Читать книгу Allah und die Klavierspielerin - Till Angersbrecht - Страница 4
10 Uhr 55 vormittags
ОглавлениеEinem Silberreiher zucken die Muskeln seiner Flügel, selbst wenn er langbeinig durch Wasser oder über Wiesen stolziert. Man sieht es ihm an, dass seine Bodenhaftung gering ist. Ein Airbus aber unterscheidet sich in wartendem Zustand in nichts von einem phantasievoll gestalteten Gebäude, wie es moderne Architekten entwerfen. Liegt das Ungetüm noch dazu im Flughafen vor der Abfertigungshalle, mit der es durch einen überdachten Laufsteg verbunden ist, dann ist es nichts als ein langgestreckter Magen oder Darm, der die Zusteigenden in seinen trägen Körper schluckt. Wie Briefe, die man durch den Kanal einer Rohrpost bläst, werden die Passagiere in den wartenden Hohlkörper geschleust, an dessen Funktionsfähigkeit sie einfach glauben müssen – was die meisten von ihnen ja auch bereitwillig tun.
In der Abfertigungshalle 13C herrschte noch die übliche Aufbruchsstimmung, nervös irrten die Augen der Wartenden zwischen der Uhr und der blinkenden Tafel mit den Angaben über Abflugs- und Ankunftsdaten. Da klickten die Ziffern, Frauenstimmen ertönten über die Lautsprecher in Englisch, Deutsch oder Französisch, je nach Destination. Der heutige Tag unterscheidet sich in keiner Hinsicht von dem üblichen Montagsbetrieb an einem kühlen Oktobermorgen. Maschinen steigen und landen in anhaltendem Gedröhn, das in das Innere der Ankunfts- und Abflugshallen freilich nur nachhallt wie fernes Rauschen und leichtes Donnern, während es draußen in der wirklichen Welt rings um das Flughafengelände den Hausfrauen in den einförmigen und blassen Einfamilienhäusern den Schweiß auf die Hände treibt oder ihre Babys zum Weinen bringt.
Ein leichter Nieselregen verhängt die Sicht mit einem trübgrauen Schleier, auch auf das Gemüt der eintreffenden Passagiere für den Inlandflug Hamburg-München scheint sich die Nässe gelegt zu habe. Einige von ihnen sind gerade eben in Bus oder Taxi eingetroffen, andere mit der Hamburger S-Bahn. Die letzteren zählen zu den wenig begüterten Gelegenheitsfliegern, denn in der Hamburger S-Bahn treiben sich seit einigen Jahren Diebe und aggressive Schüler herum, nicht zu reden von den zahlreichen Alkoholikern, die in lallendem Zustand nach Kontakt zu ihren nüchternen Mitbürgern suchen. Wären da nicht die in grauer Uniform gekleideten Ordnungskräfte mit ihren Hunden und bösen Blicken, womit sie unterschiedslos potentielle Störenfriede ebenso wie Reisende mustern, dann würde sich kein friedliebender Bürger diesem Verkehrsmittel anvertrauen, schon gar keiner von denen, die sich für eine Reise von Hamburg nach München ein Flugticket leisten.
Aber Frau und Herr Meierdom sind es gewohnt, jeden einzelnen Euro, bevor sie ihn opfern, zwei oder dreimal umzuwenden. Aufgrund eines kürzlich gewonnenen Quiz über das Seelenleben der Hunde haben sie den Flug von den Vier Pfoten geschenkt bekommen, andernfalls hätten sie die Bahn nicht bloß von Bahrenfeld bis zum Flughafen Fuhlsbüttel benutzt, sondern sich gleich noch in den Zug vom Hauptbahnhof bis nach München bringen lassen.
All diese Leute – die Bus- und die S-Bahnfahrer und jene, die im letzten Moment eintreffen, wie z.B. Prof. Stockfuß und Frau, die natürlich im eleganten BMW, oder Herr Alexander Draschke, der im schwarzen Mercedes gekommen ist - werden von Stewardessen mit geübtem Lächeln gleich hinter der Bordtür empfangen. Welch angenehmer Gegensatz zum nebligen, nieselnden Wetter da draußen! Man könnte meinen, die freundlichen Damen hätten auf nichts anderes gewartet als auf die Gelegenheit, Herrn Draschke oder Herrn und Frau Meierdom an diesem Morgen persönlich zu begrüßen.
Leider beruht dieser Eindruck auf Täuschung. In Wirklichkeit hält sich die gegenseitige Freude in recht engen Grenzen. Ein Inlandsflug verspricht weder den abwechslungsreichen Blick auf Meer oder Küsten noch die heimliche Spannung, die ein Sprung von einem Kontinent auf den anderen allen außer den Gewohnheitsfliegern immer noch verschafft. Nein, ein Inlandsflug bietet noch weniger Abwechslung als die Taxifahrt in einer Großstadt. Man kann darin eine ziemlich unverblümte Aufforderung zur Langeweile sehen, und das für eine Dauer von eineinhalb Stunden, denn etwa so lange braucht ein Airbus für die Strecke bis München.
Da können die Stewardessen noch so lächeln. Gegen die unvermeidliche Langeweile bietet das keine ausreichende Medizin, allenfalls eine schnell vergängliche Aufmunterung. Gegen das unvermeidliche Nagen der Zeit liegen daher gleich am Eingang eine Reihe von Zeitungen aus, bunte und weniger bunte. Die werden von beinahe allen Eintretenden denn auch hastig aufgegriffen, allenfalls nach einem kurzem Zögern, ob sie die bunte Variante der einfarbigen vorziehen sollen oder doch eher umgekehrt.
Merkwürdig, der Beobachter kann da noch vor dem Abflug der Maschine eine wichtige Entdeckung machen. Nach gängiger Meinung sind Zeitungen zum Lesen da. Vermutlich wird das auch stimmen, aber darüber hinaus erfüllen sie mehr als nur eine passive Rolle. Sie verhalten sich sogar äußerst aktiv, denn jeden, der an ihnen vorübergeht, zwingen sie, Farbe zu bekennen. Sie wirken sozusagen wie ein Sieb, das die Passagiere gleich in zwei verschiedene Kategorien unterteilt. Da sind einmal die sogenannten seriösen Blätter, die mit betont langweiligen Titeln ihre Anständigkeit proklamieren. Dem Eintretenden geben sie zu verstehen, dass sie die Anbiederung an den billigen Geschmack, an den Krimskrams der Fernsehbilder, an die Schliche der Werbung nun wirklich nicht nötig haben. Natürlich verzichten sie auf knalliges Rot oder überhaupt auf jegliche Farbe. Selbst wenn verschiedene erogene Zonen, vornehmlich die des weiblichen Geschlechts, an mehr oder weniger versteckter Stelle doch einmal vorkommen sollten – und das ist inzwischen fast bei allen unweigerlich der Fall – dann ist doch ein betont nüchterner Text so berechnet, dass er die aufgestörte Sensibilität empfindlicherer Naturen durch eine biedere, manchmal geradezu betont wissenschaftliche Verpackung beschwichtigt.
Aus diesem Grund bieten sie gegen die unvermeidliche Langeweile eines Inlandfluges nur unzureichenden Schutz. Die meisten Passagiere, selbst solche der höheren Bildungsschichten, greifen in dieser Situation, zumal sie ja überwiegend alleine reisen und sich daher von ihren Freunden und Kollegen unbeobachtet wissen, vorzugsweise nach den bunten Blättern mit den phantastischen Überschriften. Ein solches Verhalten lässt sich auch am heutigen Tag konstatieren. Es ist diesmal sogar besonders naheliegend, denn da sticht eines der Blätter mit auffallend grellen Farben und einem in die Augen springenden Titel hervor. Man sieht das Bild eines Mannes, dem das Blut von den Armen trieft. Darunter steht der viel versprechende Titel „Bossi frisst Herrn in Raten auf“. Das kleinere Foto der Bulldogge mit dem Namen Bossi, die dieses Verbrechen verübte, bietet sich dem wissbegierigen Betrachter ebenfalls an.
Natürlich wird das Blatt von der überwiegenden Zahl der Eintretenden ergriffen, auch solchen, die sich zusätzlich noch mit einem der seriösen Blätter versorgen.
Das bunte Blatt mit der Bulldogge Bossi ist auch die Zeitung, nach der die gerade eintretende Frau Meierdom mit schüchternem Lächeln greift. Sie ist sich nicht ganz sicher, ob sie dafür nicht zahlen muss, daher ihre Schüchternheit. Auch Herr Meierdom, ein über fünfzigjähriger Mann mit zwei wunderlich rechts und links der Glatze abstehenden Schläfenlocken, nimmt sich ein Exemplar von dem Stoß. Doch kaum ist sein Blick auf den Titel gefallen, wirft er den Kopf unwillig in die Höhe und schnaubt seiner Frau ein empörtes „So ein Unsinn“, hinüber, wobei er die lächelnde Stewardess mit seinem wütenden Blick erschreckt. Gewiss, Herr Meierdom versteht etwas von Hunden, deswegen hat er ja vor zwei Wochen seinen preisgekrönten Beitrag über ihr Seelenleben verfasst. Ein Mann wie er weiß natürlich, dass ein normales Tier zu einem solchen Verhalten gar nicht imstande ist. Der Titel empört ihn erst recht bei einer Zeitung, der er nun schon seit zwei Jahrzehnten die Treue hält. Warum steht denn da jetzt auf einmal ein so hanebüchener, schamloser Unsinn drin? Das kann man sich doch nicht bieten lassen!
Wie immer, wenn Herr Meierdom sich erregt, hat das Auswirkungen auf seinen Kreislauf. Ein gar nicht so leichtes Rot überströmt seine Wagen, die Adern treten an Nase und Wangen hervor. Sein Schritt stockt, obwohl die nachrückenden Passagiere in den offenen Leib des Airbus drängen. Am liebsten würde Herr Meierdom es gleich hier am Eingang den Leuten sagen, dass sie einen derartigen Unsinn auf keinen Fall glauben dürfen. Wie kann man den Hunden eine solche Verleumdung antun, die doch seit Jahrtausenden die treuesten Freunde des Menschen sind! Seine einzigen wahren Freunde sogar, denn auf Kameraden in Menschengestalt kann sich ja heute, wenn es wirklich auf Treue ankommt, keiner mehr wirklich verlassen. Dem Herbert Kungel hat er geglaubt. Sein bester Freund war das einmal gewesen, jedenfalls hatte er ihn dafür gehalten. Aber auch der hat ihn von einem Tag auf den anderen im Stich gelassen. Ein Hund würde das niemals tun. Ein Hund hat ihn noch nie verraten. Hunde sind einfach treu, von Natur aus.
Welch frecher Unsinn!, schnaubt er, den Druck der Nachkommenden in seinem Rücken spürend, noch einmal in Richtung zur Stewardess. Die aber lächelt, wie sie es immer tut - bei jedem der eintretenden Passagiere. Das ist die Vorschrift, und sie gilt jedenfalls solange, wie die Passagiere nicht aufsässig werden und die Ordnung im Flugzeug stören. Dann gibt es natürlich nichts mehr zu lächeln. Leider kommt dieser Fall in letzter Zeit gar nicht so selten vor ...