eindeutig waren nur Paragraphen, die Wirklichkeit konnte bisweilen derart komplex aussehen, dass man nach einem Richtspruch mit einem unguten Gefühl, vielleicht sogar mit einem schwer zu verdrängenden Schuldbewusstsein das hohe Haus verließ.
Insofern bedeutete der vorliegende Fall eine seltene Ausnahme. Wenn ein Mensch einen Sprenggürtel trägt, um unschuldige Mitmenschen mit sich in den Tod zu reißen, dann lassen die Fakten keinerlei Zweifel und Ungewissheiten zu. Dann durfte man zu hundert Prozent sicher sein, dass der eigene Beruf unverzichtbar und schlechthin notwendig ist und einen durch nichts zu ersetzenden Sinn besitzt.
Richterin Wollbruck war sich ihrer Sache so vollkommen gewiss, dass sie sich sogar gewissen Erinnerungen überließ, die mit dem anstehenden Verfahren absolut nichts zu schaffen hatten. Es gab da einen Mann, Wendelin de la Mar, dem sie vor einer Woche im Reitclub begegnet war. Sie verhehlte sich nicht, dass sie zum ersten Mal nach dem unglücklichen Abenteuer einer kaum einjährigen Ehe gleich zum Beginn ihres Studiums, also nach beinahe dreizehn Jahren, eine gewisse Neigung in sich aufkeimen sah, deren sie sich nach der Trennung aus jener völlig verfrühten Verbindung überhaupt nicht mehr fähig glaubte. Während des Studiums, der darauf folgenden Assistenzzeit und in den vergangenen fünf Jahren ihrer Stellung als Richterin hatte sie für Männer absolut keinen Blick gehabt, ihn nicht einmal haben dürfen. In die hohe Stellung als Richter gelangte man nicht als eine Frau, die sich nebenbei noch Affären leistet. Männer, das war ein Luxus, der für sie seit damals nicht mehr in Frage kam – so hatte sie jedenfalls noch bis vor kurzem geglaubt. Doch dieser junge Mann – er war möglicherweise zwei, vielleicht sogar drei Jahre jünger als sie - hatte ein so vorzügliches Auftreten, so angenehme Manieren. Eleganz, nein, das war keine treffende Bezeichnung. Eleganz hätte sie eher misstrauisch gestimmt, eine schöne Fassade konnte sich leicht als potemkinsches Werk erweisen, hinter dem sich der Bluff versteckt, aber Wendelin zeichnete sich durch ein ebenso vornehmes wie zurückhaltendes Auftreten aus.
Zunächst einmal war es ja überhaupt bloßer Zufall gewesen - natürlich war es ein Zufall! -, dass er vor einer Woche im Reitclub sich gerade an ihrem Tisch niedersetzte. Er konnte nicht wissen, dass sie Richterin war, geschweige denn ihren Namen kennen und schon gar nicht den Mädchennamen, den sie vor ihrer kurzlebigen Ehe trug und den selbst ihre Gerichtskollegen nicht kannten. Im übrigen gab es keine strengen Sitzregeln im Club. Theoretisch konnte der Zufall jedes Mitglied mit jedem anderen zusammenwürfeln. Dazu war ein sozialer Club ja gedacht!
Der Fremde hatte ihr eigentlich nur guten Appetit gewünscht. Danach war man jedoch völlig zwangslos auf das Reiten zu sprechen gekommen. Das alles war ja normal und im Grunde selbstverständlich. Sie musste sich davor hüten, jeder Begegnung mit zu großem Misstrauen entgegen zu sehen. Wenn man wie sie einen so gefährlichen Mädchennamen verheimlichen musste und überdies durch den eigenen Beruf noch zu äußerster Genauigkeit bis hin zum Misstrauen geradezu gedrillt und konditioniert war, dann neigte man natürlich zu übertriebener Vorsicht. Dennoch blieb es richtig und wahr, dass der Zufall und nichts anderes diesen Mann an ihren Tisch geführt hatte. Der Zufall hatte das Gespräch auf das Reiten gebracht. Dass sie anschließend über ihre Reisen in den Süden zu reden begannen, konnte ebenso wenig einen Anlass zu Zweifeln geben. War es nicht ein Zeichen von Offenheit und gutem Benehmen, dass er sich ihr dann auch regelrecht vorstellt hatte? Wendelin de la Mar, Unternehmenschef, Immobilien.
Wissen Sie, nichts Besonderes, aber Verarmung braucht man in einer solchen Stellung glücklicherweise nicht zu fürchten - so hatte er sich in aller Bescheidenheit ausgedrückt. Sie musste sich eingestehen, dass es ihr einfach Spaß gemacht hatte, seiner ruhigen, nie übertreibenden, keineswegs einschmeichelnden, aber doch selbstbewussten Stimme zu lauschen.
Alles weitere hatte sich dann mit gleicher Zwanglosigkeit ergeben. Man begegnete einander vor oder nach dem Ausritt, saß neuerlich beisammen, und da war es ihr schon beim zweiten Mal klar, dass sie der Begegnung mit Freude entgegen sah, ja bereitwillig auf seinen Vorschlag einging, sich künftig zu gemeinsamen Ausritten zu treffen. Erstaunlich war es, wie sehr sich Wendelin ihr gegenüber geöffnet hatte. In der Vergangenheit, so ließ er sie wissen, ohne jedoch viel Aufhebens von dieser Vertraulichkeit zu machen, sei es ihm keineswegs immer gut gegangen; nein, ganz im Gegenteil, seine Kindheit habe er leider in großer Armut verbringen müssen. Heute sehe er darin jedoch eher einen Vorteil.
Wissen Sie, diese bescheidene Vergangenheit hat mich vor der bekannten Arroganz vieler Neureicher bewahrt, die gerne von oben herab auf ihre weniger begünstigten Mitmenschen blicken. Ich weiß, was es heißt, aus armen Verhältnissen nach oben gelangt zu sein.
Wie gerecht und natürlich er bei der Einschätzung seiner früheren und jetzigen Lage war! Wirklich, ein nicht nur gut aussehender, sondern dazu noch ein für sie geistig ansprechender und anziehender Mann! Bei ihrem letzten Zusammentreffen wusste Thea Wollbruck auf einmal, dass sie nicht nein sagen würde, wenn er sie zu sich nach Hause einladen wird, beiläufig hatte er ja schon erwähnt, dass er ein Anwesen im grünen Viertel am Ostrand der Stadt besaß. Sie machte sich gar nichts mehr vor; sie wusste und hoffte bereits, dass aus der Begegnung mit diesem Mann eine Freundschaft, ja vielleicht sogar mehr werden würde.
Seltsam, dass sie sich dieses Eingeständnis gerade in dem Augenblick machte, als sie sich der wartenden Menge im Saal gegenübersah, die ungeduldig auf den Beginn der Verhandlung harrte. Nein, sie brauchte sich wegen ihrer mäandernden Gedanken keine Vorwürfe zu machen, sondern konnte darin eher ein Zeichen untrüglicher Gewissheit sehen: Der Ausgang dieses Prozesses ließ eben gar keine Zweifel zu.
Staatsanwalt Feindser war jetzt am Wort. Seine deutlichen Statements waren geeignet, sie in dieser Überzeugung zusätzlich zu bestärken. Man habe es, so Feindser, mit einem ebenso eindeutigen wie in seinen moralischen und kriminalistischen Dimensionen ungeheuerlichen Justizfall zu tun. Ein junges Mädchen aus bestem Hause, Julia v. Hochreith, habe sich gegen die Gesellschaft verschworen, obwohl ihr eben diese Gesellschaft ein Leben in sichtbarem Wohlstand und von hohem sozialen Rang zuteil werden ließ - anders als ihren vielen weniger begünstigten Mitbürgern, die ein hartes und oft auch ungerecht entbehrungsreiches Leben am Rand der Gesellschaft führen. Verzweiflung, das sei ja für niemanden ein Geheimnis, habe schon manche Menschen auf eine schiefe Bahn geleitet. Auch wenn es dafür gewiss keine Entschuldigung gebe – der Staat müsse sich nun einmal gegen diejenigen wehren, die ihn zu zerstören trachten –, so könnten wir die Motive solcher Rebellen doch immerhin halbwegs verstehen. Aber absolut jedes Verständnis fehle uns für einen Menschen, der von Luxus verwöhnt und von seinen Mitbürgern geachtet, sich dennoch dazu entschließt, dieselben mutwillig hinzumorden, denn nichts anderes, liebe Geschworene, hatte diese Frau sich vorgenommen. In keiner Gesellschaft gibt es Schlimmeres, als wenn gerade diejenigen, die ihr als Vorbild zu dienen hätten, das gerade Gegenteil tun, indem sie stattdessen gegen sie rebellieren und dabei nicht nur alle Regeln der Mitmenschlichkeit verletzen, sondern ihr Menschentum selbst mit Füßen treten.
Feindser: Ich sage Ihnen, die Tatsache, dass diese Frau nicht dazu kam, ihr mörderisches Ziel zu verwirklichen, darf für das Gericht keinen Milderungsgrund abgeben. Wir haben sie genauso zu richten, als hätte sie Dutzende oder vielleicht Hunderte von Menschen auf dem Gewissen, denn nichts anderes hatte sie vor. Sie ist eine Terroristin, welche die ganze Strenge des Gesetzes verdient.
Befriedigt lehnte sich Richterin Wollbruck zurück. Der Wahrheit gemäß muss dies verzeichnet werden, obwohl es manchem wohl kaum gefallen wird, dass ein Mensch sich nach dem Anhören solcher Grässlichkeiten einfach zurücklehnen kann und dabei zu allem Überfluss auch noch Befriedigung verspürt. Aber genauso verhielt es sich, und wir dürfen die Richterin dafür nicht übermäßig tadeln, denn sie dachte nicht in erster Linie an das Verbrechen, sondern daran, wie es ordnungsgemäß erfasst und behandelt wird. So gesehen, war sie zufrieden, denn so und nicht anders hatte sie sich die Anklage vorgestellt. Die Leitgedanken würde sie genauso entwickelt und herausgestellt haben. Nein, vielleicht mit etwas weniger Pathos.
Feindser ist eben ein Herr der alten Schule, der hat noch Rhetorik studiert. Donnewat hatte sich in ihrer Gegenwart einmal hinter vorgehaltener Hand darüber lustig gemacht, dass Feindser gerne Cicero liest. Von dem könne man heute noch etwas lernen!
Thea Wollbruck fand das damals eher komisch, die jungen Staatsanwälte waren weit nüchterner, große Worte hört man nur selten aus ihrem Mund; von der Gesellschaft und ihren Ansprüchen ist kaum noch die Rede.
Ein bisschen weniger Pathos ist mir persönlich lieber, das muss ich schon sagen; allerdings können moderne Plädoyers dafür zum Einschlafen langweilig sein. Feindser kann immerhin darauf rechnen, dass einige seiner Sätze - stark gekürzt selbstverständlich - morgen früh in den Boulevardblättern im Fettdruck erscheinen. Eine Reaktion vonseiten der Verteidigung oder dem Hause Hochreith - Anklage wegen Verleumdung etc. - ist in diesem Fall nicht zu befürchten. Der Fall ist zu eindeutig, da gibt es kein Wenn und schon gar kein Aber.
Natürlich war Thea Wollbruck dennoch gespannt, was Verteidiger Kudorsky nach dem Statement des Staatsanwalt noch zu sagen hätte. Sie wusste, der Mann war stets für Überraschungen gut - das war er schon seinem Rufe als Staranwalt schuldig. In wenigen Tagen konnte der Mann so viel verdienen wie ein Richter in einem ganzen Jahr. Man warf ihm Millionen nach, nur damit er aus Krumm Gerade machte und Schwarz in Weiß verdrehte. Das war schon schlimm genug, aber dass ihm solche Verdrehungen fast immer gelangen, war überhaupt das Schlimmste. Allerdings hatte Kudorsky nie an einem Verfahren teilgenommen, dessen Vorsitz sie selber führte. Er würde schon sehen, dass man ihr mit durchsichtigen Finten nicht kommen kann. An ihr würde sich auch ein Kudorsky die Zähne ausbeißen. Überall, wo es Zweideutigkeiten, Verfahrensfehler, Widersprüche und Schlampereien von Polizei oder Staatsanwaltschaft gab, verstand dieser Mann sein Talent auszuüben, die Fehler der anderen, das war sein ureigenes Terrain. Aber diesmal lagen dem Gericht unanfechtbare Beweise vor. Es gab die Täterin, und es gab die Tatwaffe, den Sprenggürtel. Gegen die überwältigende Evidenz solcher Fakten kommt selbst ein ihn allen Finten geübter Anwalt nicht an.
Eigentlich warf ein Fall wie dieser sogar die Frage auf, ob Verteidigung unter solchen Umständen überhaupt noch einen Sinn besaß. Gewiss war in einer demokratischen Rechtsordnung die Anwesenheit eines Verteidigers grundsätzlich vorgesehen. Ein Angeklagter verdient ja Hilfe, weil er eines Verbrechens möglicherweise zu Unrecht bezichtigt wird; aber Julia v. Hochreith war nach allen Regeln der Kunst überführt, im Grunde war alle Verteidigung hier rein formal. Jeder musste begreifen, dass Verteidiger Kudorsky nur als Instrument herhalten sollte, um einem reichen Auftraggeber, in diesem Falle dem Hause Hochreith, einen letzten Ausweg zu verschaffen: Mit den Mitteln der Rechtsverdrehung sollte die Verteidigung alles nur Mögliche unternehmen, um die Rechtsordnung und Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben.
Entschlossen, sich nicht beirren zu lassen, sah Richterin Wollbruck den Ausführungen des Staranwalts entgegen.
Was dann kam, war einfach - so einfach, dass sie zunächst ganz verdutzt war und einen Augenblick zögerte, bevor sie das Ende der Sitzung verkündete.
Kudorsky stellte fest, dass das Mordinstrument, der Sprenggürtel, in seiner der Polizei vorliegenden Form keinen Beweis darstellte, weil die Angeklagte ihn auch beim besten - in diesem Fall eher dem bösesten - Willen nicht hätte zünden können. Der Anschluss für ein Zündungshandy sei in Gestalt eines Audiosteckers zwar vorhanden, das Zündungshandy selbst aber habe gefehlt und wurde bis heute nicht aufgefunden. Damit stehe man vor einer völlig neuen Situation. Julia Hochreith sei möglicherweise nur das ausführende Organ einer sie aus dem Hintergrund manipulierenden Bande gewesen, die sie zu dieser Tat anstiften oder nötigen wollte.
Die Angeklagte, bis dahin reglos und mit eingesunkenem Körper auf der Anklagebank verharrend, richtete bei diesen Worten den Kopf in die Höhe und unterbrach den Verteidiger mit beleidigenden Worten.
Unsinn!, fauchte sie. Sie allein bekenne sich ohne Wenn und Aber zu dieser Tat, die sie ganz allein habe ausführen wollen. Sie wisse nicht, wie das Zündungshandy abhanden gekommen sei. Im übrigen brauche sie diesen Verteidiger nicht und wolle von ihm nichts wissen. Mehr werde sie auf keinen Fall sagen.
Es war der Richterin bekannt, dass die Angeklagte jede Zusammenarbeit mit der Polizei abgelehnt und zu allen Fragen verbissen geschwiegen hatte. Jetzt wusste sie überdies, dass auch der Verteidiger von dieser Frau keine Auskünfte erhielt. Nach wie vor war der Fall für sie eindeutig, dennoch nötigte es ihr eine gewisse Bewunderung ab, dass es Kudorsky auch diesmal und noch dazu gleich am Beginn des Verfahrens so mühelos gelungen war, Sand ins Getriebe zu streuen. Solange nicht zu beweisen war, dass Julia v. Hochreith allein und aus eigenem Antrieb gehandelt hatte, würde ein Abschluss des Verfahrens als voreilig und unstatthaft erscheinen. Sie sah sich genötigt, die Sitzung zu unterbrechen und einen neuen Termin festzulegen.
Die Verzögerung war ärgerlich, aber nicht zu vermeiden. Die unerwartete Wendung hätte sie vielleicht wirklich verstimmt, wäre es ihr in diesem Augenblick nicht in den Sinn gekommen, dass sie am späten Nachmittag wieder Wendelin zu einem gemeinsamen Ausritt treffen würde. Das würde allen Ärger auf der Stelle vertreiben.