Читать книгу Noplot - Till Reichenbach - Страница 4
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ОглавлениеIch war high! Mein Gefühl sagte mir, dass sich jetzt was ändert, und ich konnte noch gar nicht begreifen, dass i c h das bewirkt hatte. Leider war Vil jetzt erstmal im Stress wegen der Schule: Hätte sie einen Unfall gehabt oder einer wäre gestorben, aber so mir nichts dir nichts. Wenn das nur nicht immer so am Thema vorbeiginge, wir gingen eigentlich Tag für Tag nur noch am Thema vorbei. Alles drehte sich darum, dieses Internat zu vermeiden, indem sie ihre Supershow abzog, damit es so aussah, als gäbe es zuhause keine großen Probleme – und darum, zuhause t r o t z der großen Probleme klarzukommen. Dabei half ich ihr, weil ich ihr gerne half, nicht weil ich es für das Beste hielt, w e n n ich mal darüber nachdachte, so wie jetzt, als ich es auf einmal so sah, dass sie sich mit ihrer Schufterei ja immer mehr für dieses Internat qualifizierte, zu dem es für ihren Vater keine Alternative gab (da waren ihm ihre Einsen ein bisschen über den Kopf gestiegen), ich meine, wäre sie nur mittelmäßig, wäre der Schulwechsel ja sowieso kein Thema. Vielleicht wäre das Thema dann von Anfang an das eigentliche große Problem hier gewesen, um das es jetzt endlich einmal ging und das sich in Luft auflösen würde, wenn unsere Mutter nicht mehr so bescheuert viel kiffte und Vil nicht so piefige Vorstellungen davon hätte, wie ihre Mama zu sein hat. Mit dem ganzen Zeug quatschte ich Vil ein paar Minuten lang voll, aber das war heute dann doch zu viel, sie schaltete zwar alles, aber schaltete irgendwie hin und her, und es blieb darum erstmal bei ihrer aus drei Meter Entfernung spürbaren Sorge, die einem die Lust auf die Reise ziemlich vermiesen konnte. Ich wäre ihr für den Rest des Tages aus dem Weg gegangen, wenn sie nicht gleichzeitig auch die ganze Zeit so feierlich gewesen wäre und jede Tätigkeit wie die Vorbereitung auf ein bedeutendes Ereignis erschien. Sie lernte natürlich im Voraus, sie könne sich sonst nicht fallen lassen – fallen lassen. Sie lernte aber normalerweise immer im Voraus, was ihr übrigens nicht schwer fiel, sie konnte bis zu vier Dinge auf einmal tun, bei schwierigen Sachen nur zwei oder drei, also für zwei bis drei Fächer gleichzeitig lernen und zeichnen am Rechner (tat sie gerne) oder was umräumen (tat sie oft) und dabei für bis zu drei Fächer lernen. Mir zuhören oder telefonieren, dabei konnte sie aber nur noch eine andere Sache machen. Und weil sie jetzt zwei Fächer im Voraus lernte und gleichzeitig stundenlang ihr Gepäck erwog, oder gehetzt dringende Antworten in ihr iPhone tippte, hatte ich sie mit meinem Gequassel von der Lösung des eigentlichen Problems nicht auch noch begeistern können.
Es gab dann sogar mehr als eine „Überraschung“, aber erstmal nur die, dass es an dem Tag keine mehr gab, es schien sogar manchmal, als wäre hier alles normal, Vil ackerte, unsere Mutter guckte einen Film oder telefonierte, ich las oder telefonierte, kümmerte mich später um einen Berg Wäsche, machte Vils „kalte Platte“ und hiernach die Küche picobello. Nur, was vielleicht niemandem aufgefallen wäre, die beiden gingen sich so schön unauffällig aus dem Weg. Vil hatte eine große Reisetasche vollgekriegt, perfekt, für drei, vier Tage. Und zwar nicht wegen einer Menge Schulzeug, das sie aber außerdem schwer machte, sie schien auf jede Eventualität vorbereitet zu sein. Sie wisse ja nicht, was wir machen würden, sie wolle es auch gar nicht wissen, sie habe absolut keine Lust, wieder alles auszupacken. Wenn ich es inzwischen wüsste, solle ich es ihr nur sagen, wenn ich glaube, dass sie es besser wissen sollte.
Ich trug diese Tasche, als wir am nächsten Morgen aufbrachen. Doch nicht weit, nicht bis zu Mutters klapperigem Porsche-Jeep, der seit einer Woche zweihundert Meter entfernt in eine Einfahrt ragte. Als wir aus dem Haus traten, parkte direkt vor uns in zweiter Reihe ein goldener Ford Mondeo, Baujahr vor meiner Zeit. „Hallo!“, sang der Typ fast, dessen Name mir jetzt nicht gleich einfiel. Sein Arm lehnte aus dem Fenster, er winkte mit der Rechten. Dieser Mensch war nun aber für Vil tabu, seit er das erste Mal aufgetaucht war. Er sehe aus wie ein Gammler mit seiner ungepflegten Mähne, und außerdem sei er ein Säufer, weil er so eine Stimme habe, und bestimmt kein Musiker, wie ihre Mutter behaupte, nur ein Kiffer und Säufer und Angeber, der seine Frau schlage, wenn er breit sei. Ja, würde man von Vil nicht denken, aber konnte sie schon mal. Es stieg jemand auf der Beifahrerseite aus, ein junger Typ mit einer schwarzen Sonnenbrille und schicken, dunklen Haaren, die ein paar Zentimeter über die Ohren reichten. „Hi“, sagte er nicht gerade gut gelaunt und setzte sich irgendwie nach einer einzigen Drehbewegung, einschließlich Türen auf und zu machen, nach hinten. „Das ist Sascha, mein Sohn. Er hat keinen Bock“, sagte Roni, dessen Name mir jetzt wieder einfiel. Vil stand wie angewurzelt. „Worauf hat er keinen Bock?“, fragte ich. „Er hat eigentlich keine Zeit, er hat nie Zeit“, sagte er. Unsere Mutter ging zur Heckklappe, öffnete sie und warf ihre kleine Tasche hinein. Sie sah uns an und wartete. „Warum fahren wir nicht in d e i n e m Auto, dann haben wir mehr Platz?“, fragte Vil (eigentlich war das natürlich keine Frage, sondern eine Bitte). „Du kannst vorne sitzen“, antwortete sie. Ein paar Sekunden später flog mein Rucksack hinterher, es sah aus wie: Tolle Idee! Sie wusste nicht, was in meinem Rucksack war, ihre Tasche ließ ich trotzdem nicht fliegen, da war ihr Rechner drin. Sie stieg hinten ein, ich folgte sofort, denn meine Mutter könnte mir zuvorkommen und das riskieren. Die Piraten saßen dann also vorne, ihre Beute im Rückspiegel, wann sie wollten, das war genau das Bild, das ich da hatte. Ich saß hinter Roni, Vil in der Mitte, dieser Sascha sah erstmal nur aus dem Fenster. Er schien jünger als ich, aber deutlich älter als Vil. Die Entführer verstellten sich garantiert, denn sie sagten so langweiliges Zeug wie: „Gut, dass das geklappt hat!“ „Ja, jetzt hat es sogar was Gutes, dass der Termin geplatzt ist.“ Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was ich denken würde, wenn sie keine Piraten wären und sich nicht nur blöd stellten – arrogant, wie ich manchmal war. Es gab eine Bonny, Anna Bonny, ich hatte gestern Abend im Internet nachgesehen, eine berühmte Piratin. Meine Bonny hier sah sich jetzt um, sah jeden Gefangenen einmal kurz an, dann wieder nach vorne und sagte: „Witzig.“ Roni lachte. „Was ist witzig?“, fragte ich. „Dass wir so schöne Kinder haben“, sagte sie. „Was ist denn daran witzig? Wohin fahren wir?“, fragte Vil. „Nicht weit“, sagte sie, als wollte sie ihr alle Bedenken nehmen. „Es wird dir gefallen“, sagte Roni, „es gefällt jedem, sogar Sascha, eigentlich.“ Das schien der jetzt nur zur Kenntnis zu nehmen. „He, Sascha! Was ist los? Sag mal was!“, sagte Bonny. Er ließ einmal träge von seinen Geländestudien ab. „Was?“, sagte er ziemlich verschlafen. „Schlitzohr“, sagte Bonny. Ich war jetzt in einem Film. Und ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, etwas zu rauchen. Das ging nicht wegen Vil, Sascha wäre mir egal.
„He“, flüsterte ich Vil ins Ohr.
„Ja!?“, flüsterte sie zurück.
„Wenn ich jetzt nicht was rauche, überlebe ich es nicht.“
„Dann qualmen alle gleich!!“, flüsterte sie.
„Sag ihnen, das geht nicht, Punkt.“
„Okay“, flüsterte sie, „sonst steigen wir aus, ja?“
„Ja, versprochen.“
Ich drehte mir also eine Zigarette mit ein bisschen Gras und fing an zu rauchen. Sascha sah herüber, Roni hielt bald seine Hand nach hinten. Ich sah aus dem Fenster.
„Ich vertrage den Qualm nicht!“, sagte Vil. „Mach bitte aus!“
„Ja, Moment“, sagte ich und zog ein paar Mal hastig.
„Mach schon!“, sagte Vil. Nach weiteren zwei Zügen war ich fertig und ich warf den Stummel aus dem Fenster.
„Ihr Schlitzohren“, sagte Bonny. „Und warum darf i c h das nicht?“
„Sie verträgt es nicht“, stellte Roni sehr intelligent fest.
„Bei mir, bei Till nicht so“, sagte sie.
„Ich bin für sie keine Autoritätsperson“, sagte ich bekifft und dachte, dass ich richtig denke …
„Wie sollte i c h darauf kommen, dass ich für sie eine Autoritätsperson bin?“
„Sowas ist einfach so“, sagte ich.
„Das stimmt“, sagte Roni und sah Bonny an.
„Halt mal die Klappe!“, flüsterte oder besser zischte mir Vil ins Ohr.
Sascha sah sie und mich so stirnrunzelnd an, das heißt, in unsere Richtung, seine Augen waren hinter der coolen Brille kaum zu erkennen. Verstand er überhaupt, worum es ging? Vil sah ihn unsicher so von schräg unten und mit einem etwas gespitzten Mund an. Er verzog keine Miene.
„In welche Schule gehst du?“, fragte sie ihn.
„Kaifu“, sagte er knapp und sah wieder aus dem Fenster.
„Wirst du a u c h entschuldigt?“
„Nee.“
„Nee!?“
„Vielleicht ruft er ja noch an“, sagte er supermäßig. „Ich fehle nur selten, sonst komm ich nicht mit, ich will nicht zuhause lernen.“
„Zuhause kann ich besser lernen“, sagte sie.
„Du, ich halt nicht so viel von Schule. Ich mach nicht mehr als nötig.“
„Was! Was willst du denn mal werden!?“
„Ich hab ne Band … Vielleicht auch Immobilien, mal sehen.“
„Immobilien?“
„Für die Kohle, Häuser verkaufen“, sagte er, „und dann nach New York oder Neuseeland, mal sehen.“
„Ha!“, sagte sie.
Er schwieg. Vil dachte scharf nach, wie ich sie kannte. Vorne sprachen sie über etwas anderes, unwichtig, sowieso gespielt. Die Landschaft war schön, ein schöner Sommertag, viel Sonne. Wir fuhren gerade auf die Autobahn.
„Was willst du in Neuseeland machen?“, fragte Vil.
„In Neuseeland würde ich mir ein großes Segelboot kaufen. Ich würde die meiste Zeit rumsegeln. Mit einem Haufen Bücher. Ich würde mich bilden.“
„Hä! Dann lern doch für die Schule, wenn du dich bilden willst.“
„Ah“, knurrte er, „das ist doch keine Bildung.“
„Was ist d e n n Bildung? Du musst zum Beispiel richtig gut Englisch können, wenn du in Neuseeland nicht blöd auffallen willst.“
„Ich kann gut Englisch“, sagte er.
„Seine Mutter kommt aus New York“, erklärte Roni.
„Weißt du“, brummte Sascha mit seiner tiefsten Stimme, „ich will ein gutes Leben haben, ich will richtig leben.“
„Ich will auch ein gutes Leben haben“, sagte Vil, „ das hat mit Schule nichts zu tun.“
„Das versteht er nicht“, sagte Roni.
„Er will das lernen, was er für sein Leben braucht“, sagte Bonny.
„Ich will das lernen, was ich wissen will“, sagte Sascha.
„Was wäre das zum Beispiel?“, fragte ich ihn.
„Ja, zum Beispiel so psychologische und philosophische Sachen“, sagte er. „Warum alles so ist, wie es ist.“
„Das hört sich gut an“, sagte Bonny.
Ja, logisch, dachte ich, auf einer Segeljacht in der Südsee sowas lesen hört sich gut an. Dazu leckere Sachen trinken, und wenn einem der Kopf raucht, ne Runde schwimmen. Jetzt fuhren wir schon wieder von der Autobahn herunter.
„Kann ich eine rauchen?“, fragte Sascha mit Blick auf Vil.
„Ja, aber kein Hasch“, sagte sie. Er holte eine Packung Lucky Strikes aus seiner kurzen, schwarzen Jacke.
„Was hast’de denn dagegen?“, fragte er und machte sich eine an.
„Mir wird davon schlecht, hab ich doch gesagt.“
„Wegen mir“, sagte Bonny, „weil ich eine Autoritätsperson für sie bin …“
„Ich steh auch nicht drauf, aber nicht, weil mein Vater kifft“, sagte Sascha, „ich bin nicht gerne so zu, ich bin lieber voll da, ich steh auf Coffein, Cola ist geil.“
„Cola macht ja nicht high“, sagte Vil.
„Ich bin schon high auf die Welt gekommen“, sagte Sascha. Vorne lachten sie.
Meine Mutter schien sich wohl zu fühlen, sie war tief in den Sitz gesunken und hatte die Beine angewinkelt, stützte sie mit den Schienbeinen gegen das Armaturenbrett. Ich fand es vor allem bald zu warm im Auto, aber ich sagte nichts von der Klimaanlage, es würde bestimmt nicht mehr lange dauern. Ich war auch nicht dieser Meckertyp. Wenn keinem zu warm war, blieb das Ding vielleicht aus und jeder würde dauernd denken, dem ist zu warm. Oder sie würden das Ding anmachen, das wäre noch schlimmer, wenn keinem zu warm war … Dann war mir lieber einfach zu warm. Aber irgendwann sagte Vil nur, dass ihr etwas warm sei, und Roni machte sofort die Klimaanlage an, ohne zu fragen, ob den anderen auch warm war – ich hätte ja schließlich auch frieren können.
Die Straßen wurden irgendwie immer kleiner und dann waren wir auf einmal da. Wir waren eine Zeit mitten durch den tiefsten Wald gefahren und dann in einen Waldweg eingebogen, den wir jetzt entlangholperten, also waren wir da. Aber dieses Da-sein war dann doch noch eine Weile ein ziemliches Gewackel. Wenn ich etwas hasste, dann war das, so durchgeschaukelt zu werden, das war irgendwie primitiv, man war so machtlos. Für mich waren wir endgültig angekommen, als wir wegen einem entgegenkommenden riesigen, aber ziemlich alten Mercedes quasi in den Wald fahren mussten. Am Steuer saß eine total schöne Frau mit langen, lockigen und ganz dunklen Haaren mit so glitzernden, schwarzen Kügelchen drin. Ich erstarrte richtig, als ihr Blick einmal auf mich fiel. Sie winkte freudestrahlend, nicht zu unterscheiden, ob sie grüßte oder sich bedankte. Nach ungefähr hundert Metern endete der Weg auf einer Wiese, wir stoppten. Das war jetzt der Hammer. War das ein Zigeunerlager? Überall standen Wohnwagen herum und dicke Karren, alte Kisten, aber trotzdem. Und da war wieder so eine dunkle Schöne neben einem Piraten mit Stirnband. Jetzt ging das weiter. Roni war schon rausgesprungen, einer kam angejoggt, sie umarmten sich. Sowas fand ich ja grundsätzlich übertrieben, wenn nicht gerade einer etwas überlebt hatte.
„Ich zeig euch mal das Klo“, sagte Sascha, „ich muss da zufällig hin.“
„Jenny!“, rief meine Mutter, die gerade erst ausgestiegen war und einer Frau winkte, die auf dem großen, freien Platz in der Mitte der Wiese am Rand einer ganzen Truppe stand. Wenn sie so laut brüllte, war sie mir ganz fremd und schon gar nicht Bonny. Jenny kam angerannt wie eine Wilde. Sie sah nicht wie eine Zigeunerin aus, sie hatte richtig strohblonde kurze Haare. Die Gruppe, bei der sie gestanden hatte, folgte ihr, Gott!, langsam, aber trotzdem. Ich ging auf die andere Seite des Wagens zu Sascha und Vil, die schon neben ihm stand. Ich erschreckte noch nicht mal, so unerwartet war das, als er sich plötzlich auf alle viere hockte und lostapste. Er stoppte gleich wieder und gab uns ein Zeichen, runterzugehen wie er. Vil tat es auf der Stelle, ich war nicht sehr entschieden, tat es dann aber auch (ehrlich gesagt, ich fragte mich wirklich, ob mit ihm vielleicht etwas nicht stimmte). Nun gab er uns mit dem Kopf zu verstehen, ihm zu folgen. Also tapsten wir auf allen vieren blickgeschützt durch den großen Wagen hinter einen anderen, ein paar Meter weiter. Wir schlossen zu Sascha auf. „Es ist hier eine Regel“, sagte er, „wenn man auf allen vieren geht, will man seine Ruhe haben.“ „Das glaub ich nicht!“, sagte Vil. „Denkst du, ich verscheißer euch mal ein bisschen?“, sagte er. „Ja!“, sagte sie. „Und warum machst du es dann?“ „Weil es ja trotzdem funktioniert“, sagte sie. „Du machst dir deine Luxus-Jeans ganz dreckig, das kriegt man nicht raus“, sagte ich (ich wusch ja schließlich das Zeug). Sascha guckte und grinste blöd. „Ich hab zehn Stück“, sagte sie. „Acht“, sagte ich und wechselte lieber das Thema: „Was ist hier los, was machen die hier?“ „Das sind Künstler“, sagte er, „Musiker, Tänzer, Schauspieler, ein paar Verrückte. Die treffen sich hier einmal im Jahr, sie trainieren, und sie spielen viel zusammen, aber ich glaube, eigentlich machen sie Urlaub. Das sind keine Amateure. Ich war schon drei Mal hier mit meinem Vater, der hat eine CD mit Luis Barreto aufgenommen, der immer hier ist. D e r kann Gitarre spielen, wirklich. Manchmal spielt er auch, wenn hier abends Pilar Cruz tanzt, das muss man gesehen haben, Flamenco, und zwar perfekt, absolut spitze.“ Wir waren schon an zwei Wohnwagen vorbei und einem großen Hund, der regungslos stehenblieb und hörbar das Knurren unterdrückte, wir kamen gerade in den Schatten des dritten, als Sascha zusammensackte und wie ein Stein liegenblieb. „Äi! He!“, rief Vil, die neben ihm war, die in der Mitte tapste. „Scheiße!“, rief sie und rüttelte fest an seiner Schulter. Ich half ihr, ihn herumzudrehen, seine Brille rutschte von der Nase, die Augen waren geschlossen, sein Mund war richtig schlaff. „Äii!!“, schrie Vil und rüttelte ihn wie verrückt an beiden Schultern. Dann machte er die Augen auf und sah sie an, grinste mit schlechtem Gewissen, würde ich sagen. Sie gab ihm eine Backpfeife, eher ein Backpfeifchen, aber damit hatte ich trotzdem nicht gerechnet. Sascha schien es zu nehmen, wie es kam, er rührte sich erstmal nicht, und dann fiel Vil in Ohnmacht, sie krachte direkt neben ihn. Das sah nicht weniger echt aus, was ihn nicht hinderte, sie augenblicklich unter den Rippen zu kitzeln. Schreiend krabbelte sie davon, und wir folgten ihr im alten Trott. Dann waren aber so ein paar Stimmen hinter uns zu hören, da standen zehn Leute, unsere Mutter machte Fotos. Das war ein Auftakt! Sascha erhob sich und machte Posen wie ein Schwuler, sichtlich angefeuert von dem nachgemachten Kameraauslöser aus dem Lautsprecher ihres iPhones. Nachdem auch wir aufgestanden waren, nahm er uns an die Hand und wir tanzten Ringelreihen wie die Kinder. Dabei fing er dann auch noch an zu singen: „Wer, wie, was – wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt …!“ Ja, muss ich nicht alles hinschreiben. Vil sang sofort mit, ich brachte kaum einen Ton heraus, ich bin überhaupt mehr so ein introvertierter Typ, kann ich an dieser Stelle ja mal sagen. Sie haben das Lied mindestens zweimal gesungen. Sascha konnte wirklich singen, das hörte man, und ganz ungehemmt aus vollem Hals. Vil sang im Chor in der Schule, mehr so als Musterschülerin, aber jetzt war sie klasse, weil sie richtig mit Lust sang, fast hysterisch. Und sie war dabei zum Umfallen schön, ihr schweres, dichtes Haar sprang auf und ab, als machte es für sie Werbung. Na ja, jedenfalls freute ich mich mal wieder über meine Schwester, nicht nur ich, wir bekamen Applaus. Jetzt war eine Begrüßerei fällig, das war klar, aber auch das Klo … Wir hatten großes Glück, die Polizei kam an. Sie parkten direkt hinter unserem goldenen Mondeo, von dem man nur noch das Heck sehen konnte. Zwei Sheriffs stiegen aus, und siehe da, unsere Zuschauer bewegten sich alle in ihre Richtung, als könnten die Anziehungskraft einschalten.
„Ich muss jetzt wirklich aufs Klo“, sagte Sascha.
„Ich auch“, sagte Vil. „Kommen die vielleicht wegen Drogen?“
„Die nehmen hier nicht viel Drogen“, sagte Sascha. Wir gingen jetzt einfach weiter.
„Meine Mutter nimmt ganz schön viel“, sagte sie.
„Die fahren doch nicht wegen ein paar Kiffern bis hier raus“, sagte er.
„Wegen Drogen, die kommen eigentlich auch nicht im Streifenwagen“, sagte ich.
„Wegen irgendwas kommen sie aber bis hier raus“, sagte sie, schlau, wie sie nun mal war.
„Senorita! Hallo!“, rief einer hinter uns, der kam in großen Schritten. Er war bestimmt schon fünfzig und so ein Mensch, den man irgendwie gerne sieht.
„Ich bin Pablo! Wie heißen Sie?“ Er sprach nur mit Vil und mit einem starken Akzent.
„Vil, Viola – Reichenbach“, sagte sie.
„Darf ich Sie porträtieren!?“, fragte er. (Es klang in seinem Deutsch nach etwas sehr Bedeutungsvollem, wie heiraten oder so.)
„Malen?“
„Si“, sagte er.
„Ja“, sagte sie kopfnickend und strahlte auf einmal, wie es eigentlich nur glückliche Menschen können, dachte ich.
„Wann haben Sie Zeit? Nicht nach fünf, wegen dem Licht.“
„Ich bin gerade hier angekommen, aber ...“
„Nein, dann morgen“, sagte er.
„Ja“, sagte sie und nickte wieder.
„Das freut mich!“, sagte er und freute sich, wie ich mich freuen würde, wenn ich sie porträtieren könnte. Er gab ihr jetzt sogar die Hand, sagte: „Dann bis morgen!“ und machte kehrt.
„Wo denn?!“, rief Vil.
„Roni weiß, wo! Kommen Sie einfach!“
„Sagt man bei Aktmalerei a u c h porträtieren?“, fragte ich Sascha.
„Keine Ahnung“, sagte er.
„Was …!?“, sagte sie und sah in mein grinsendes Gesicht.
„Sehr witzig … Dann mach ich das eben!“, sagte sie.
„Das machst du nicht“, sagte ich. „Das ist auch verboten.“
„Das ist mir egal.“
„Kann ich mitkommen?“, fragte Sascha.
„Ja, du kannst Fotos machen!“ Wir lachten jetzt jeder ein bisschen.
„Wo schlafen wir eigentlich?“, fragte ich.
„Da hinten sind drei Wohnwagen für Besucher. Hier ist immer Besuch. Es gibt auch noch ein großes Zelt.“
„Wo ist jetzt das Klo?“, fragte Vil.
„Gleich kann man ihn sehen, so’n großer Container.“
Aber ein paar Schritte weiter krabbelte jetzt so eine Jenny etwas hastig zwischen den Wohnwagen hervor. Hatte Sascha etwa die Wahrheit gesagt? Aber dann würde sie uns wahrscheinlich eher nicht direkt in den Weg huschen. Im ersten Moment dachte ich, es i s t diese Jenny wegen ihrem kurzen blonden Haar, aber die war viel älter, mindestens dreißig, sie, die hier jetzt vor uns auf allen vieren verharrte, war höchstens zwanzig.
„Hallo!“, sagte Vil. Keine Antwort.
„Du willst bestimmt deine Ruhe haben“, sagte Sascha. „Das geht in Ordnung, wir müssen nämlich gerade dringend d a hin.“ Er zeigte auf den Container, den wir jetzt sehen konnten. Er schien inzwischen wirklich dringend dorthin zu müssen, seinem Gang nach zu urteilen, mit dem er höflich an ihr vorbeihopste. Vil folgte ihm mit den Worten: „Bis gleich!“ Das Mädchen erhob sich schlagartig. Sie sah mich kurz an und dann irgendwo auf dem Boden herum. Die war irgendwie ganz unsicher und aufgewühlt. Warum sagte sie nichts? Sie sah meiner Mutter ähnlich, das beruhigte mich (erstaunlicherweise), vielleicht war es eine Schwester von mir. Auch ich konnte ja manchmal ganz schön schweigen, meine Mutter sowieso. Mit ihrer weiten, zerschlissenen Latzhose erinnerte sie mich an einen Clown, als sie nun auf einmal ihre Hände, die so nervös an- oder besser aufgespannt waren, in die Hosentaschen stopfte. Ihre hinten verschlossenen Sandalen sahen beknackt aus, und sie waren sehr groß, viel zu groß für ihre Füße, entschied ich einfach. Eigentlich schien sie total nett, aber eben ganz schön unsicher, wenn sie nur rechts und links auf den Boden starrte.
„Ich muss jetzt wirklich auch da hin“, sagte ich sehr ehrlich und ging trotzdem etwas unentschlossen an ihr vorbei, blieb dann sogar nach ein paar Metern stehen und sah mich um. Die stand da wie geschockt, völlig fertig, sie sah mich an … Also zeigte ich ihr mit dem Kopf mitzukommen, was Besseres fiel mir nicht ein. Sie streckte mir ihre Hand hin … Das war ja jetzt was! Aber es war auch schon egal und irgendwie sogar witzig und schön eigentlich auch. Ich lächelte, tat die vier Schritte zu ihr und nahm sie an die Hand. Sie ging nicht ganz mit mir auf einer Höhe, obwohl ich wirklich nicht ziehen musste. Beim Klo angekommen, kam Sascha schon wieder heraus. Er lächelte vor Schreck und schüttelte ein wenig fragend den Kopf, als er uns so sah. Logisch, dachte ich und stellte fest, dass ich ohne die geringsten Probleme alleine die kleine Treppe zum Eingang hinaufgehen durfte. Als ich wieder herauskam, setzte sich Roni gerade zu Vil und Sascha auf die große Wiese vor dem aufgebockten Kasten, die dafür reserviert zu sein schien, denn Wohnwagen und Autos standen erst wieder weiter entfernt und rechts, unser Hinweg, links war hier Wald, der bis zu einem See reichte, der dort das Gelände auf dieser Seite begrenzte. Meine neue Freundin hatte die Arme verschränkt und schabte mit der rechten Sandale konzentriert in dem Kies vor dem Container.
„Komm, setz dich dazu“, sagte ich. Sie kam zögerlich mit, als ich nicht länger stehenblieb, sie schien unentschlossen. Ich ging nicht schneller als sie, so einen Meter voraus und wandte mich ihr ein paar Mal zu. Als ich mich setzte, tat sie es auch, auf meine rechte Seite, links waren die anderen. Sie war jetzt dort das Thema, was ich in ihrer Anwesenheit ganz schön daneben fand.
„Kennst du sie?“, fragte Vil.
„Nein“, sagte Roni.
„Sie teilt sich überhaupt nicht mit“, sagte Sascha unzufrieden. „Ich weiß gar nicht, wie ich mich verhalten soll.“
„Ja, genau!“, sagte Vil.
„Natürlich teilt sie sich mit“, brummte Roni. „Ihr müsst eben hingucken, ein bisschen denken.“
„A ja … Und was siehst du?“, fragte Sascha.
„Dass sie uns hört und versteht“, sagte Roni mit Blick auf die Schweigende, die gerade mit dem Kopf im Nacken in den Himmel guckte und mit geschlossenem Mund Bewegungen vollzog, als platzte ihr gleich der Kragen. Sascha sah sie an.
„Ja, stimmt“, sagte er nach einem Moment, wonach ihm Roni kurz im Haar wuschelte.
„Ich wollte euch eigentlich nur fragen … Wir sind da hinten an dem kleinen See, Maria, Jenny, Luis und ein paar. Habt ihr Lust?“
„Ein See!? Kann man da auch baden?“, fragte Vil.
„Die baden da nackt wie die Irren“, sagte Sascha.
„Ne, dann nicht!“, sagte Vil, „das finde ich total schwulstig!“
„Im Moment badet keiner. Na, los!“, sagte Roni und lachte.
„Na, mal sehen“, sagte Sascha und stand auf.
Alle taten es dann, auch die Stumme, aber sie blieb wieder stehen, als wir losgingen und dann ich und hiernach die anderen. Sie streckte mir die Hand hin. Ich tat die vier Schritte – sollten sie doch zusehen – und nahm sie. Vil, klar, war sprachlos, sie sah uns mit wirklich sehr großen Augen an.
„Wo teilt sie sich nicht mit!?“, sagte Roni zu Sascha und zeigte mit einer Handbewegung auf uns beide. „Das ist doch eine tolle Sprache!“
„Ja, toll!“, sagte Vil und nahm Saschas Hand, der sie, einen Kopf größer, wie er war, erstaunt, verlegen und erfreut anlächelte. Dieser Anblick kam jetzt zu allem noch dazu, wie Vil da mit einem Jungen an der Hand ging und wie zur Demo uns voraus.
„Was wollte die Polizei eigentlich?“, fragte ich, eher um mich von d e r Hand abzulenken, die meine fest hielt, und davon, dass ich trotzdem nicht mit ihr sprechen konnte.
„Ach, die suchen jemanden“, sagte Roni, „haben nur kurz gefragt.“