Читать книгу Allah und die Klavierspielerin - Till Angersbrecht - Страница 8

11 Uhr 10, Startzeit

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Die Passagiere von Flug 3201 haben ihre Sitze inzwischen eingenommen. Herr Meierdom, der Senior mit Glatze und weißen Haarbüscheln um die Schläfen, ist mit seiner reichlich fülligen Frau zu einer Tagung der Vier Pfoten unterwegs in die Stadt an der Isar, noch im Sitzen kämpft er vergebens gegen die in ihm fortschwelende Empörung.

„So ein totaler Unsinn“ hören die Nächstsitzenden ihn schimpfen und schnauben. Der Titel vom ratenweisen Verzehr eines Herrn durch seinen eigenen Hund will ihm einfach nicht aus dem Kopf.

Und so etwas muss er in einer Zeitung entdecken, die er nun schon so viele Jahre liest! Wenn Schreiberlinge von so niedriger Denkungsart bei diesem Blatt tätig sind, dann wird er sich in Zukunft genau überlegen müssen, ob er sie weiterhin liest und bezieht. Bei Hunden kennt Herr Meierdom sich aus, sie sind seine wirklichen Freunde. Wenn man ihn auf diesem Gebiet hinters Licht führt, dann ist ja überhaupt nichts mehr auszuschließen. Dann muss er ja damit rechnen, dass man ihn auch vorher betrogen hat!

Mit dieser Meinung steht der leicht erregbare, zu Rötungen neigende Mann freilich allein da. Die meisten Passagiere finden den Titel und erst recht den dazugehörigen Artikel aufregend interessant. Ihre erste Reaktion besteht darin, Mitleid mit dem Tier zu empfinden. Natürlich wird es erschossen, das ist ja wohl unumgänglich. Aber wie sehr muss der Hund vorher gequält worden sein, um sich so bestialisch zur Wehr zu setzen! Schweigend hatten sie nach dem am Eingang ausliegenden Blatt gegriffen, manche warfen schon im Gehen einen Blick hinein, während sie sich über die beiden parallelen Gänge des weiträumigen Flugkörpers verteilten und – angelangt am Platz ihrer Bestimmung - Taschen und Mäntel hinter den Klappen der Abstellfächer verstauten. Ohne die entsprechende Aufforderung durch das blinkende Licht abzuwarten, fixierten sie den physischen Teil ihrer Persönlichkeit mit dem dazu vorgesehenen Gurt und stürzten sich in die Lektüre. Man wollte doch gar zu gerne wissen, was das wohl für ein Herr gewesen sein muss, an dem sich die Dogge Bossi auf derart grausame Weise verging.

Als eine der ersten war eine Stewardess, einen Jungen an ihrer Hand, zu Platz elf H an der rechten Seite des Fliegers geeilt. Von den insgesamt acht Sitzen, die durch zwei parallele Gänge zerschnitten jeweils eine Reihe ausmachen, ist dies der am weitesten rechts befindliche. Zwei Sitzreihen weiter vorn als die Meierdoms und durch den Gang von ihnen getrennt, hatte sie dem etwa Sechsjährigen einen Fensterplatz zugewiesen, gurtete ihn eigenhändig gleich an den Sitz, bevor sie sich mit einem aufmunternden Lächeln zurückließ.

Offenbar reist der Kleine allein. Zunächst bleibt der Sitz neben ihm leer. Dann setzt sich ein vielleicht zwanzigjähriges Mädchen neben ihn auf den freien Platz. Ein Herr mittleren Alters bezieht auf gleicher Höhe den Sitz auf der anderen Seite des Gangs. Wir werden sehen, dass es sich bei den beiden um Herrn Wondrich und seine Tochter, Inge Wondrich, handelt.

In der Reihe hinter den beiden waren eben noch zwei dunkelhaarige Gestalten damit beschäftigt, die Nummern der Sitze mit ihren Flugtickets zu vergleichen. Sie könnten aus Nordafrika stammen. Als Herr Meierdom einen flüchtigen Blick zu den Leuten hinüberwirft, begegnet er den Augen einer dieser beiden Gestalten. Sie reagiert mit der Andeutung eines Lächelns.

Herr Meierdom blickt schnell zu Boden. Auch ohne sein grundsätzliches Misstrauen Ausländern gegenüber würde er in diesem Augenblick keinem Menschen einen freundlichen Blick zuwerfen können, dazu sitzt ihm der Ärger über den unverschämten Zeitungsartikel noch zu tief in den Knochen. So aber entzündet sich sein schwelender Ärger gleich wieder an diesem Blick.

Bei uns, keine drei Häuser weiter, sind doch auch schon wieder Ausländer eingezogen! Weiß der Teufel, woher sie kommen. Ist mir auch völlig egal. Aber die laden gleich zwanzig Leute zu sich in den Garten und dann machen sie einen Krach, dass man bis spät in die Nacht nicht schlafen kann. Die fühlen sich hier wie zu Hause, das war es, was ihn am meisten erboste.

Auch er hat inzwischen den Gurt fest gezogen – die Aufforderung dazu leuchtet gerade über den Sitzen auf.

Jetzt, wo Herr Meierdom endlich ruhig an seinem Platz sitzt, ist endlich die Zeit gekommen, seinem Zorn wegen der Hundesache ein Ventil zu öffnen. Da der einzige Mensch, der dafür in Frage kommt, sich an seiner Seite befindet, wird seine Frau ihn erdulden müssen. Er wendet sich zu ihr und sucht nach Worten. Herr Meierdom ist wenig beredt, deshalb sucht er erst noch nach den richtigen Worten.

Doch eher er sie findet, beginnen die Motoren schon aufzuheulen und die Maschine am ganzen Leib zu erbeben. Wer eben noch etwas sagen wollte, dem bleibt vorerst einmal das Wort in der Kehle stecken. Je mehr der Lärm außen dröhnt, umso ruhiger wird es im Inneren der Maschine. Es ist ja auch keine Kleinigkeit, wenn alle vier Turbinen eines Airbus 340-300 zur gleichen Zeit zu voller Stärke aufdrehen. Selbst der routinierte Viel- und Dauerflieger spürt dann noch dieses erdbebenartige Zittern, dieses Brummen und Dröhnen, das ihm vom Bauch bis in jene archaischen Hirnteile dringt, wo die Nervenimpulse für die Ausschüttung von Hormonen abgeschickt werden - Hormone für Kampfbereitschaft und hellhörige Vorsicht.

Nichts von diesen inneren Vorgängen verraten allerdings die äußerlich völlig unbeteiligt blickenden Gesichter. Nur der Junge ist wirklich und sichtbar aufgeregt. Er presst sein Gesicht mit großen Augen ganz nah an das kleine Bullaugenfenster, so gern würde er alles sehen, aber tatsächlich blickt er, gleich ob er nach vorn oder zurück schaut, nur auf den unförmigen Schattenriss eines Flügels, den Rest der Wirklichkeit verwischt der Nebel. Aufgeregt hin und her blickend sucht der kleine Georg trotzdem nach Schatten und Lichtern und nach Bewegung. Die anderen Passagiere aber schulden es ihrem Alter und ihrer Würde, mit gleichgültig unbewegtem Gesicht dazusitzen. Man muss schon sorgfältig auf ihr Minenspiel und ihre unwillkürlichen Bewegungen achten, um bei ihnen Hinweise auf die Wirkung dieses Dröhnens und Bebens zu finden, das den ganzen gewaltigen Leib der Maschine erschüttert. Dem einen sinkt die eben noch aufmerksam gelesene Zeitung auf die Knie, der andere bricht einen Satz in der Mitte ab, während ein Dritter sich grundlos über den Kopf streicht.

Und dann beginnt auf einmal das sich verstärkende Rumpeln über die Bahn, bei dem der mächtige Rumpf erst recht zu stampfen und sogar etwas zu schlingern beginnt. Die gewaltige Masse, im Ruhezustand durch die Gravitation wie ein Betonklotz an den Boden gepresst, wird von den vier wahnsinnig röhrenden Motoren mit äußerster Kraftanstrengung über eine glatte, wenn auch keineswegs spiegelebene Fläche gejagt. Ein kleiner Stein, eine mit dem Augen kaum sichtbare Delle in der Betonhaut genügen, um den Rädern auf ihrer immer schnelleren Fahrt einen Hieb und dann wieder einen neuen Hieb zu versetzen. So vergeht fast ein Dutzend beängstigender Sekunden mit Schlägen und Stößen, bis die von vorn gegen die Flügel peitschende Luft einen so mächtigen Druck ausübt, dass auch die letzten dem Rumpf von unten her zugeteilten Püffe mit einem Mal leiser und leiser werden und plötzlich ganz verebben.

Welch ein erlösender Übergang - von einem Augenblick auf den anderen wird aus dem Tosen im Inneren des Rumpfes die lautere, köstliche, reine Stille. Die Muskeln entkrampfen sich, das unterbrochene Wort wird wieder aufgenommen. Man blickt zu Fenstern und Nachbarn hin. Die Hände langen neuerlich nach den Zeitungen aus, während die Maschine, erst jetzt von aller Bodenhaftung befreit, sich zielstrebig in den Himmel bohrt.

Allah und die Klavierspielerin

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