Читать книгу Noplot - Till Reichenbach - Страница 5

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War ja klar, meine Mutter hatte uns weniger mit dem Camp überrascht, die große Überraschung war ihre Initiative gestern gewesen, was war dieses Camp jetzt dagegen … wenn es hier nicht so einen Anfang genommen hätte. Aber das war nur der Anfang von allem, wirklich. An dem See stellte sich erstmal heraus, dass dieser Luis der Stummen einfach den Arm um die Schulter legen durfte und dass er ihren Namen wusste – Jana – , und nicht nur das, er wusste auch, dass sie sprechen konnte, besser als er selbst, dass sie irgendwo dort im Wald hauste, dass sie hier tagelang nachts geklaut hatte, bevor sie sie erwischten, und dass die Polizei s i e suchte, die sie aber nun alle sehr lieb gewonnen hatten und darum behalten oder wenigstens nicht verraten wollten. Sie klaute jetzt auch nicht mehr, bekam was zu essen mit oder aß hier mit irgendwelchen Leuten zusammen, die sie gerade einluden. Und sie habe einen ganz schönen Appetit, sagte Jenny, als wenn sie den halben Tag lang auf Bäume klettern würde. Aber wenn sie nicht bei Pia, die zwei Kisten Bücher vom Flohmarkt mitgebracht habe, vor oder neben dem Camper sitze und lese, läge sie irgendwo am See herum und lese, neuerdings mit der qualmenden Pfeife, die sie Pablo geklaut habe, als er sie porträtierte. Sie wollte ihn anmachen! Also Sex, meine ich. Pablo wollte das nicht, und weg waren die Pfeife und der Tabak. Das Bild hat er trotzdem fertig gemalt. Es hat aber noch keiner gesehen, weil Jana zur Bedingung gemacht hatte, es niemandem zu zeigen, solange sie noch hier ist. Es sei gar nicht in seinem Atelier, sagte Jenny, dem weißen Zelt neben dem Wohnwagen, wo seine letzten Bilder immer herumstünden und jeder rein- und rausgehen könne. Die Pfeife wollte er nicht zurückhaben. Sie brachte sie einfach, als der Tabak leer war. Ob sie lieber Tabak wolle, habe Pablo gefragt: ja. Es habe so ausgesehen, sage er, und fürs Modell sitzen zahle er ja nichts. Er habe sie auch sehr gerne, fügte Luis lächelnd hinzu. Seine anderen Pfeifen schlösse er aber seitdem ins Auto ein. So einen Geruch hatte ich bei ihr schon bemerkt, aber auf die Idee kommt man ja nicht gleich. Manchmal spreche sie einfach nicht, ja, wisse aber keiner warum. Sie wisse es vielleicht selbst nicht, schließlich sei sie ja aus der Psychiatrie abgehauen, obwohl, in der Psychiatrie sei sie ja nur gewesen, um nicht vorbestraft zu sein, wie sie behauptet habe, oder nicht noch vorbestrafter, das wussten sie nicht mehr so genau.

Das hatte ich alles erfahren, n a c h d e m Luis sie mit dem Arm um ihre Schultern meiner Mutter vorgestellt hatte. Denn danach war sie einfach weggegangen, mit verschränkten Armen und so verspielten, etwas nach rechts und links ausholenden, langsamen Schritten, ein bisschen nach vorne geneigt. Solange sie anwesend war, war sie nur der gute Geist hier, der Schutzengel und so ein Zeug – hätten sie auch die Klappe halten können. Ich meine, dieser Luis und Jenny waren sonst okay, das fiel mir nur auf. Vil war mit Sascha losgegangen, um Badesachen zu holen. Meine Mutter hatte sich gefreut, als die beiden da Hand in Hand ankamen, im Ernst, ich kenn sie doch. Es blieb wieder alles an mir hängen. Ich hatte keinen Bock, mit ihr darüber zu diskutieren, dass da nichts passieren durfte, noch weniger, als sie plötzlich ihren Kopf an Ronis Bein stützte. So was ist zwar logisch normal, aber ich hatte ja einen Vater, der für mich zu ihr gehörte wie ihre Stimme, könnte man fast sagen. Er war a u c h kein Spießer und er hatte ein extrem legeres Outfit, aber er war kein Freak, konnte man mit Roni gar nicht vergleichen. Meine Mutter passte inzwischen viel besser zu Roni – trotzdem ging ich jetzt da weg. Dann war ich auf einmal allein. Das gefiel mir, ich verließ sogar den Platz und ging in den Wald. Als ich merkte, dass ich nach Jana Ausschau hielt wie ein Blöder, ging ich wieder zurück zum Platz, ich wollte sie gar nicht treffen. Aber ich hatte auch keine Lust auf diese Künstler, die da hinten Musik machten und da vorne Tanzschritte trainierten, sie waren mir auf einmal langweilig mit den tollen Sachen, die sie alle konnten. Ich ging jedem aus dem Weg und schließlich doch wieder in den Wald, obwohl ich langsam Hunger hatte. Ich beschloss plötzlich, ihr Lager zu suchen, dagegen hatte sie bestimmt nichts. Ich könnte mich ja heranschleichen. Wenn sie da wäre, könnte ich dann immer noch den Abflug machen. Aber wo sollte ich suchen, vielleicht war es ein Kilometer bis dorthin. Ich lief schon eine ganze Zeit so im Zickzack um das Camp herum (das war gar nicht so einfach, querfeldein, und den Zecken konnte ich ja auch nicht aus dem Weg gehen), als sie plötzlich vor mir stand, so drei, vier Meter entfernt. Sie stand da nicht zufällig, das war gleich klar. Sie streckte mir wieder die Hand hin, und sie war gar nicht mehr so unsicher, sie war so ruhig wie am See auf einmal, als Luis sie in den Arm genommen hatte.

„Du kannst sprechen“, sagte ich. Sie tat es aber nicht, stattdessen machte sie mit ihrer ausgestreckten Hand so eine lustige, fragende Bewegung, als sie sie einmal ganz aufspannte mit gespreizten Fingern und: dazu lächelte sie ein bisschen, wenn ich das jetzt nicht z u gerne gesehen hatte.

„Hast du vielleicht etwas zu essen?“, fragte ich auf dem Weg zu ihr.

Ich bekam selbstverständlich keine Antwort. Jetzt ging s i e voraus, nicht nur, weil ich gar nicht wüsste wohin, sie war auch zu schnell, sie zog immer etwas. Irgendwann stolperte ich über so einen blöden Ast, den man gar nicht sehen konnte, und fiel hin, es tat weh. Als ich mich umdrehte, ich dachte, sie würde mich hochziehen oder so, setzte sie sich auf mich, sie hielt mich ziemlich fest an den Oberarmen und drückte mich herunter, platt auf den Boden.

„Wenn du es machst, spreche ich mit dir.“ So, endlich, sie sagte was! Erschreckte mich trotzdem erstmal. Aber dann sofort diese Stimme. Und erst danach die Aussprache, ich dachte, die von Franzosen, wenn sie deutsch sprechen. Aber diese Stimme, sie hatte eine Stimme, die mich packte. Sie zu beschreiben, ginge garantiert daneben. Es war einfach d i e Frauenstimme, mit der darum auch so etwas Unvollständiges vollständig klang und es an mir lag, wenn ich es nicht raffte.

„Was mache?“, fragte ich.

Sie rieb ihren Körper an meinem. Sie küsste mich vier Mal auf den Mund, ich drehte meinen Kopf weg, nach links und nach rechts. Es fühlte sich so gut an! Aber ich drehte meinen Kopf weg! Dann sprang sie auf und rannte davon. Ich zitterte, als ich aufstand. Ich überlegte gar nicht, mit unsicherem Gang suchte ich das Camp. Ich dachte, ich finde es nicht mehr, es war unmöglich der direkte Weg, aber schließlich war ich dort.

Sie saßen da zusammen mit anderen an einem großen Tisch vor dem Küchenzelt und hatten gegessen. Vil hatte noch nasse Haare, die sie nur glatt gekämmt hatte, ein ungewohnter Anblick, sonst rieb sie sie fast trocken, machte sie locker und legte sie zurecht. Sie saß natürlich neben Sascha. Ich weiß gar nicht mehr, was ich da redete, und zog mich schnellstens mit lauen, nein eigentlich kalten Spagetti, über die ich einen halben Liter Soße schaufelte, und einer ganzen Stange Brot zum Mondeo zurück, gegen den ich trat, weil er abgeschlossen war. Ich setzte mich neben die Karre auf die Seite, wo man mich nicht sehen konnte, und futterte mit dem Teller auf dem Schoß. Ich war zu unerfahren, dachte ich, dann ist man einfach schüchtern. Ich war nicht so ein Sexprotz, ich hatte hier und da ein bisschen rumgemacht. Richtig was hatte ich erst mit meiner Freundin oder besser Ex.

Jana tauchte nicht mehr auf. Nach zwei Bier, als die Folkmusiker fertig waren, fragte ich Pablo, mit dem sie ja auch wollte … Da erfuhr ich, dass wir nicht die einzigen waren, es gab noch zwei, deren Namen er nicht nannte. Natürlich habe keiner was mit ihr gehabt, das könne man ja wohl verstehen, das müsse auch sie verstehen, so gehe das nicht, so von einfach auf hundert. Mit seinem Akzent klang das wie ein Gesetz, gegen das sie verstieß. „Klar, dann fehlen neunundneunzig Prozent“, rutschte mir raus. „Nein, keine P r o z e n t“, sagte er, „Schritte!“ Neunundneunzig von hundert Schritten sind neunundneunzig Prozent, dachte ich. Ich musste das auf einmal wissen und traute mich, ihn zu fragen: „Hat sie dich a u c h geküsst?“

„Natürlich nicht!“, sagte er. „Hat sie dich geküsst?“

„Auf den Mund, vier Mal!“, sagte ich. Das war das Bier, Bier vertrug ich schlecht.

„Das ist schön“, sagte er komischerweise. „Du bist ja auch ein besonderer Fall, mit dir geht sie hier an der Hand wie mit ihrem Boyfriend.“

Bevor ich auf Wein umsteigen konnte, musste mir Roni unbedingt mein Bett in dem Wohnwagen zeigen, in dem wir alle schlafen würden. Vil und Sascha waren auch dabei. Es gab zwei Doppelbetten und ein einzelnes zu besichtigen. Vil und ich sollten uns eines teilen, Roni wollte sich eins mit meiner Mutter teilen. Das kam nicht in Frage! Ich protestierte (auch das Bier): Vil schlafe natürlich bei ihrer Mutter, Sascha bei ihm, Roni. Was denn mit mir los sei, fragte Vil, irgendwas stimme doch nicht. Warum ich nicht mit ihr in einem Bett schlafen wolle, ich könne doch mit ihr in einem Bett schlafen. „Dann muss Sascha bei Mama schlafen“, sagte ich. „… Ach so“, sagte sie und fragte Sascha: „Kannst du bei meiner Mutter schlafen?“ „Nö“, sagte er. „D u schläfst bei Mama, es ist deine Mutter!“, sagte ich. „Befehlen lasse ich mir das nicht!“, sagte sie. „Ich würde dich auch darum bitten!“ sagte ich. „Gut, von mir aus. Wir müssen Mama noch fragen.“ „Wonach? Ob ihre Tochter bei ihr schlafen kann!?“ „… Wegen Roni“, sagte sie. „Ihre Meinung dazu interessiert mich nicht!“, sagte ich. „Ihr könnt auch einfach machen, was ihr wollt, und ich lege mich ins Auto!“ „Schon gut, Till“, sagte Roni, „Sascha und ich, Maria und Vil.“

Den Wein trank ich schließlich in dem Wohnwagen, und ich lag schon im Bett, als die anderen kamen. Bis auf Sascha schnarchten dann alle. Das ist noch ätzender, wenn man wegen irgendwas nicht schlafen kann. Ich wurde schon wieder wach, als meine Mutter aufs Klo ging, und als sie zurück ins Bett kroch, tuschelten und kicherten die beiden … Vil und ihre Mutter! Das tat gut, eine Wonne, sie so zu hören. Ich schlief wieder ein und dann bis zum Mittag. Ich war allein, sehr gut, trank eine große Tasse Kaffee und suchte hiernach sofort nach Jana, unauffällig, aber ausschließlich, bestimmt eine halbe Stunde. Ich fand sie nicht. Es war wieder geklaut worden, bei einem fehlte eine Flasche Sekt, die draußen mit einer weiteren in einer Kiste gestanden hatte, bei einem anderen die Kabelrolle, die hier aber schon zweimal verschwunden und wieder aufgetaucht war. Bevor ich in den Wald ging, traf ich Vil und Sascha. Sie gingen wieder Hand in Hand! Da rutschte es mir einfach raus: „Es wäre übrigens gut, wenn du davon nicht schwanger wirst.“ Vil sah mich eine Sekunde mit ihren größten Augen an und fiel dann wieder in Ohnmacht. Sascha stürzte sich sofort auf sie: „Liebling! Mein Liebling!“ „Idioten“, brummte ich und ging weiter. Sie hatte schon lange ihre Periode, die letzte vor ungefähr zehn Tagen, aber ich wusste das ehrlich gesagt nicht so genau mit den Zeiten, meine Ex verhütete schon. Sascha hatte es drauf, aber das hilft ja dann auch nicht so viel, und Kondome hatte er wahrscheinlich nicht dabei. Wenn sie nur insgeheim von ihm entjungfert werden wollte, das stellte ich mir so ab einem bestimmten Punkt nicht mehr nur theoretisch und dann auch nicht mehr so kontrolliert vor.

Ich ging in den Wald, als ich sicher war, dass es keiner sah. Einem Mädchen hinterherzulaufen, war mir peinlich wie jedem anderen, weil ich ein Idiot war wie jeder andere. Ich wusste eigentlich nicht mehr, wo die Stelle war, an der sie auf mich gewartet hatte. Also, so ungefähr war die Richtung natürlich noch da, die ging ich, wieder im Zickzack. Es war stressig, gruselig, ich fühlte mich die ganze Zeit beobachtet, hinter jedem Baum und Strauch rechnete ich mit ihr. Und es dauerte ziemlich lange, es war wirklich einen Kilometer vom Camp entfernt, als ich sie sah, schon bevor ich das Zelt sehen konnte: Sie hing in der Luft, sie hing an einem Ast. Sie hatte sich aufgehängt!! Ich sah weg, nach rechts, ein kleiner Baum war dort nachgewachsen, ich schätzte oder entschied, es war eine Buche, nur halb so groß wie ich und ganz symmetrisch geformt. Ich sah wieder hin. Ich kann mich jetzt, glaube ich, nicht richtig beschreiben, so etwas hatte ich noch nie erlebt, noch nicht mal einen schweren Unfall oder so. Jedenfalls fing ich schrecklich zu zittern an, drehte mich herum und ging schlotternd so zehn Meter zurück. Ich rang wirklich um Beherrschung, ich musste mich setzen, da fing ich dann so heftig zu schluchzen an, bis ich endlich heulte. Aber dann fiel mir plötzlich ein, dass sie manchmal nicht tot sind! Ich raste hin. Ich sah sie von hinten und ich wusste, dass ich nicht herumgehen würde. Sie war barfuß, ich gab mir einen Ruck, griff einen Fuß, ich zitterte. Er war ziemlich kühl. Ich suchte nach dem Puls neben dem Knöchel, ich fühlte und fühlte, bis ich mir eingestand, dass ich nicht genau wusste, ob ich das dort richtig machte. Einige Meter entfernt, neben ihrem kleinen Zelt, stand ein Campingstuhl. Mit dem kam ich an ihr Handgelenk, auch das war eigentlich kalt, und ich war mir jetzt sicher, als ich vergebens nach ihrem Puls tastete und wollte trotzdem nicht damit aufhören. Ich fühlte mich hier plötzlich allein – und wie! Aber dann war sie wieder da, aber gleich wieder nicht, wieder da und wieder nicht, sie kam immer wieder, bis ich mich erinnerte, wie warm ihre Hand gestern gewesen war … Ich sprang vom Stuhl. Ich konnte sie nicht von vorne ansehen, dafür schämte ich mich und ging stattdessen hastig ein paar Schritte hin und her. Ein allerletzter Versuch, wie eine unsinnige Pflicht, ich schrie einmal ihren Namen, nein, nicht gleich, erst sagte ich ihn zweimal laut (irgendwie drohend, bemerkte ich später). Und ich hatte genau hingesehen, nicht die geringste Regung. Ich stellte den Stuhl an seinen Platz zurück und setzte mich darauf. Das war so etwas Endgültiges, sowas Absolutes, das wollte nicht in meinen Kopf, irgendwie blieb es eine Ahnung – aber die genügte, wirklich! Die Kabelrolle stand am Boden, direkt unter ihr. Es war nicht mehr abgewickelt als nötig, obwohl das nicht so wenig war, der Stecker baumelte bei ihren Beinen, und sie war mit dem den Baum rauf auf den Ast geklettert, hatte das Kabel einige Male darumgelegt und dann die nötige Länge heraufgezogen und die Schlinge, die die Dicke mehrerer Kabel hatte, so einen Meter hinter (also besser unter) dem Ast gemacht. Neben dem Stamm der großen Birke stand die Sektflasche. Es war nur noch ein Viertel drin. Sie hatte sich übrigens in die Hose gemacht, man konnte nichts mehr sehen, aber ich hatte es gerochen. Ich dachte an ihre Kraft, nicht mit uns zu sprechen, und dann an ihre Stimme. Ich holte die Flasche, guckte nicht, was darin so schwamm, und trank einen Schluck. Ich war irgendwie ganz irritiert, er schmeckte noch so frisch, mit Kohlensäure und allem. Ich fing wieder an zu heulen. Irgendwann packte ich im Zelt alles zusammen, was mir gefiel, zum Beispiel viele kleine Buntstiftbilder, eine Schachtel mit Resten von den Stiften und ein Tagebuch, schätzte ich, ich konnte jetzt nicht lesen, eine Bürste mit ihren Haaren drin, ein Rest Sonnencreme, die sehr gut roch, sogar ein T-Shirt und ein Unterhemd, in das ich die Pfeife wickelte. Ich stopfte alles in einen Nylonsack, in den, das Bild war darauf, das Zelt gehörte. Eine graue Hose, obwohl schön gefaltet, passte am Ende nicht mehr rein. Den Umschlag mit dem Geld (nur so 80 Euro) und den zwei Schlüsseln ließ ich liegen. Aber nicht das Handy, mit dem ich hier gar nicht gerechnet hatte und das ich im letzten Moment zwischen der Zeltwand und der Isomatte fand. Ein Samsung Galaxy, hatte ich auch. Es war eingeschaltet, keine Sperrung (würde ich nie machen), Akku halb voll, wichtig, denn ich fand das Ladegerät nicht. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich keinen Abschiedsbrief gesehen hatte, aber dass ich auch mit keinem gerechnet hatte. Mit dem Sack an der Schulter, er hatte so Schnüre, stampfte ich dann einfach los, nur noch ein Blick hinauf zu ihren schönen blonden Haaren. Nach einigen Metern stoppte ich, ging ohne sie noch einmal anzusehen, zu ihr zurück, küsste ihren Knöchel ganz fest und drückte ihn dann fest an meine Wange und wünschte irgendwie, sie könnte es sehen, von dort, wo sie jetzt vielleicht war.

Die halbe Strecke heulte ich, war mir egal. Beim Camp angekommen, wartete ich, bis ich unauffällig zum Wohnwagen gelangen konnte. Ich hatte einen Schlüssel, den ließ ich gleich stecken. Bis zur Straße war es ziemlich weit, ich trug den Zeltsack und meinen Rucksack, und ich musste wieder durch den Wald, denn ich wollte auf der Zufahrt zum Camp nicht gesehen werden. Ich wusste nicht, was mit mir los war, etwas war mir peinlich oder so, eigentlich hatte ich Angst, hier noch irgendjemandem zu begegnen. Dieser Scheißwald, ich wollte aus diesem Scheißwald raus. Als ich das endlich geschafft hatte, musste ich auf jedes Auto ein paar Minuten warten, es war diese kleine Straße durch den Wald. Der vierte stoppte. Ich trampte mindestens drei Stunden und bestimmt nicht den kürzesten Weg, bis ich beim Mediamarkt ankam. Das Ladegerät von ihrem Handy wird irgendwo im Camp sein, wo sie es immer auflud, dachte ich. Ich konnte es zwar auch ohne PIN in Betrieb nehmen, aber dann waren die Daten weg. Das Original hatten sie bestimmt nicht da, ich nahm so ein Universal-Ding vom Haken, als mir richtig in den Kopf knallte, dass ich doch auch ein Samsung Galaxie hatte, das gleiche Ladegerät! Ich fuhr dann mit dem Bus nach Hause, das war nicht mehr so weit.

Zuhause lud ich als erstes das Handy, legte mich mit meinem aufs Bett und antwortete sofort Vil und meiner Mutter. Ich hatte es schon im Wald ausgemacht und bis jetzt nicht wieder eingeschaltet, ich wollte niemanden in meinem Leben haben, wenn man das so sagen kann. Ich entschuldigte mich, hätte da plötzlich weg gemusst, nannte mich einen komischen Vogel. Vil schrieb ich noch (das war gemein, ich weiß, aber mit normalem Denken erreicht man da gar nichts), dass es Probleme mit dem Jugendamt gäbe, wenn sie jetzt schon schwanger würde – stimmte aber auch. Dann schlief ich auf der Stelle ein und dann wachte ich gleich wieder auf: In dem Traum sah ich sie natürlich von vorne, das will ich jetzt lieber nicht beschreiben. Außerdem sah sie mich an, entsetzt, als dürfte ich sie so nicht sehen. Das klingt nach einer Schnulze, aber so war es! Das Handy lud noch, ich setzte mich in die Küche und probierte von allem im Kühlschrank. Ich war schon satt, als ich mich für Vils indisches Tofu-Zeug aus dem Glas entschied. Jetzt nahm ich das Ding einfach vom Kabel und legte mich damit wieder aufs Bett. Sie hatte zuletzt mit P telefoniert. Das war über zwei Wochen her! Davor hatte sie sehr oft mit P telefoniert, aber auch mit A, E und Sara. Würde ich es machen, würde ich einen anrufen? … Irgendwie tickte ich nicht richtig! Jetzt ging das doch erstmal gar nicht! Wirklich wahr, das kapierte ich jetzt erst! Ich raffte nicht, was Sache war, meine Situation, meine ich. Dagegen musste ich sofort etwas tun! Vielleicht sollte ich mal mit jemandem sprechen, Philipp, mein Onkel, der verstand Gefühle. Nein, das würde ich jetzt nicht hinkriegen. Ich wusste ja schon mal sehr gut, dass ich jetzt keinen von denen anrufen konnte. Wenn ich nach allem da mal mit jemandem sprechen wollte, würde ich mir die Nachrichten angucken und dann entscheiden, wen ich anriefe, jetzt öffnete ich nichts. Ich legte das Ding weg, ich musste duschen. Ich nahm es wieder und schaute nach den Fotos … Das war jetzt ein Fehler. Es gab nur ein Foto! Sie hatte sich selbst aufgenommen, sowas ging ja fast immer daneben, bei ihr nicht! … Und es gab sie ja jetzt nicht mehr!! Eine Scheißwelt!! Aber ich freute mich über das Bild!! Warum freute ich mich denn über das Bild?! Wann war das? Datum … Gestern, 20.07 Uhr. Sie lag im Zelt, ich erkannte jetzt die Streifen der Isomatte neben ihrem Haar.

Noplot

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