Читать книгу Noplot - Till Reichenbach - Страница 6
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ОглавлениеSo eine Nacht wollte ich nicht nochmal erleben. Gegen Mittag brach ich schon wieder auf, zu Julius, meinem besten Freund, ohne Ankündigung. Raus wollte ich sowieso! Ich hatte gedacht, zuhause wäre zuhause, denkste. Da denkt man nämlich, es wäre das von vorher. Aber ich hatte alles dorthin mitgenommen, und zuhause war ich viel weniger davon abgelenkt als irgendwo, im Gegenteil, man ist dort sehr konzentriert, mir wurde erst alles richtig bewusst … Ich kam mir vor wie ein Mörder, ich fühlte mich so, irgendwie, ehrlich. Und wenn ich kein Mörder war, sie war ja trotzdem tot, so! Mausetot! Jetzt war der Tod in meinem Leben!
Julius lag im Garten rum, öffnete in der Badehose die Eingangspforte. Seine halblangen dunklen Haare lagen immer gut. Einen S-Klasse Typ nannte ihn Nicol, ein Schwarm von ihm, einmal beiläufig. Das hätte sie ihrer Freundin, aber nicht mir verraten sollen, ich hatte schon ein paar Komplexe. Er war barfuß und ging ein bisschen so, als wären die Steine zu heiß. Was denn los sei, gebe superleckeren Kuchen. Ja, klar könne ich bei ihm pennen, kriege auch ein Gästezimmer, sie hätten keinen Besuch. Was denn passiert sei.
„Deine Mutter?“, fragte er.
„Ach, meine Mutter, nein …“
„Hier, Pudding-Kuchen … Stell doch mal den Rucksack ab. Probier mal, ja? Ich bekam ein ziemlich großes Stück. War eben mein Freund.
„Jetzt sag schon“, sagte er.
„Ich will Arzt werden.“ Er grinste so komisch, das konnte er gut.
„O Mann, verstehe, das macht dich fertig“, sagte er, „du hältst dich für verrückt.“
„Nein, noch nicht mal“, sagte ich.
„Jetzt erzähl schon!“
Wenn man sich gut kennt, dauert sowas nicht lange. Ich erzählte ihm die Geschichte in höchstens zehn Minuten. Aber nichts von den Küssen und so, ich wollte auf keinen Fall die Beherrschung verlieren.
„Mann!“, sagte er. „Scheiße!“ Und nach einer kleinen Pause, ich stopfte Kuchen in mich rein: „… Till, bevor du jetzt Arzt wirst, lass uns schwimmen gehen oder Tennis spielen.“
„Da verlier ich doch immer.“
„Ich lass dich gewinnen.“
„Juli, ich brauche das jetzt, so eine Perspektive. Schwimmen oder Tennis spielen können wir aber außerdem.“
„So eine Perspektive … He, Medizin, Abi eins-zwei!“, sagte er.
„Ja, und? … Pauken, Juli.“
„Als letzter starten und gewinnen, das ist doch mal ein Plan!“, sagte er.
„Alexander will Astronaut werden, hast du schon gehört?“, sagte ich.
„Der meint das sogar ernst“, sagte er. „Ich sag das niemandem, das ist doch peinlich, auf so einer Schule sind wir.“
„Meinst du, ich packe das nicht?“
„Ja nicht, weil du zu doof bist. Ich denke, das hat sich bald wieder erledigt.“
„Wir sagen es sicherheitshalber niemandem“, sagte ich.
„Das wollte ich gerade vorschlagen“, sagte er.
„Ich muss jetzt dringend mit dem Rek sprechen, ich muss sofort wieder rein.“
„Der ist Montag bis Donnerstag nicht da.“
„Scheiße. Wer macht Vertretung?“
„Hab ich nicht gefragt, die Kupisch, hab ja keinen Unterricht bei ihm. Er war gestern Abend hier, Freitag, wie immer.“ Ja, der musizierte mit seinem Vater und noch wem.
„Bestimmt wieder die Kupisch, das kann ich vergessen.“
„Ich spreche mit ihr, wenn du willst, Montag, erste Pause. Mit mir kann die nicht sprechen, ohne zu lächeln – “, sagte er. „Wie ist das jetzt mit Vil und deiner Mutter?“
„Ich muss jetzt mal an mich denken. Es scheint ja auch funktioniert zu haben, es sieht jetzt besser aus, sollen sie mal was draus machen. Und Vil hat ja jetzt vielleicht sogar einen Freund, er ist ganz okay, hat ziemlich was drauf, und der sieht das nicht so eng, weißt du, sein Vater kifft auch.“
„Machen die was!? Sie nimmt doch noch keine Pille oder so.“
„Sie ist noch Jungfrau“, sagte ich.
„… Oder war“, sagte er.
„Ich hab sie gewarnt, zweimal, dreimal, ich sag’s noch mal meiner Mutter, vielleicht meinem Vater, mehr mach ich jetzt nicht! Ich will in die Schule, verstehst du, ich will jetzt wieder Schüler sein, nur noch Schule, Punkt!“ Juli schaute aus dem Fenster. Wahrscheinlich war ich irgendwie zu theatralisch, ich wusste nicht, was mit mir los war. Nach einem Moment sagte er: „Setz dich doch einfach rein, Englisch, zu Frau Krüger, da passiert nichts.“
„Ne, Juli, das war offiziell, schriftlich.“
„Sollen wir mal rübergehen. Ich zieh mir mein Tenniszeug an, darauf steht er.“ Sie wohnten in derselben Straße, aber das wäre mir nicht eingefallen, das war privat.
„Mann, das ist privat“, sagte ich.
„Jo, privat! Der futtert hier meine ungarischen Lieblingswürstchen!“
Ich fühlte mich absolut nicht dazu in der Lage, aber es erschien mir wie eine Pflicht. Und wenn ich das schon nicht bringen würde, wie sollte ich dieses Super-Abi schaffen. Ich wollte sicherheitshalber noch ein Lieblingswürstchen mitnehmen, aber es waren wirklich keine mehr da. Nachdem er mir seinen neuen Apple vorgeführt hatte, der nicht zu toppen sei, zog er sich an. Ich begrüßte seine Mutter und seine Schwester, die gerade vom Einkaufen kamen. Die freuten sich wirklich, mich zu sehen, sowas tat gut.
Bilke, unser Schulleiter, den alle Rek nannten, sogar zwei Lehrer, lag auch im Garten rum, seine Frau ließ uns rein, hätte sie bei mir allein nicht gemacht, dachte ich. Anton, ein anderer Freund, sagte manchmal, dass ich immer so negativ denke …
„Das ist ja eine Überraschung!“, sagte Bilke, als er durch die Verandatür hereinkam. Er sah in seinen eigenen vier Wänden jünger aus als in der Schule, in seinem kurzen Haar war sogar weniger grau drin. Nach Tennis sah er aber auch hier nicht aus, zum Glück, einen Lehrer, der nach Tennis aussah, könnte ich irgendwie nicht ernst nehmen. Das klingt vielleicht schon wieder etwas negativ, aber so war es.
„Ich dachte, wir könnten mal stören“, sagte Juli, „es ist eine wichtige Angelegenheit.“
Er bat uns, Platz zu nehmen. Er wusste natürlich gleich, worum es ging, was sollte ich sonst da, und ich wusste gleich, ehrlich gesagt, dass ich Montag wieder im Unterricht erscheinen durfte. Was mich denn auf einmal so beflügeln würde, wollte er wissen. Ich wolle studieren, dazu hätte ich mich entschieden. Es freue ihn, das zu hören. Was es denn so Aufregendes sei, das ich studieren wolle. Medizin … Bilke lachte verhalten.
„Till, das ist ja sehr löblich, aber vielleicht gibt es noch eine Alternative. Du bist kein Überflieger und willst ab sofort nur noch Einsen schreiben. Dann hast du bald wieder keine Lust mehr.“ Ich schwieg.
„Ich hab auch keine Lust mehr und mach trotzdem weiter“, sagte Juli ganz locker. Ja, das stimmte, aber er machte die Schule fast nebenbei.
„Was ist mit der Hascherei?“, fragte Bilke natürlich.
„Natürlich nicht!“, sagte ich. „Ich brauche jetzt einen klaren Kopf!“ Er lachte wieder auf seine sparsame Art.
„Aber mach jetzt keine Spielchen mit mir. Du haust rein …!“
„Er meint es ganz ernst“, sagte Juli. „Vielleicht studiere ich auch Medizin.“
Er sei nächste Woche nicht da, sagte Bilke, er schicke das gleich rüber. Jetzt wolle er uns etwas zeigen, wenn wir so viel Zeit hätten. Konnten wir unmöglich jein sagen. Er ging in schnellen Schritten voraus in den Garten (ich konnte nicht gut folgen, ich war nicht so ein Renner) und dort quer über die Wiese zu einem Hundezwinger, in dem ein großer schwarzer Hund, so Jagdhund, würde ich sagen, ich kannte mich da nicht aus, aufgeregt sein Ankommen erwartete. Der bellte gar nicht, gut erzogen, waren schließlich Eindringlinge dabei. Bilke öffnete. „Meine Süße“, sagte er fast keuchend, ehrlich. Die Süße machte erstmal eine Runde um uns herum, hopste wie ein Pferd, bevor es losging und Herrchen ihm auf einmal seinen strengen Zeigefinger wie eine Pistole hinhielt. Der Hund parierte, zuckte in eine Haltung, als sähe er den bösen Geist. Jetzt zeichnete Bilke mit diesem ausgestreckten Finger – er war dabei so nach vorn gekrümmt vor lauter Eifer – einen kleinen Kreis in die Luft, so ganz schnell. Der Hund drehte sich schlagartig einmal um die eigene Achse, rollte über den Rücken und stand dann einen Meter versetzt wie zuvor. Herrchen machte mit dem ansonsten starren Finger dasselbe in die andere Richtung. Der Hund folgte und stand hiernach wieder an seinem alten Platz. Durch die Zeigefingerbefehle konnte die Süße dann noch auf den Hinterbeinen gehen und einmal sogar wie ein Eichhörnchen springen, dann noch rückwärtsgehen und so komisch Beinchen heben (vorne) und genau einmal bellen und genau zweimal bellen. Hunde haben eben keinen Humor.
„Schon biste wieder drin“, sagte Juli lächelnd auf dem Weg zurück und legte mir seinen Arm um die Schulter.
„Danke, das war klasse. Wir haben auch nicht rumgetrickst. Musstest du nicht Jura oder sowas studieren, für die Firma?“
„Ich hab keinen Bock mehr auf den Laden.“
„Du wärst gleich der Boss …“, sagte ich.
„Till, in fünfundzwanzig Jahren! Vorher hört er doch nicht auf!“
Auf dem Weg zum Baggerloch (der Schwimm-Treff überhaupt), Julis Schwester fuhr, sie hatte das Attest schon, sagte ich, dass Bilke mir jetzt irgendwie bescheuert vorkomme. Und dann das, sagenhaft: Ach so, nein! Er meine das nicht ernst! Er habe einen ganz versteckten Humor.
„Er weiß, dass es total idiotisch aussieht. Ich weiß auch nicht, warum er keine einfacheren Witze macht, er meint es nicht ernst, verstehst du.“
„Ne“, sagte ich bei dem Gedanken daran, was das für eine Arbeit ist.
„Er hat mal mit meinem Vater zwei Stunden lang einen unmöglichen Song ausprobiert, den er, also Bilke, selbst komponiert hätte, total schräg, überhaupt keine Musik. Sie spielen ja normalerweise so Jazz-Zeug, und er sagte, das sei jetzt mal experimentelle Musik. Er war toternst, machte aber die ganze Zeit nur einen Witz.“
„Der hat deinen Vater verarscht, würde ich sagen.“
„Das klingt so negativ“, sagte Juli. Jetzt fing er auch noch damit an.
„Außerdem, für einen Witz … Ich meine, das ist doch eine irre Arbeit mit so einem Hund.“
„Der konnte das schon, den hat er ziemlich neu.“
„Ansonsten ist das Vieh ziemlich blöd“, sagte seine Schwester.
Ich bestand darauf, am oberen Rand der großen Böschung zu liegen, ich wollte sie da unten nicht alle treffen. Sophie, Julis Schwester, ging gleich zu ihren Leuten, die waren etwas älter als wir, sie feierten seit Wochen ihr Abi. Ich bat Juli nochmal darum, dass mein Crash unter uns bleibt, sicherheitshalber, ich hatte es schon einmal bei der Apple-Show getan. Er fragte natürlich gar nicht, er ging davon aus, dass ich wie ein normaler Mensch über den Selbstmord informiert hatte und geblieben war, bis die Polizei gekommen war. Wenn ich ihm sagen würde, dass ich es nicht getan hatte … Das war mir peinlich, aber wirklich. Er würde mich sofort drängen, es zu tun und es selbst machen, wenn ich nicht wollte. Als ich allein war, weil Juli alle Leute begrüßen musste – sein Handtuch trug er wie einen offenen Schal im Nacken, sah cheflike aus, das ganz weiß und er schön gebräunt – schaltete ich mein Handy ein, mit dem Gefühl, ich öffne ein Fenster in die Hölle, ehrlich. Und dann der Schreck darüber, wovon ich doch ausging: Sie hatten sie noch nicht gefunden! Sie suchten nicht nach ihr! Vil und meine Mutter hätten es mir sofort mitgeteilt! Aber Vil schrieb, dass Sascha und sie wohl in Neuseeland heiraten werden, und meine Mutter fragte, ob es mir wieder besser gehe, sie mache sich Sorgen. Sie kiffte nicht oder wenigstens viel weniger, anders konnte ich mir das nicht erklären. Ich freute mich, dass sie sich um mich Sorgen machte, einfach brutal, eine komische Welt. Aber das konnte ich schlecht antworten. Was sollte ich ihr schreiben, was blieb da übrig, ohne die ganze Sache? Ich könnte ihr von der Schule schreiben, schon ab Montag(!) wieder … Aber bis dahin musste ich es einfach noch bringen! Sie hatten sie nicht gefunden, also, Punkt! Jetzt wurde mir aber erstmal schwindlig, ich dachte, ich werde ohnmächtig, ich lief über den Rand der Böschung, wo es Büsche gab, ich weiß nicht warum, hockte mich hinter einen und wartete, was passiert. Der Schwindel war weg, aber ich heulte wieder. Ich wollte sofort damit aufhören, ging aber nicht. Wo sollte ich hin, ohne Fahrrad oder Auto kam man hier schlecht weg. Ich fing an zu frieren, kauerte mich zusammen. Es waren mindestens fünfundzwanzig Grad. Ich lenkte mich vom Heulen ab und sagte mir: Erstens, du musst da sagen, was passiert ist! Zweitens, du gehst zu einem Arzt und sagst, was passiert ist! Drittens, du kiffst jetzt endlich was! Es war sehr anstrengend, meine Augen taten weh, aber das Heulen ging langsam weg. Ich war total erleichtert, und dann schlief ich ein! Ich wachte auf, als Juli mir ein Handtuch über die Schulter legte. Seine Hand blieb darauf liegen.
„Ich sage Sophie Bescheid, wir hauen hier mal ab“, sagte er.
„Warum?“, fragte ich blöd.
„Weil du irgendwie zitterst, zum Beispiel.“ Er fühlte meine Stirn. „Und du hast was mit den Augen.“
„Ich warte hier, es geht schon wieder, schwimmt noch ein bisschen und so.“
Dann saßen wir aber doch im Auto, ich schämte mich schon fast, ging wirklich wieder, und Sophie war richtig besorgt, das machte es noch schlimmer.
„Wie fühlst du dich?“, fragte sie. „Du musst mal dein Blut untersuchen lassen.“
„Mein Blut? … Ich muss dringend mit meiner Mutter telefonieren!“, sagte ich in dem Moment, wo ich es wusste.
„Jetzt!?“, fragte sie.
„Ja, wenn’s geht!“ Sie stoppte auf der Stelle – abenteuerlich.
„Geht ganz schnell“, sagte ich.
„Hier kannst du nicht stehenbleiben!“, sagte Juli. „Da vorne, da ist so’n Weg!“ Sie fuhr wieder los, obwohl ich eigentlich schon am Aussteigen war.
„Wir fahren am besten ins Krankenhaus“, sagte Juli, „du kannst im Krankenhaus mit ihr telefonieren.“
„Wieso denn Krankenhaus, geht ganz schnell.“ Schon war ich draußen, wählte ihre Nummer und schritt den Feldweg hinunter. Sie war sofort dran, sie kiffte bestimmt nicht, hatte eine helle, wache Stimme: „Till!“ Sie machte sich wirklich Sorgen.
„Ich muss dir etwas Wichtiges sagen! … Mama!?“
„Ja, sag doch! Was ist passiert?“
„Also, die Jana … Ich war gestern im Wald und hab sie gesucht, weil ich vorgestern …“ Jetzt musste ich mich wirklich zusammennehmen, ich konnte eigentlich nicht darüber reden – ich kürzte ab: „Jana ist tot.“
„… Wo bist du?!“
„Du musst mir mal helfen!“
„Mann, ja! Wo bist du?!“
„Das ist doch jetzt nicht wichtig! Sie hat sich aufgehängt, sie ist dort im Wald, du musst es jemandem sagen! Kannst du es bitte denen da oder der Polizei mitteilen!? Es ist schon vorletzte Nacht passiert!“
„Ich mache das! Wo bist du!? Ich komme zu dir!“
„Nein, mach das erstmal! Ich sage dir den Weg, sie müssen zu Fuß gehen, es ist querfeldein.“ Sie sagte noch irgendwas, aber dann beschrieb ich, wo sie am besten in den Wald gehen mussten und so ungefähr die Richtung, und dass es bestimmt ein Kilometer ist.
„Hast du das!?“, fragte ich.
„Hab ich“, sagte sie. „Ich möchte dich sehen“, buchstabierte sie dann fast.
„Bitte bleib da, bis sie sie gefunden haben!“ Jetzt kamen wieder ein paar Tränen. „Ich bin mit Juli unterwegs, ruf mich an.“
„Dann bleib jetzt bitte mal erreichbar, versprich mir das!“
Ich war zwanzig Kilo leichter, als ich ins Auto stieg, nur die Tränen waren noch da, und die beiden guckten mich auch so an.
„Ja, dann ins Krankenhaus“, sagte ich und zuckte mit den Achseln. Juli stieg aus und kam zu mir nach hinten.
„Falls du kollabierst“, sagte er.
Im Krankenhaus war es netter, als ich gedacht hatte, trotzdem ich als erstes schon mal meine Karte nicht dabei hatte. Sophie verkürzte dann die Wartezeit: Ich fiele dauernd um, fast wenigstens! Sie war ziemlich aufgeregt, aber sie war eben auch so ein sehr zielorientierter Typ. Dem Arzt in der Aufnahme konnte ich wieder sagen, was passiert war, etwas trocken, innerlich unbeteiligt, so wie ich es Juli am Mittag gesagt hatte. Obwohl der mich gut verstand und genau wusste, was mit mir los war, da war ich mir sicher, bestellte er einen Psychiater. Auf den musste ich dann nochmal etwas warten. Kaum war er endlich da, nahm er mich mit auf die Station, weil es ihm in der Aufnahme zu unruhig war oder so. Dort musste ich nochmal erzählen, und das fiel mir wieder schwerer. Ich fand es auch komisch, dass ich es zweimal erzählen musste. Wie bei Juli tat ich so, als habe ich im Camp natürlich Bescheid gesagt, bevor ich abgehauen bin, das wollte ich nicht alles erklären – konnte ich auch nicht. Wenn die Polizei noch Fragen hätte, erklärte der Arzt, das sei Routine, man müsse alles mindestens zweimal erzählen (wie im Krankenhaus, dachte ich), werde er sie erstmal abwimmeln, morgen. Er würde mir gerne Diazepam geben, ob das okay sei. Sah ich so aus, als ob ich wüsste, was das ist? Ich solle auf jeden Fall bleiben, einfach mal ausruhen. Jetzt haben sie sie, dachte ich bei dem Gedanken an die Polizei. Juli und Sophie holten meinen Rucksack, wollten sie gerne, hätte auch bis morgen Zeit gehabt, und ich bekam ein Abendessen, zwanzig vor sechs. Sie nahmen mir noch Blut ab, dabei musste ich ziemlich direkt an Jana denken. Zum Glück fing mein Zimmernachbar an, so blödes Zeug zu reden, dass ich mich richtig aufregte, dagegen war ich nämlich allergisch. Sophie und Juli brachten Anton mit, klasse! Er wusste auch gleich, was jetzt in der Schule Stand der Dinge war (Juli war in der Parallelklasse). Das zu wissen tat mir komischerweise gut, was ich bald alles wissen musste. Und dann quatschten wir noch eine Stunde über alles, was uns einfiel. Das Diazepam war natürlich jetzt gut, kannte ich schon von einem aus der Schule, der es seinen Eltern klaute.
Meine Mutter rief um acht an, sie hätten sie gefunden, sei ganz schön was los hier. Sie brächen jetzt auf, ich solle bitte nach Hause kommen. Ich sei im Krankenhaus gelandet, sagte ich, gehe mir manchmal so komisch, würde auch gerne bleiben. Sie komme heute noch!, sagte sie. Ich solle sagen, dass sie heute noch komme! Ich wollte sie noch was zu Jana fragen, ich wusste nicht so richtig was, was sie mit ihr machen, wie sie aussieht … Mann! Gar nichts hab ich gefragt!
Wir trafen uns so um zehn auf dem Gang, wo ich, ehrlich gesagt, schon auf sie gewartet hatte. Sie kam schweigend mit großen Augen auf mich zu, als hätte ich eine schlimme Diagnose. Sie nahm mich in den Arm wie noch nie und drückte mich wie noch nie. In der Sitzecke erzählte ich ihr so viel ich konnte, sogar von Bilke, und dass Sophie jetzt Auto fährt und so, auch dass unser Kühlschrank so gut wie leer ist und das Abendessen hier ein Witz.
„Du warst verliebt“, stellte sie auf einmal ziemlich traurig fest.
„Ich b i n verliebt!“ … Das Diazepam. Obwohl ich lächelte, kullerten jetzt ein paar Tränen ihre Wangen hinunter. Gott! Das kannte ich bei ihr nur, wenn mein Vater ausrastete, sie heulte eigentlich nicht, wie Vil. Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an mich, das machte mich jetzt stark. Aber ich sagte dann vielleicht etwas Blödes (ich war einfach ein bisschen high): „Du, Jana sah dir ähnlich.“ Sie zog mit der rechten Hand einmal kräftig an meiner Jacke. Ich wollte lieber nichts mehr sagen, aber weil sie auch nichts sagte, fragte ich: „Wo ist Vil?“ Übrigens, ohne mich zu wundern, dass sie nicht mitgekommen war.
„Ja, zuhause … Sie hat das ziemlich mitgenommen, Roni und Sascha auch. Sie schlafen heute bei uns, Alina und Franziska sind auch noch gekommen, sie schlafen in ihrem Zimmer. Vil schläft in deinem Bett, Sascha im Zimmer von Oliver.“ Mein Vater, sein Arbeitsraum, da stand so ein aufklappbares Sofa. Wir hatten auch mal ein Gästezimmer, bevor er das „mal kurz“ für fünfzig Bücherkisten brauchte.
„Dann ist es doch gut, dass ich hier bin“, sagte ich, was nicht schwer zu verstehen war. „Ich könnte auch nicht mitten in der Nacht aufkreuzen, hier wird abends zugemacht, wie du ja eben gemerkt hast.“
„Ja, und wie, der Affe hat mich sogar warten lassen!“
„Zwanzig Uhr ist Einschluss“, sagte ich. Sie richtete sich auf und sah mich an.
„Wenn du gehen willst, gehst du, klar! Dann sagst du denen, dass du sofort gehen willst!“
„Ich halte das schon aus“, sagte ich.
„Nein, das hältst du nicht aus!“
„Ich bin noch nicht volljährig, dann musst du bestimmt nochmal kommen.“
„Ich kann auch gleich hierbleiben! Ich schlafe im Auto!“
„Das findet Roni bestimmt nicht so gut, wenn du nicht wiederkommst.“
„Doch, das findet der gut!“