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Kapitel 2 - Die Waise

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Wir schreiben das Jahr 1203 nach dem Großen Feuer.

Das Mädchen stolperte, mit verbissener Miene, entschlossen, durchzuhalten, durch die endlos scheinende Öde. Der ständige Wind in der postapokalyptischen Steppe wirbelte hier und da Wolken von Staub auf, zog durch die vereinzelten, knochentrockenen Gräser und Büsche, die sich stets zu Gruppen zusammengefunden hatten, als besäßen sie das Bewusstsein, nur so in dieser erbarmungslosen Wüstenei zu überleben. Tief in seinem Inneren wusste das Mädchen, dass es so gut wie tot war. Hoffnung gab es nicht in dieser toten Weite, die wenigen Dörfer waren misstrauische Gemeinschaften, die Fremden gegenüber nicht sehr aufgeschlossen waren. Und fremden jungen Frauen, die ohne Begleitung und damit Schutz unterwegs waren gegenüber würde kaum jemand sonderlich wohlwollend gegenübertreten. Der fauchende, auf eine erschreckende Weise feindselig anmutende Wind blies ihr die Massen des dunkelgelb-braunen Staubes entgegen, ließ selbst bei hellem Tageslicht die Szenerie um sie herum unheimlich und bedrohlich erscheinen. Das Mädchen zog den Staubschutz noch höher, bis an ihre hellblauen Augen heran. Sie ahnte, dass sie beobachtet wurde - oder wenigstens gewittert. Die Öde mochte tot und ohne Leben anmuten, aber sehr schnell konnte man als Unerfahrener in diesen Weiten zu spüren bekommen, dass nicht ALLES hier tot war. Denn seit der Zeit der Alten hatte die Welt sich gewandelt, waren Bestien aufgetaucht, welche es in früheren Zeiten nur in Märchenbüchern oder Horrorfilmen gegeben hatte. All das wusste das Mädchen natürlich nicht - für sie war dies die Welt, in die sie hineingeboren, in der sie aufgewachsen war. Dummerweise besaß sie das Wissen um die Tierwelt hauptsächlich aus dem Unterricht der Ordensschule - und sie schalt sich zum x-sten Mal, nicht besser aufgepasst zu haben, so dass sie alle Gefahren hätte erkennen können. Einige wusste sie noch. Die junge Frau hielt Ausschau nach den hüfthohen Mulden der Sandbeißer, nach Ecar Lupus, beides Gefahren, die auch tagsüber präsent sein konnten. Die meisten Tiere jagten nachts, was aber für die junge Frau kaum ein Trost war. Denn hier draußen war sie alleine -und sie hatte keine Möglichkeit, einen sicheren Ort zu erreichen, ehe die Dunkelheit über sie hereinbrechen würde. Mit einem grimmigen Lächeln, das keinerlei Freude ausdrückte, musste sie daran denken, dass es auch noch ihre möglichen Verfolger waren, über die sie sich Gedanken machen musste. Lord Autumn würde die Mörderin seines Sohnes wohl kaum einfach den Raubtieren hier draußen überlassen. Rasch verdrängte sie den Gedanken wieder, als die blutigen Bilder von dem, was geschehen war, wieder vor ihrem geistigen Auge aufflammten und ihr die Tränen in die Augen trieben. Sie bemühte sich, die Reste verkrusteten Blutes an ihren Händen und Unterarmen einfach zu ignorieren. Leicht gesagt, doch sie schaffte es. Sie konzentrierte sich schnell wieder auf das Hier und Jetzt, obgleich die innere Qual sie schier dazu zwang, vor Schmerz zu schreien.

Anhand des Sonnenstandes wusste sie, dass sie nach Osten unterwegs war. Zugegeben Osten war in ihrer Lage nicht schlau – aber Westen wäre regelrecht dumm gewesen, denn dort gab es nichts - sah man von den Stämmen ab. Seit sie denken konnte, hatte man sie vor den Tribes gewarnt. Sie seien genauso schlimm wie die "Verdammten". Letztere wurden von der Kirche des Feuers niemals anders bezeichnet, aber unzählige Geschichten über diese Wesen, die angeblich die Nachfahren der sündigen, finsteren Alten waren, gingen herum. Sie mordeten und verwüsteten wahllos, waren blutgierig, grausam, verabscheuungswürdig und frevlerisch gegen den Herrn des Feuers, der ihre Ahnen einst aufgrund ihrer Verkommenheit vernichtet hatte. Nie war das Mädchen einer solchen Kreatur begegnet, aber vor allem von den "Gestraften", die weit herumkamen, hatte sie viele Erzählungen über Kämpfe gegen diese Wesen gehört. Wieder blieb die junge Frau stehen, ihre Hand suchte den Griff des Schwertes hinter ihrem Rücken, als könne sie die Klinge vor allem beschützen, was ihr drohte. Sie war sich nur allzu schmerzlich bewusst, dass dem nicht so war. Wieder kam alles hoch - kein Wunder, war es doch erst eineinhalb Tage her, tobte doch die Qual noch immer heftig in ihr.

Was, wenn die Leute des Lords sie einholten? Würde sie sich ergeben? Wie lange würde es dauern, bis sie tot wäre? Ein verzweifelt-zorniges, humorloses Lächeln legte sich sekundenlang auf ihre Lippen. Nein, nicht so. Auf diese Weise wollte sie nicht sterben, dann sollten ihr die Reiter des Lords lieber ein paar Pfeile in den Leib jagen - ein schnelles Ende, ohne Erniedrigungen und tagelangen Schmerz. Sie hatte zwar geschworen, nicht zu sterben, wenn es sich vermeiden ließ, aber wenn sie die Wahl hatte, sehr lange zu brauchen, bis man ihr das Aushauchen ihres Lebens gestatten würde - oder einen zwar blutigen, aber weit schnelleren Tod, dann fiel die Wahl wirklich nicht schwer, kam es ihr das hundertste Mal in den Sinn. Nun fühlte sich der vertraute Griff des Schwertes erheblich beruhigender an als zuvor, doch nun stieg auch das Bewusstsein des Verlustes in ihr hoch.

Das Mädchen rang mit ihren Empfindungen, als sie an all jene Menschen dachte, die sie hatte zurücklassen müssen, die Teil ihres bisherigen Lebens gewesen waren. Denen sie hatte vertrauen können. Zumindest ein paar davon.

Und wieder, wie in den letzten Stunden schon mehrfach, drohten ihre Erinnerungen sie zu überwältigen. Welchen Sinn machte es noch, weiter und weiter ins Nichts zu gehen, ohne Ziel, mit Wasser noch für zwei Tage...? Wofür all das, wofür noch weiterleben? Um irgendwelchen Bestien oder Aasfressern als kleiner Imbiss zu dienen, wenn die Kraft aufgebraucht sein würde? Um am Ende doch von den Verfolgern eingeholt und zu einem grausamen Tod zurück nach Last Hope geschleift zu werden? Das Mädchen biss die Zähne aufeinander, hasste sich selbst für ihre vermeintliche, innere Schwäche. Sie strich sich eine Strähne ihres rabenschwarzen Haars, das ihr ins Gesicht gefallen war, zurück. Es gelang ihr, die düsteren Gedanken zu verdrängen. Sicher nicht für lange, aber - so hoffte sie - lange genug.

Gerade kam sie in eine langgezogene Senke, die von bröckelnden Felsen flankiert war, als sie etwas hörte. Es klang wie ein Schmerzenslaut, doch ebenso gut hätte es einem Tier gehören können. Einem verwundeten Tier, aber ein verwundetes Ödland-Raubtier konnte gefährlicher sein als eine Meute Raider. Das Mädchen schluckte, fühlte die Trockenheit des Windes, der ihren Mund ausdörrte. Langsam, die Hand am Schwertgriff, dessen Scheide auf ihrem Rücken festgeschnallt war, ging sie auf die Quelle der Laute zu. Mehr und mehr erhärtete sich ihr Verdacht, dass es kein Tier sein konnte. Als sie dann die Stiefel sah, die hinter einem massiven Felsbrocken, der sich wohl vor langer Zeit aus den Felsen über ihr gelöst hatte, hervorstanden, blieb sie stehen und sah sich genau um. Hier, in den öden Landen, musste man mit allem rechnen, vor allem mit geschickten und dreckigen Fallen. Langsam zog sie ihr Schwert, setzte sich mit Bedacht wieder in Bewegung. Der Fremde, der offensichtlich verletzt war, trug eine Lederrüstung, die an vielen Stellen immer wieder ausgebessert zu sein schien. Erst, als die junge Frau den letzten Schritt machte, erstarrte sie. Ein Gestrafter!

Erschrocken verharrte sie, behielt den Verwundeten vor sich im Auge – obwohl es ihr einiges abverlangte. Der grausige Anblick von Gestraften konnte auch Leute mit starken Mägen in Gefahr bringen, sich das Mittagessen nochmals durch den Kopf gehen zu lassen. Das Mädchen stand einige Atemzüge nur so da – bis der Gestrafte sie, trotz seiner Schmerzen, bemerkte. „Hilf…mir…Wasser…!“, brachte er mühsam heraus. Das unnatürlich gekrümmte Bein des Gestraften sprach Bände über den Grund seines Zustandes. Er musste gestürzt sein, weshalb auch immer – und war nun dabei, elend zu verdursten. Zwei tote Hunderatten hatten wohl schon ihr Glück versucht, wie man an den beiden Kadavern sehen konnte, aber das Blut der toten Biester würde weitere Raubtiere anlocken. Kein schöner Tod, auch nicht für einen Gestraften. Die junge Frau stand da, rang mit sich. Du bist eine Ritterin, sagte sie sich, als der Selbsterhaltungstrieb ihr zuschrie, einfach weiter zu gehen. Ritter lassen Verletzte nicht in ihrer Not umkommen. Höhnisch meldete sich ihr Verstand und sagte ihr, dass sie keine Ritterin war – und es nun, nachdem, was geschehen war, auch nie sein würde. Sie schluckte trocken, aber der Gedanke daran, diesen Verletzten hier verrotten und lebend von allerlei Tieren zerfleischen zu lassen, war zu schrecklich. Niemand verdiente ein solches Ende. Sie nahm ihre Feldflasche, die sich schon jetzt beunruhigend leicht anfühlte. Bestenfalls zur Hälfte reichte das lebenswichtige Nass darin noch.

Dennoch stand ihr Entschluss fest – und sie hatte, trotz ihrer Jugend, den Charakterzug verinnerlicht, dass sie an einem gefassten Entschluss festhielt. So ging sie neben dem Verletzten in die Hocke und setzte die Feldflasche an dessen Lippen. Zugegeben, sie musste einen gewissen Ekel überwinden, was dem furchtbaren Aussehen und dem Geruch der Gestraften geschuldet war. Doch als dieser die Augen öffnete und begierig trank, spürte sie, dass das, was sie da tat – trotz ihrer Ausbildung und dem, was man ihr verächtliches über Gestrafte beigebracht hatte – gut und richtig war. „Trink’ langsam…nicht zu schnell“, riet sie dem Verletzten, der sich redlich Mühe gab, ihrem Rat zu folgen. Indessen musterte sie das offensichtlich gebrochene Bein. „Deine einzige Chance ist, wenn ich es schiene“, meinte sie nachdenklich. Der Gestrafte, dessen Alter man unmöglich schätzen konnte, schaffte irgendwie ein humorloses Grinsen. „Ich…wäre dir sehr dankbar…“, meinte er mit kratziger Stimme. Die junge Frau nickte. „Hm, ich suche nach geeigneten Ästen. In einer Meile oder so…da waren einige alte Bäume“, überlegte sie. Toll, sagte die Selbsterhaltung in ihr. Willst du vielleicht die Leute des Lords noch hierherlocken, damit du auch sicher erwischt wirst? Sie ignorierte die Stimme. Ich mag getötet haben…aber nie werde ich das ohne Not tun. Oder auch nur einen Hilflosen sterben lassen, dachte sie entschlossen. Sie griff rasch in ihre umgehängte Rückentasche und nahm einen Apfel heraus – einen von zwei, die sie noch besaß. „Du isst den hier, bis ich zurück bin“, sagte sie, reichte dem Gestraften die Frucht. Der nahm sie wortlos entgegen, biss ohne langes Zögern hinein.

Das Mädchen ging den Weg zurück, den sie gekommen war, bis sie bei einer Gruppe von alten Bäumen angelangte. Die Blätter waren erstaunlich dicht, bildeten ein gelbes Dach. Wie bei den meisten Ödland-Bäumen war auch dieses Holz sehr trocken, so dass viele Äste herumlagen, die in der Trockenheit nicht gammlig wurden. So konnte die junge Frau genügend davon finden, um sowohl eine Schiene für das Bein des Gestraften, als auch für ein Lagerfeuer zurück zu tragen. Der Weg mit der Last stellte sich als echten Kraftakt heraus, die junge Frau fühlte den Wassermangel und auch, dass sie nicht genug gegessen hatte. Was angesichts des schlimmen Geschehens und ihrer Flucht nicht weiter verwunderlich war. Hätte ich mich besser stellen sollen? fragte sie sich zum wenigstens hundertsten Male – und die Antwort war dieselbe – Nein. Der Kriegsherr hätte sie, Ordensrekrutin hin oder her, zu Tode foltern oder verbrennen lassen. Lebend, wohlgemerkt. Was zählte ihr Wort, wenn die Abkömmlinge von Adel gegen sie standen? Die Ungerechtigkeit dessen zerrte an ihr, hatte sie doch solcherlei Dinge für undenkbar gehalten.

Schweigsam legte sie die geeigneten Äste, dick und einigermaßen gerade, an dem Bein des Gestraften an. Da es kein offener Bruch war, musste sie ihm nicht das Hosenbein aufschneiden – wofür sie, angesichts des fraglos schrecklichen Anblicks – dankbar war. „Das wird weh tun“, sagte sie warnend. Sie wusste es, denn sie hatte dies schon einige Male bei verwundeten Kameraden oder sogar einmal bei einem ihrer Ausbilder gemacht. Zwar als Kriegerin trainiert, hatte man alle weiblichen Rekrutinnen des Ordens auch zu Heilerinnen ausgebildet. Der Gestrafte setzte das spaßfreie Grinsen auf und meinte: “Solange es hilft.“ Sie zog den Gürtel um Bein und Äste fest, dann einen von zwei Gurten, den sie von ihrer Rückentasche herausgezogen hatte. Der Gestrafte zog scharf die Luft ein, die junge Frau konnte seine Zähne knirschen hören. Sie verschnürte die beiden Bänder, nachdem sie geprüft hatte, ob das Bein gerade lag. Dann ließ sie sich, völlig erschöpft zu Boden sinken, lehnte sich, dem Gestraften gegenüber an den Felsbrocken.

Eine Weile hörte sie nur ihren eigenen Atem und den des Gestraften. „Warum hilfst du mir?“ Die Frage kam so plötzlich, dass die junge Frau unwillkürlich aufblickte. „Was…meinst du? Du bist verletzt…“ „Nein, das meinte ich nicht“, sagte der Gestrafte hart. „Weshalb hilfst DU mir?“ Nun erst verstand sie. Naserümpfend hob sie die Schultern. „Wäre es dir lieber gewesen, von Hunderatten verspeist zu werden?“ „Glatthäute helfen unsereins nicht. Ihr habt uns gerne als Söldner oder Jäger…aber ansonsten lasst ihr uns verrecken“, presste der Gestrafte hervor. Die junge Frau schnappte nach Luft ob seiner Undankbarkeit. „Schön, das nächste Mal darfst du elend zugrunde gehen, wenn du das vorziehst. Seid ihr Gestraften alle so dämlich, oder bist du eine schlaue Ausnahme?“ Nun wurde aus der abweisenden Miene des Gestraften Hass. „Ihr…dreckigen Glatthäute, oder Menschen, wie ihr euch noch nennt, aber es längst nicht mehr seid. Meine Frau und meine kleine Tochter habt ihr verhungern lassen, habt sie aufs Furchtbarste verenden lassen, direkt vor den Toren eurer Stadt. Gelacht haben eure Stadtwachen, als sie schwächer wurden, als sie im Schatten der Mauer elendig starben!“ Er hatte zuletzt geschrien, mit heiserer Stimme. Die junge Frau starrte ihn ungläubig an. Das, was er da gerade erzählt hatte, war zu grausig, um sich schnell den Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen. Sie sah den unsäglichen Schmerz in den Augen des Gestraften – und konnte seinem Blick nicht mehr standhalten. „Welche…Stadt?“, fragte sie. Der Gestrafte lachte voller Bitterkeit. „Eternal Flame. Im Angesicht eurer…großartigen Kirche, eures Reichtums ließt ihr meine Familie sterben. Nur einer, ein Mensch, hätte Mitleid haben müssen. Nur…einer!“, flüsterte er nun fast.

Das, was sie da gehört hatte, konnte die junge Frau kaum glauben. Ihr Leben hatte sie gerade jener Kirche gewidmet, es ihr geweiht – und nun? Jetzt war sie auf der Flucht, weil die Kirche alles von ihr verlangt hatte – aber nicht bereit war, sie im Gegenzug zu beschützen. Und als sie schon gedacht hatte, es könne kaum noch schlimmer kommen, erfuhr sie von etwas, das sie für undenkbar gehalten hatte. Der Gestrafte log nicht, das wusste sie einfach. Weder hätte es Sinn ergeben, wenn er ihr eine solche Lügengeschichte erzählt hätte, noch logen seine Augen. „Ich mache dir ein Feuer, dann…muss ich weiter“, sagte sie, ohne auf das einzugehen, was der Verletzte ihr geschildert hatte. Der nickte nur, starrte vor sich hin.

Die junge Frau zündete ein Feuer mit den Brennsteinen an, was bei dem trockenen Holz kein Kunststück darstellte. „Hast du Waffen?“, fragte sie, was der Gestrafte nach einem kurzen, düsteren Blick mit einem Kopfschütteln beantwortete. „Die beiden Hunderatten habe ich mit meiner Axt getötet, dann ging sie zu Bruch. Ausgerechnet in dem Augenblick. Mein Ecar trägt alle meine Waffen, er verfolgte den Rest der Ratten, als ich hier heruntergestürzt war. Ich denke, er wird bald zurückkommen“, meinte er tonlos. Nach einigen Momenten Zögern zog das Mädchen einen Dolch und hielt ihn dem Gestraften hin. „Für alle Fälle“, sagte sie leise, wandte sich dann ab und ging.

Sie hätte später nicht mehr sagen können, warum sie es tat. Ob es die Erschöpfung war, die sie sensibler werden ließ, oder echtes Mitleid mit diesem anscheinend Gebrochenen, den sie hier zurücklassen musste, weil ihr keine Wahl blieb. Jedenfalls blieb sie stehen, drehte sich noch einmal zu dem Gestraften um. „Viel Glück…möge dein Gott…oder an was du glaubst, dir helfen. Und…es tut mir leid um deine Familie.“ Sie konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. „Ich weiß, es sind nur Worte, sie ändern nichts mehr an dem, was geschehen ist. Aber…ich schwöre, ich hätte ihnen…etwas zu essen gegeben.“ Ohne zu sehen, ob der Gestrafte sie spöttisch anblickte oder nur hasserfüllt, ging sie weiter. Es war eigentümlich, aber obwohl sie keine Dankbarkeit erfahren hatte, dazu Zeit und Kraft hatte aufwenden müssen, wusste sie genau: Ich würde genau dasselbe wieder tun. Weil es etwas Gutes war.

Langsam wurde es dunkel, das Purpur der Sonne verblasste, machte dem dunklen Azur Platz, das schon bald in die von ihr gefürchtete Finsternis überging. Finsternis in den Ödlanden! Erwachende, nach Beute suchende Augen, geifernde Kiefer, zermahlend und tödlich…Klauen, die über Stein kratzen - bereit, das Fleisch eines Opfers von dessen Knochen zu reißen. Nur sehr erfahrene Jäger, meist "Gestrafte", gingen alleine bei Dunkelheit in die Öde. Oder Selbstmörder. Oder der eine oder andere Idiot. Die Beweggründe spielten bei den beiden letzteren keine Rolle - der Ausgang war derselbe. Die junge Frau zwang sich, ruhig zu bleiben, wie sie es gelernt hatte. Ruhig auch dann, wenn der Tod drohte. Ganz funktionierte das natürlich nie, aber wenigstens geriet sie so nicht in Panik. Denn der Augenblick war gut für Panik geeignet. Rote Augen musterten sie durch die Finsternis, Sabber troff aus Mäulern.

Das Mädchen hörte das Huschen, das leise Auftreten von schweren Pfoten rechts und links von ihr. Von weitem sah sie in der schwindenden Dämmerung die Silhouette einer jener Überreste aus der Zeit der Alten, großenteils zu Staub zerfallen, eine Ruine, anscheinend nicht klein, die sich vor dem Licht der himmlischen Feuerstätten abzeichnete. Ihr war, als würde dort - kaum zu sehen, aber existent - ein Feuer brennen. Aber rasch verwarf sie diesen Gedanken. Wer mochte schon hier draußen sein? Vor Menschen in den Ödlanden musste man sich fast noch mehr in Acht nehmen als vor den Bestien oder den "Verdammten" - das hatten ihre Lehrmeister ihr immer wieder eingetrichtert. Was sie ihr nicht mit auf den Weg gegeben hatten, war die Antwort auf die Frage, die sie nun bewegte - lieber zu diesen Unbekannten gehen, oder...? Sie schalt sich eine Närrin. Die Ruine musste wohl über eine Meile entfernt sein. Nie würden die gefährlichen und leider auch nicht dummen Raubtiere, die den Kreis jetzt schon schlossen, sie bis dorthin gelangen lassen. Es waren Ecar Lupus, im Rudel jagende, wolfsartige Kreaturen, deshalb auch Ödland-Wölfe genannt, mit sechs Beinen, die mit schreckerregenden Krallen versehen waren. Meist schwarz sahen diese Biester, die fast hundertfünfzig Kilo wiegen konnten - hundertfünfzig Kilo Muskeln, Sehnen, Zähne und Krallen, wohlgemerkt - selbst bei bewölkter Nacht noch wie am helllichten Tage. Sie waren schnell, viel zu schnell, um ihnen selbst bei kurzer Distanz zu einem sicheren Ort noch davonzulaufen. Das wusste sie von einem ihrer Lehrmeister, einem "Gestraften" namens Knox, der ihnen alles Bekannte über die Tiere und Pflanzen in der Öde beigebracht hatte.

Ein Knirschen von Zähnen aufeinander kam aus solcher Nähe, dass die junge Frau stehen blieb. Zwar besaß sie keine Erfahrung mit den Angriffsgewohnheiten dieser Tiere, aber ihr war klar, dass ihre Chancen sehr gering ausfallen würden. Ohne Hast zog sie ihr Schwert, das sie beidhändig führte, vergewisserte sich dann, dass der Ersatz-Dolch griffbereit war. Mehrere blutrote Augenpaare kamen näher, trottend und sich ihrer Beute sicher. Seitlich von ihr sah sie noch einmal einige der Bestien, die sie nun fast eingekreist hatten. Die junge Frau schloss für einen Moment die Augen, atmete tief ein. Die Kühle der Nacht durchströmte sie, wie auch der widerliche, aber auch ungezähmte Geruch der Raubtiere. Und dann spürte sie es wieder. Jenes Gefühl inneren Friedens und völliger Ruhe. Die Flucht war zu Ende. Hier gab es keinen Ausweg mehr, aber wo bei anderen Menschen Verzweiflung und Panik vorherrschte, geschah bei ihr das Gegenteil. Als das Adrenalin durch ihre Adern schoss, was sie als reine, wilde Kampfeslust wahrnahm, verzog sie ihr Gesicht zu einem pulsierenden Grinsen. "Kommt...wenn ihr mich wollt, dann kommt her, ihr Drecksbiester", entfuhr es ihr laut, während das fiebrige Gefühl, die Vorfreude auf das, was kommen würde, das logische Denken verdrängte. Ihre Stimme klang selbstsicher und voller Willen, zu töten. Die Ecar Lupus knurrten, aber sie zögerten. Sie rochen keine Angst an ihrem Opfer, keine Ausdünstungen, die für gewöhnlich anzeigten, dass die Beute sich fürchtete. Ohne diesen Vorteil war diese Art von Opfern gefährlich, das wussten die Tiere instinktiv. Aber dann machte das Leittier der Unentschlossenheit ein Ende und raste mit einem Aufknurren auf das Mädchen zu. Dessen Klinge blitzte auf, ehe wie auf Kommando die übrigen Bestien losstürmten.

Magnus Adams, Ritter, Feldherr, Gründer der Kirche des Feuers, Sieger über alle seine Feinde, gründete die Stadt, die heute als Eternal Flame bekannt ist. Er setzte sie auf die Ruinen jener Stadt, die einst, bei den sündigen, verderbten Alten, New York genannt worden war. Eternal Flame war die erste der fünf Großen Städte, die sich schließlich, zu allererst mit dem am nächsten gelegenen Great Lamplight, einstmals Philadelphia genannt, zu einem Bündnis im Zeichen des Feuers, unter dem Schutzbanner der Kirche und ihres Ordens der Flamme vereinigten. Northern Light, das frühere Boston, Southern Flame, welches einmal eine Hafenstadt der Alten gewesen ist, genannt Norfolk, nun wichtigster Handelshafen der Fünf Städte, außerdem Fire of Courage, welches die Alten unter dem Namen Richmond kannten - der Name der Städte symbolisierte die Zugehörigkeit zum Glauben an das Feuer und das Licht, das die Kirche als Standarte vor sich her trug.

Aus den Anführern der sich in ihrer Verzweiflung hinter den Mauern der schnell wachsenden Siedlungen verschanzenden Menschen gingen in diesen Zeiten die Adelshäuser der Fürsten hervor, welche die rechtmäßige Macht und Staatsgewalt in sich zusammenfügten.

Diese zuerst einzeln gegen die Finsternis ankämpfenden Fürstenstädte vereinten ihre Kräfte gegen Barbaren und Kreaturen der Dunkelheit, die die Welt nach dem Großen Feuer überzogen hatte, als wolle sie sie ersticken.

(Auszug aus der Chronik der Ostlande, im Jahre 1192 nach dem Großen Feuer)

Sechzehn Jahre früher

Red Sid starrte angespannt über die vor ihm liegenden Hügel, die - wie der Rest der Ödlande auch - trocken und scheinbar tot vor ihm lagen. Der Wind heulte von Osten her über die leichten Erhebungen, trieb den trockenen Staub vor sich her. Red Sid fluchte lästerlich, als seine Hoffnung, die Spuren, denen er folgte, noch längere Zeit im schmutzigen Boden erkennen zu können, sich in Luft auflöste. Buchstäblich. Der Krieger schüttelte erbittert den Kopf. Ausgerechnet jetzt musste dieser beschissene Wind aufkommen, den er so sehr hasste. Nun, genau genommen hasste er eigentlich so ziemlich alles. Die Öde, den Wind, die verkommenen Kreaturen von Raidern, die er jagte und sein hirnloses Reittier, das unruhig mit den Klauenhufen in der Erde schabte. Der Ecar Equis, den Red Sid von der Kirche des Feuers bekommen hatte und in deren Auftrag er unterwegs war, konnte man nur als Frechheit auf sechs Beinen bezeichnen. Ein Hengst, noch nicht richtig zugeritten, aufmüpfig - ein Drecksvieh eben. Red Sid schob das Staubtuch von seinem Mund und spuckte einige Staubkörner, die mit dem Wind ihren Weg in seinen Mund gefunden hatten, neben sich in den Schmutz. Red Sid hatte einmal von einem der Priester gehört - der, nebenbei bemerkt, ein wenig zu tief ins Glas geschaut hatte - dass die Ecar Equis vor langer Zeit Pflanzenfresser gewesen seien. Aber damals hätten sie auch noch ganz anders ausgesehen. Heute, mit ihren sechs Beinen, ihrem langen, schlanken Leib und den Stachelhaaren überall, die sie zur Verteidigung aufrichten konnten und die - fingerdick - ziemlich schmerzhaft waren, kam man ihnen zu nahe, dazu dann noch die fürchterlichen Zahnreihen, die fähig waren, Fleisch wie Knochen und Knorpel mit Leichtigkeit zu zermalmen, konnte man sich diese Wesen als friedfertige Grasfresser kaum vorstellen.

Abgesehen davon, dass diese Biester das wenige, was an Pflanzenwuchs noch da war, sicher ziemlich schnell den Ödland-Rindern weggefressen hätten. Doch so sehr Red Sid diese Viecher auch verabscheute, eines musste man ihnen lassen: Sie waren schnell - sehr schnell! Ohne es sicher zu wissen, hatte der besoffene Priester damals geschätzt, dass diese Wesen, die sicher aufgrund zu wenigem Pflanzenwuchs Fleischfresser geworden waren (eine annehmbare Theorie, aber das hatte Red Sid nicht wirklich interessiert), wenigstens doppelt so schnell laufen konnten wie jene Vorläufer davon, die die Alten angeblich Fury genannt hatten. Das hatte der Priester aus alten Büchern herausgelesen, die nicht auf dem Index der Inquisition oder dem Schweigebann der Kirche an sich standen. Fury klang irgendwie nicht schlecht, so dass Red Sid seinem ersten Ecar Equis diesen Namen gegeben hatte. Ja, Fury war ein gutes Tier gewesen, auch wenn es ein hinterlistiges Mistding hatte sein können. Leider war es in einem Kampf mit Raidern verwundet worden, so dass Red Sid - praktisch veranlagt - die besten Teile davon mitgenommen und den Rest der umfassenden Menagerie der Ödland-Bestien überlassen hatte. Vor wenigen Tagen nun hatte man ihm diesen Ecar hier anvertraut - und Sid hätte schwören können, dass der Stallmeister des Ordenshauses, der ihm das Tier übergab, ein hämisches Grinsen in seiner blöden Visage hatte. Red Sid verzog bei dem Gedanken das Gesicht. Warte nur, du Arschloch, bis ich zurück bin, dann verfüttere ich dich an dieses Stück Scheiße, auf dem du mich hier rausgeschickt hast. Bei dem Gedanken fühlte sich der "Gestrafte" ein wenig beruhigt. Er musste wieder an die Ironie denken, dass die Kirche aufgerechnet IHN angestellt hatte, um eine Raider-Bande aufzuspüren, die mal wieder ihr Unwesen in den zur Abtei gehörenden Dörfern trieb. Red Sid grinste schadenfroh. Diese eitlen Pfaffen der Feuerkirche brauchten ihn - einen "Gestraften", den die Inquisition mit misstrauischen Argusaugen verfolgte, um eines ihrer Probleme zu lösen. Wie niedlich, dachte er.

Denn Red Sid war im Grunde ein lebender Frevel. Das hörte sich im ersten Moment komisch an, aber betrachtete man Red Sid nur einen Augenblick, wusste man, was damit gemeint war. Denn Red Sid war ein Mensch, der schon sehr lange lebte. Die Priester sagten, es sei ein Gift der Alten, das dafür verantwortlich sei, die Inquisition spielte mit der Idee, es könne ein Fluch sein, für den man seinesgleichen am besten verbrennen sollte - aber damit waren sie zögerlich. Denn nicht wenige sogenannte "Gestrafte" dienten als erfahrene Krieger - ihrem fürchterlichen Aussehen zum Trotz - in den Reihen der Truppen der Kirche und auch der von Fürsten und Kriegsherren. Sicher, bisweilen hängte man den "Gestraften" eine örtliche Seuche oder eine Hungersnot an und brachte ein paar von seiner Art um, aber das kam nur selten vor.

Die Gestraften sahen im Grunde aus wie Menschen, denen die Haut teilweise abgefault war, denen die Muskelstränge offen lagen. Kinder in den Dörfern rannten ihnen nach und riefen "Monster, Monster" oder Ähnliches, "normale" Menschen mieden sie wie den Gelben Tod. Aber das machte sie nicht zu schlechteren Söldnern, die - vor allem in Kriegszeiten - sehr begehrt waren.

Zu gut waren die auf furchtbare Weise entstellten "Gestraften" bei dem, was sie taten. Kein Wunder, immerhin besaßen nicht wenige von Red Sids Art hunderte Jahre Erfahrung in Kampf und Aufklärung. Jeder Kriegsherr, der auf ihre Dienste verzichtete und gegen einen Feind zog, der "Gestrafte" in seinen Reihen hatte, musste damit rechnen, gnadenlos unterzugehen. Kein zivilisierter Mensch konnte sich mit Red Sid oder seinesgleichen messen, was Aufklärung, aber selten genug auch, was den Kampf anging. Auch Auftragsmorde wurden von gewissen "Gestraften" zuverlässig ausgeführt. Red Sid grinste freudlos bei dem Gedanken an die sogenannten "Zivilisierten" im Osten. Brutal, unmenschlich waren nur zwei Worte, die ihm in Bezug auf die stinkenden, verschmutzten, übervölkerten Moloche einfielen, die auf jenen bröckelnden Ruinen standen, welche einst Städte der Alten gewesen waren. Intrigen, Kleinkriege und das damit einhergehende Elend hatten einen riesigen Pool von Söldnern geschaffen, gut ausgerüstet und erfahren, mit welchen sich meist nur die Leibwachen der Fürsten und - natürlich - die Ordenstruppen messen konnten, sollte jemand dumm genug sein, gegen letztere anzutreten (und damit gegen die Kirche - niemand aus den Zivilisationen im Osten hatte das seit Menschengedenken gewagt). Aber die Krieger der Stämme, jene wilden, freien und erbarmungslosen Völker, wuchsen in den Ödlanden auf - ihnen war die Kirche egal, sie waren gefährliche Gegner, auch wenn ihre Zerstrittenheit sie nie zu einer echten Gefahr für die Zivilisation in den Städten werden ließ. Die Tribes mochten nicht die lange Erfahrung der "Gestraften" besitzen - dafür sorgten die mitleidlosen Ödlande früh genug - aber sie kannten die verwüsteten Länder weit besser als jeder Eisenmensch. So nannten die Stämme die Städter und die Kirchenleute. Die Kirche hatte bereits zwei Kreuzzüge gegen die Tribes geführt, beide mit mäßigem Erfolg, da die Stämme schwer zu fassen waren in der Weite des Landes, vor allem aber östlich der Berge, wo das Landmeer scheinbar kein Ende nahm. In blindem Zorn hatten die Kirchentruppen und ihre Verbündeten Frauen und Kinder sowie wenige Gefangene niedergemetzelt, was ihnen die Stämme nie vergessen hatten. So war der unnötige Hass zwischen den sesshaften und den umherziehenden Völkern noch gewachsen.

Red Sid schob die Staubmaske wieder über seinen Mund, rückte das Kettenhemd, welches an einigen Stellen mit Metallplatten verstärkt war, unter seinem Umhang zurecht. Er roch den Rauch, ehe er ihn sehen konnte. Denn der Wind drückte den schwarzen Qualm herunter, so dass er nicht in den Himmel stieg. Red Sid trieb sein Reittier an, als ihm bewusst wurde, dass in dieser Richtung ein kleines Dorf lag, eigentlich eher ein Weiler mit vier Familien. Der Jäger fluchte erneut, als er über den Hügel kam und die Feuer in der Ferne sah. Diese Dreckskerle, dachte er. Sie haben die Richtung geändert, sicher haben sie die Häuser aus der Ferne gesehen. Sid trieb den Ecar ohne Rücksicht an, flog nach wenigen Sekunden bereits über die staubtrockene Erde. Normalerweise zog er das Anschleichen und Dezimieren eines Feindes vor - aber genau diese Wahl hatte er in dem Fall nicht. Denn er sah die Raider, wie sie sich zwischen den brennenden Häusern - eigentlich eher Hütten - bewegten. Red Sid wusste, dass jeder Augenblick zählte, wollte er noch Menschen retten, die diesen erbarmungslosen Schweinen in die Hände gefallen waren. Ruhig überprüfte er den Sitz seiner Waffen - Reitersäbel, Kurzbogen, zwei Wurfspieße - dann fegte er auch schon direkt auf die ersten beiden Gebäude zu. Sid kannte die Zahl der Feinde von ihren Spuren her. Schnelligkeit und Überraschung gaben ihm eine gute Chance gegen die zahlenmäßige Überlegenheit. Die Möglichkeit, dass einer der Gegner ein früherer Soldat aus den Städten oder gar ein Ritter war, musste er leider auch in Betracht ziehen, auch wenn letzteres nur selten vorkam.

Ein Raider kam gerade lachend aus einem dieser Häuser, seine abgetragene Lederkleidung voller Blut. Das letzte, was er in seinem Leben sah, war die Spitze des mit Widerhaken bewehrten Wurfspießes, ehe dieser genau zwischen seinen Augen in seinen Schädel einschlug. Ohne groß darauf zu achten, raste Sid weiter, sein Säbel beschrieb einen Bogen, als er einen weiteren Raider vor sich auftauchen sah. Der Kopf des Mannes, bärtig und mit einem Ausdruck völliger Überraschung auf seinem Gesicht, flog durch die Luft. Dummerweise saßen die beiden anderen Raider bereits im Sattel von zwei Ecars und reagierten schnell. Einer trieb sein Tier an und hielt einen Speer stoßbereit vor sich, der andere blieb stehen und nahm einen Bogen zur Hand. Sid stieß wieder einen Fluch aus, dann warf er seinen verbliebenen Spieß kraftvoll durch die Luft. Er hatte keine Zeit, nachzusehen, ob er getroffen hatte, denn im nächsten Atemzug musste er sich im Sattel nach rechts legen, um der Speerspitze des angreifenden Raiders um Haaresbreite zu entgehen.

Gedankenschnell beschrieb die Klinge seines Reitersäbels eine schnurgerade Linie rückwärts, ein Schrei war die Folge, als die Klingenspitze dem Speerträger in den Rücken fuhr. Sid schwenkte sein Tier herum, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der zweite Wurfspieß den Bogenschützen auch wirklich erwischt und praktisch auf seinem sterbenden Ecar festgenagelt hatte. In einer fließenden Bewegung nahm er seinen Reiterkurzbogen vom Rücken, samt einem Pfeil. Der Speerträger hatte indessen mühsam sein Tier gewendet, das mit fürchterlichen Mustern tätowierte, bärtige Gesicht bleich, aber hasserfüllt. "Du dreckiger…" Die Sehne spannen und den Pfeil auf die Reise schicken war eine geschmeidige Bewegung. Der gefiederte Tod traf den Raider direkt in seinen lästerhaften Mund und schloss diesen für immer, die Wucht des Aufpralls ließ den Mann - der keine Steigbügel hatte - nach hinten aus dem Sattel stürzen.

Red Sid sah sich um, nachdem nur noch das Heulen des Windes und das Geräusch der knisternden, unersättlichen Flammen zu hören war. Keine Schreie, kein Wimmern. Keine Bewegung mehr aus den zerstörten Hütten. Der "Gestrafte" holte tief Luft und verdrängte die Enttäuschung. Einige Leichen lagen zwischen den Hütten, zwei davon Frauen, die die Raider offensichtlich geschändet hatten, ehe sie sie umbrachten. Sid schüttelte den Kopf. Er war zu spät gekommen. Wie oft schon hatte er derlei gesehen? Und wie oft würde er es noch sehen müssen? Red Sid stieg aus dem Sattel und ging zu dem Raider, der samt seinem Ecar gestorben war. "Na, los, friss' dich satt", sagte er zu seinem eigenen Tier und gab seinem Ecar einen Tritt, den dieser mit einem drohenden Klacken seiner grausigen Zahnreihen beantwortete. Aber dann schien das Tier zu begreifen und begann - auf äußerst unappetitliche Weise, indem es die beiden toten Körper erst mit seinen Klauenhufen zerfetzte - das Festmahl. Red Sid ging - gegen jede Erfahrung - dennoch zu jeder der Hütten, die inzwischen - schon alleine, weil sie aus trockenem, oft über viele Meilen hergeschleppten Holz bestanden - in hellen Flammen standen. Niemand lebte hier noch. Resignierend blickte er über die Ödlande, wo gerade die Sonne am Untergehen war, was zur Folge hatte, dass der westliche Horizont in gewaltigen, roten Flammen zu stehen schien. Der "Gestrafte" hatte dafür keinen Blick mehr, zu sehr erinnerte ihn diese Farbe an die leblosen Leiber der Opfer, die an diesem Tag ihr Leben verloren hatten. Bauern, einfache Dorfbewohner, zwar nicht gänzlich wehrlos, aber vermutlich überrascht durch den Angriff. Sid verzog das Gesicht, als er daran dachte, wie die Kirche es aufnehmen würde, dass ihr schon wieder Abgaben durch die Lappen gingen. Ja, die Pfaffen werden wieder meckern, dachte Sid kalt. Sie werden nicht fragen, was hier geschah, wie die Menschen hier gestorben sind. Ob ich sie beerdigt habe. Nichts davon wird die Kirche interessieren, überlegte er voller Bitterkeit.

Gerade wollte er sich auf den Rückweg zu seinem noch immer kauenden und schmatzenden Ecar machen, da hörte er etwas. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen. War das der Wind gewesen? In dem Moment jedoch hörte er es wieder - deutlicher, lauter. Kindergeschrei. Das eines Babys. Ohne lange zu überlegen, rannte er darauf zu, sicherheitshalber den Säbel gezückt. Als er zu einer kleinen Scheune kam, die gerade niederbrannte, sah er das winzige Bündel, das direkt neben der Wand lag. Eingehüllt in ein schmutziges, aber mit Blumenmuster verziertes Tuch, lag da ein Kleinkind - und schrie um sein Leben! Langsam ließ sich der Jäger vor dem winzigen Stück Leben auf die Knie sinken und nahm es vorsichtig auf. Das Kleine schrie sofort lauter, schriller. Als Sid den Grund dafür erkannte, wünschte er sich spontan, die Raider noch einmal töten zu können. Langsamer. Eine Platzwunde am Kopf des höchstens ein Monat alten Kindes sprach nämlich eine ebenso deutliche Sprache wie es der Blutfleck an der hölzernen Wand der Scheune tat. Einer der Raider musste das Kleine mit dem Kopf gegen die Wand geschleudert haben! Sid sträubten sich die Nackenhaare. Oder besser - sie hätten es getan, hätte er noch Nackenhaare besessen. Natürlich war ihm bewusst, dass Raider auch Kinder ermordeten - aber er wollte und konnte sich nicht an solche Barbarei gewöhnen. Wie abartig konnten diese Bestien in Menschengestalt sein?

Red Sid enthüllte das Baby, stellte fest, dass auch das linke Ärmchen des Mädchens - denn ein solches war es - gebrochen war. Das kleine, wehrlose Geschöpf schrie vor Qual, als er - vorsichtig, aber entschlossen - den Arm schiente, dann die Kopfwunde mit ein wenige Wasser säuberte und, nachdem er die Verletzung mit einer Kräutersalbe gegen Giftblut versorgt hatte, mit sauberem Stoff verband. So klein und so schutzlos, dachte er, und in seinem Inneren wurde etwas angerührt, das er lange schon begraben und vergessen hatte. "Keine Angst, Kleines...ich bring' dich in Sicherheit", murmelte er, ein wenig erstaunt über seine eigene Gefühlsduselei. Bis er bemerkte, dass das Mädchen aufgehört hatte, zu schreien. Es blickte ihm jetzt mit großen, blauen Augen ins Gesicht, versuchte wohl zu erahnen, ob es dem fürchterlich aussehenden Mann trauen konnte. Sid sperrte den Mund auf, als das Kleine plötzlich die Mundwinkel nach oben zog. Es lächelte! Der "Gestrafte" hatte schon viel gesehen, doch das konnte er kaum glauben. "Bist ein besonders mutiges, kleines Ding", murmelte er mit Erstaunen. Bis er das Mädchen wieder bewegte und es an seine Schmerzen erinnert wurde - und losschrie. "Ja, ist ja gut, Schreihals", meinte Red Sid seufzend. Die Kleine brüllt noch das halbe Ödland zusammen, dachte er mürrisch, musste dann aber selbst grinsen. Er wartete noch einige Minuten, bis der fressende Ecar mit einigen höchst widerlichen Rülpsern deutlich gemacht hatte, dass er satt war, so dass Sid gefahrlos aufsteigen konnte. Fressende Ecars zu stören war eine der Sieben Todsünden der Ödlande - es sei denn, man fütterte sie direkt. Man lernte es schnell, wenn es einem keiner sagte. Denn die Biester waren nicht wählerisch, was ihr Mittagessen anging, auch wenn sie sich bei einem unklugen Besitzer meist auf eine Hand oder einen Arm beschränkten.

Die Dämmerung setzte schon ein, als Sid wieder in Richtung Osten ritt, das noch immer schreiende Baby vorsichtig im Arm haltend. Beim Zurückschauen über seine Schulter sah er bereits die ersten Dog-Rats, die sich - noch zurückhaltend und misstrauisch - aber sicher bald ohne jede Scheu den Toten im Dorf näherte. Einen Augenblick sah Sid dem weinenden Mädchen in die Augen. "Tut mir leid…ich hätte deine Leute gerne begraben, aber dann würde ich dich kaum lebend durchbringen. Darfst es mir also nicht übelnehmen, Kleines." Schon bald würden auch größere Bestien der Wastelands aus dem Dunkel der Nacht hervortreten und die kleineren Aasfresser verscheuchen. Aber bis dahin war Sid schon weit weg.

Wer auch immer dem kleinen Städtchen Last Hope seinen Namen gegeben hatte, Einfallsreichtum war nicht seine Stärke gewesen. Ein gutes halbes Dutzend Orte überall in den Ödlanden trugen genau denselben Namen. Ebenso wie The Hole, The Pitt und ähnliche, vor Vorfreude und Zuversicht schimmernde Bezeichnungen. Immerhin bestand Last Hope aus der Festung des Lords, der Abtei sowie dem Ordenshaus, darum herum schmiegten sich - hinter einem doppelt mannshohen Wall - nicht wenige Häuser, wozu auch eine Gaststätte mit angebautem Bordell gehörte. Letztere beiden pflegte Red Sid nicht gerade selten aufzusuchen, wenn er seinen Sold für den letzten Auftrag erhalten hatte. Der erfreuliche Gedanke lenkte ihn von der Tatsache ab, dass das Baby ihm letzte Nacht auf unerfreuliche Weise klar gemacht hatte, dass es…einem menschlichen Bedürfnis nachkommen wollte. Dass die Pisse, die er ohne Wasser nur schwerlich von seiner Kleidung bekam, inzwischen getrocknet war, hob seine Laune nicht übermäßig. Auch, wenn das Kleinkind inzwischen seelenruhig auf seinem Arm schlummerte, den Bewegungen des Ecars unter ihm und den Verletzungen zum Trotz. "Zähes kleines Ding", murmelte Sid, schüttelte leicht den Kopf.

Der "Gestrafte" ritt bei Morgendämmerung in die Stadt ein, vor der gerade einige Handelskarawanen lagerten. Last Hope besaß das Marktrecht seit fast zwanzig Jahren, welches die Kirche des Feuers in Übereinstimmung mit den Mächtigen der jeweiligen Territorien erteilte. Einige ortsansässige Händler waren dadurch reich geworden, denn durch das Handelsrecht besuchten die Handelszüge der großen Städte im Osten auf ihrem Weg nach Westen nun auch Last Hope und boten Waren an, die es zuvor nur über Umwege und damit weit überteuert gegeben hatte. Die örtliche Wache, gebildet aus Bürgern, war für die Tore zuständig, während die Truppe des Lords nur die eigenen Tore der Festung und die Ordenskrieger nur diejenige des eigens ummauerten Kirchenbereichs schützten. Der "Gestrafte" erkannte einen der beiden Bürgersoldaten, die lustlos vor dem Tor herumlungerten und bestenfalls Augen für einige der hübscheren Sklavinnen hatten, die eine der Karawanen mit sich nach Westen führte. Als sie Sid erkannten, versteinerten ihre Mienen. Der "Gestrafte" unterdrückte ein höhnisches Grinsen. Arschlöcher, dachte er, als der, den er kannte - ein untersetzter, unwirsch aussehender Kerl namens Frank, vor ihn trat. "Halt...was willst du?", fragte der Mann dümmlich. Sid musste sich nun NOCH mehr Mühe geben, nicht zu lachen. "Ich will reich sein, immer ein paar schöne Frauen..., wenn du so fragst", meinte er möglichst unschuldig. Der Bürgersoldat lief rot an. "Schwachsinn...was du willst, habe ich gefragt?" Da beugte sich der "Gestrafte" im Sattel herunter und blickte Frank unheilverkündend in die Augen. "Dass mein Ecar heute noch satt wird…er ist schon richtig sauer, Leute", meinte er leise, mit einem vielsagenden Blick zu dem Tier, auf dem er saß. Die beiden Wachen starrten ihn erschrocken an. Denn DAS war nicht lustig! Hungrige Ecars waren nicht nur gefährlich - sie waren mörderisch. "Du hast es nicht gefüttert...?", stammelte Frank, wich zurück, sein Nebenmann ebenso. Red Sid hob die Schultern. "Wenn ihr mich noch eine Minute aufhalten wollt, lasse ich ihn bei euch. Aber dass hinterher keiner jammert, klar?" So gut wie kein normaler Bürger hatte den Hauch einer Ahnung von den Ecar Equis. Denn diese Tiere waren teuer, schon wegen des hohen Fleischbedarfs. Keine Miliz hielt sich berittene Verbände. Dazu kam, dass sie sich für das Ziehen von Kutschen und ähnlichem, auch den Karawanenwagen, nicht eigneten. Aus irgendeinem Grund wurden Ecars, vor einen Karren gespannt, sehr schnell bösartig. Sid hatte dazu die Theorie, dass es an der Art lag, wie die Tiere festgezurrt wurden - es behagte ihnen nicht, quasi gefangen zu sein. Sid ritt, ohne angehalten worden zu sein, durch das Tor der Ordensfestung. Wie die des Fürsten war sie von um die drei Meter hohen Wällen umgeben, darauf gab es Wehrgänge und insgesamt vier Türme, an jedem Eck der Befestigung einen davon. Im Gegensatz zu der eher funktionell und schmucklos angelegten Festung des Fürsten waren die Gebäude der Kirche im Inneren der Anlage weinrot gestrichen: Der Ordenskomplex, neben dem Übungsgelände lagen - eine Bogenschieß- und Speerwurfbahn, Übungsringe für Schwert- und waffenlosen Kampf, drei Turnierbahnen für die Ordensreiter, dann die eigentliche Abtei, daneben die Kirche des Feuers, dann das Waffenlager nebst den Ställen sowie das Versorgungshaus, in dem Vorräte und Bekleidung lagerten.

Die Ordenstruppen waren der gepanzerte Arm der Kirche des Feuers und vor allem das Durchsetzungsorgan der Inquisition der Flamme. Von klein auf wurden hier Jungen wie Mädchen zu späteren Rittern der Kirche ausgebildet, den gefährlichsten und am meisten gefürchteten Kriegern der bekannten Ödlande.

Red Sid sah den Orden mit gemischten Gefühlen an. Als Angehöriger einer im Grunde verachteten, aber notwendigerweise benötigten Minderheit hatten ihn schon viele der Kirchenleute, vor allem aber die Köpfe des Ordens, ihre Geringschätzung für seine Person spüren lassen. Mit einigen Veteranen und jenen Ordensführern, die fähig waren, über ihren bescheuerten Standesdünkel hinweg den Mann in ihm zu sehen, der unter seinem Äußeren genug gelitten hatte, kam er indes gut klar. Ordens-Sergeant Anderson gehört NICHT zu den letzteren, hatte indes auch keine besondere Abneigung für den "Gestraften" parat. Was sich aber rasch änderte, als Red Sid mit dem Baby unter dem Arm eintrat. Schon die beiden Ordens-Hauptmänner am Tor hatten ihn, vor allem aber sein krähendes Bündel im Arm, entgegen ihrer sonst sehr gefassten Art angeglotzt, als wären ihm Flügel gewachsen oder so etwas. Dann hatten die Idioten gegrinst und höchst dämliche Bemerkungen gemacht. Sid, den einen Arm voll, hatte davon abgesehen, den männlichen Tratschweibern die Visagen zu zertrümmern. Grummelnd hatte er sich auf direkten Weg zu Anderson gemacht, der für das Personalwesen der Ordensburg zuständig war. Denn Sid wusste, dass das Mädchen nur eine Chance hatte, dauerhaft zu überleben. Der Entschluss war ihm nur aus einem Grund leicht gefallen - weil er tatsächlich keinen anderen Weg wusste. Der Orden musste das Kind aufnehmen, so wäre es in Sicherheit, würde versorgt, hätte sogar Privilegien, die anderen Kindern aus ärmlichen oder auch "normalen" Verhältnissen immer vorenthalten bleiben würden. Dazu gehörten auch das Lesen und Schreiben. Und das Töten später einmal, mahnte ihn sein Gewissen. Nur tat es das nicht lange, denn Sid tat es mit einem Achselzucken ab. Töten oder getötet werden, noch bevor es laufen konnte, hatte das Kleine diese bittere und nur mit Glück nicht endgültige Erfahrung machen müssen. Sehr im Gegensatz zu seinen Eltern und Geschwistern.

Sid ging durch den kurzen Säulengang, von dem aus er die Mönche bei der Arbeit auf den Äckern beobachten konnte. Vom nahen Fluss hatten die Kirchenleute kleine Bewässerungskanäle aus Holz gebaut, die sowohl die Nutzpflanzen der Äcker als auch die Zisternen mit ausreichend Trinkwasser versorgte. Da der Fluss irgendwo im Nordwesten in den gigantischen Eispanzern, welche über den Bergen lagen, entsprang, führte er auch dann noch Wasser, wenn andere Flussläufe zu Schlamm getrocknet waren. Mais und eine sehr genügsame Sorte von Getreide wurde hier angebaut, auch einige Sorten von Beerensträuchern hatte man angepflanzt. Milch und Fleisch, letzteres auch für die Ecars wichtig, lieferten die Rinderherden, die abwechselnd auf speziell dafür angelegten Weiden grasten, die jedoch ebenfalls bewässert werden mussten. Die natürlich ohne Lohn arbeitenden Mönche der Abteien und die Steuer, welche die Kirche überall einzog, unterhielt die Truppen des Ordens, welche wiederum die Eiserne Faust und das Schild der Kirche darstellte. Als Garant für Sicherheit und Einhaltung des Glaubens stand nur die Heilige Inquisition der Flamme und über dieser der Bischofsrat im fernen Eternal Flame den Streitkräften des Ordens vor. Einmal war Red Sid in jener weit und breit bekannten Stadt gewesen, die - wie er durch die Mönche erfuhr - einst New York geheißen hatte, zur Zeit der Alten. Noch immer sah man zwar bröckelnde, aber nichtsdestoweniger machtvolle Gemäuer, aus denen noch heute die Erbauer immer neuer Wohnviertel ihren Baustoff herausschlugen. Man nannte Eternal Flame auch die Rote Stadt, böse Zunge - vor allem die der Stämme - nannten sie die Blutige Stadt. Red Sid musste noch heute an den zur Schau gestellten Reichtum der Kirche dort denken, an die drei Kathedralen, vor allem aber die gigantische Basilika, prunkvoll errichtet und innen mit rötlichem Metall ausgekleidet. Aufwendige Szenen erzählten vom Sieg der Kirche über irgendwelche in der Zeit verschwundene Völker der Öde, die sich dem Glauben an das Licht und die Wärme des Feuers, das die verkommenen Alten verzehrte, verweigert hatten.

Dazu kamen die Heldentaten von irgendwelchen Heiligen, von Rittern, Paladinen und großen Kirchenleuten. Neben der Kirche versuchte auch der Rat der Fürsten, nicht an offensichtlichem Reichtum zurückzubleiben, es wurden Paläste errichtet, die - um die Kirche nicht herauszufordern - ebenfalls in dunklem Rot gehalten waren. Große, auf dem Zentralen Platz sogar zehn Meter durchmessende Kohlen- und Ölbecken wurden des Nachts entzündet und erhellten symbolisch das Dunkel, bis der nächste Tag anbrach. Noch heute musste Sid an die WAHRE Dunkelheit dieser Stadt denken, als er an die Armenviertel - übervölkerte, oft abbruchreife, mehrstöckige Bauten voller Hässlichkeit dachte, an die Sklavenpferche und den riesigen Sklavenmarkt, auf dem Familien auseinandergerissen, Frauen einem Schicksal, schlimmer als der Tod übereignet, Männer zu einem kurzen, aber qualvollen Leben in den Minen verdammt wurden. Er dachte an die Arenen, gleich mehrere davon gab es, in jedem der drei Kreise der Stadt eine. Der erste Kreis beherbergte natürlich die Reichen und Mächtigen sowie deren Truppen: Das Erste Konzil, oberste Instanz der Kirche des Feuers, nahe dabei der Palast des Fürstenrates der Fünf Städte. Händler, Adlige, Kirchenleute und Militärs, die es sich leisten konnten. Im zweiten Kreis lebten die normaleren Bürger, die für gewöhnlich über die Runden kamen oder sogar ein wenig Besitz ihr Eigen nennen konnten. Im dritten und bei weitem größten Kreis lebten die Armen, die Sklaven und jene Minderheiten, welche die Kirche noch als "Abkömmlinge von Menschen" anerkannte. Die Spiele in den Arenen umfassten so gut wie jede Abartigkeit der düsteren Seiten menschlicher Fantasie: Von Tierkämpfen mit den furchtbarsten Ungeheuern der Ödlande bis Kämpfen auf Leben und Tod oder auch Hinrichtungen auf alle erdenklichen Arten, es gab kaum eine Grausamkeit, die in diesen scheinbar wieder aus der Antike zum Leben erwachten Stätten des Todes und des Leids nicht gab. Hatte man Geld, war in dieser Stadt hinter vorgehaltener Hand alles zu haben - hatte man kein Geld, fand man sich unter Umständen sehr schnell auf einer dieser geheimen Wunschlisten wieder. Offiziell gab es das natürlich nicht, aber offiziell herrschte ja auch Frieden im Osten - dabei war der Fürstenrat ein Papiertiger ohne wahre Entscheidungsgewalt. Lediglich, wenn die Interessen insgesamt oder von einigen Fürsten zugleich bedroht wurden, konnte es hin und wieder zu einer Einigung kommen.

"Red...was zum Henker und bei allen Bestien der Finsternis ist DAS?" Sid wurde jäh aus seinen Erinnerungen gerissen, als der Mann vor ihm - Personalmeister Anderson - auf das Baby auf seinem Arm wies, als würden dem "Gestraften" dort Schlangen herauswachsen. "Sieht aus wie ein Baby", meinte Red Sid trocken und machte mit seinem Blick klar, dass er Anderson für diese Frage in die Kategorie "schwachsinnig" oder - im Bestfall - "kurzsichtig" einordnen würde. "Das...das sehe ich auch...aber was macht es da?" "Hm, nach was sieht es denn aus?", fragte Sid mit einem Heben einer Augenbraue. Anderson wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte, bis er wütend auf den Tisch vor ihm schlug, auf dem einige Dokumente lagen. Der karg nur mit Stuhl, Tisch und einem Schrank eingerichtete Raum, wo lediglich das Zeichen des Ordens - eine stilisierte Flamme hinter einem Schwert - als Stickerei an der Wand zu sehen war, hallte von dem Geräusch wider. "Ich meinte, was schleppst du hier ein Balg herein, Red", schimpfte er. Sid hob lässig die Schultern. "Nachdem ich die vier Raider getötet hatte, die die Eltern, Geschwister und auch sonst jeden in dem Weiler umgebracht haben, aus dem das Kleine hier stammt…fand ich es im Dreck. Dort hatte eines dieser Mistschweine es liegenlassen, nachdem er versucht hatte, es durch einen Wurf an die Holzwand einer Scheune umzubringen. Es hat eine Platzwunde am Kopf und sein linkes Ärmchen ist gebrochen. Es hat niemanden mehr." Andersons Miene verriet plötzlich Mitleid, aber auch Bedenken. "Ist es ein Junge...?" "Ein Mädchen." Der Personalmeister holte tief Luft. "Wir haben keinen Platz mehr, zu viele weibliche Babys wurden in diesem Jahr schon abgegeben. Es geht nicht…" "Was, denkst du, soll ich dann mit ihr tun?", fragte Sid kühl. Anderson hob die Schultern. "Keine Ahnung..." "Gut, dann setze ich es in der Öde aus, wenn ich morgen wieder losreite. Keine Sorge, ich bin sicher, dein Gewissen bleibt rein, immerhin hast du ja nichts damit zu tun", meinte Sid leichthin, erntete damit aber einen noch weit entsetzteren Blick. "WAS? Das...das kannst du nicht machen…" "Wieso nicht? Du willst das Kleine nicht, und sicher wollte das Heilige Feuer, dass es nun stirbt, nachdem es diesen Mordanschlag überlebt hat. Glück aufgebraucht oder so. Also, ich gehe dann mal..." "WARTE", rief Anderson einlenkend - während Sid innerlich aufatmete. Nie wäre er imstande gewesen, einem Baby auch nur im Geringsten zu schaden. Zu seinem Glück hielt Anderson ihn für einen superharten, bisweilen grausamen Krieger, dem es vollkommen egal war, wen er tötete. Hauptsache, er wurde dafür bezahlt. Diesen Ruf hatte Sid in den letzten Jahren gepflegt, durfte sich darüber also nicht wundern.

"Was ist noch?", fragte er ungeduldig. "Ich will saufen und dann noch…naja, das wollt ihr armen Ordensleute sicher nicht hören." "Ich...ich denke, ich kann das regeln…, dass die Kleine doch hierbleiben kann. Der Ordensmeister ist mir noch einen…Gefallen schuldig. Aber dafür…musst du sie gleich hierlassen", sagte der Ordensmann vorsichtig. Red Sid tat, als wäre er genervt, aber in Wahrheit stieg Anderson in seiner Gunst damit um einige Stufen. Im Gegensatz zu vielen gefühlskalten Kriegern hatte Anderson offenbar einen Teil seiner Menschlichkeit bewahrt. "Gut, ist mir auch lieber, als den Schreihals noch die ganze Nacht mit mir rumzuschleppen", stieß der "Gestrafte" rau hervor und reichte das unruhig werdende Baby dem Ordensmann, der es vorsichtig entgegennahm. Kaum hielt er es in den Armen, wurde das Mädchen ganz still und sah ihn mit großen, staunenden Augen an. Anderson musste entzückt grinsen, während Sid seine Heiterkeit nur knapp unterdrücken konnte. "Sie mag Sie...naja, dann…bin ich mal auf dem Weg, ich muss noch den Sold abholen", meinte der Jäger. Anderson nickte, ohne die letzten Worte richtig mitbekommen zu haben. Aus irgendeinem Grund fühlte Sid so etwas wie Verlust, als er davonging. Schnell schalt er sich einen Dummkopf. Was wolltest gerade DU mit einem Kleinkind? Die Stimme der Vernunft. Und er hörte auf sie.

Es gibt viele Hinweise, dass die Welt in früheren Zeiten eine andere war. Viele Pflanzen und Tiere, von letzteren lassen sich hier und da ganze Gruppen von Skeletten im trockenen Erdboden der Ödlande finden, sind uns gänzlich unbekannt. Auch die Bäume, die Sträucher und der Grasbewuchs, welcher auf vielen, verschiedenen Malereien und erstaunlich detaillierten Bildern der Alten zu finden sind, hatten eine durchweg grüne Färbung, wie sie heute nur an wenigen Stellen der Ödlande oder in sehr gut bewässerten Gärten auftritt. Es ist unvorstellbar, wie es je genug Regen für eine solche Vielzahl an Fauna und Flora fallen konnte. Hierzu kommt, dass im Gegensatz zu heute zahlreiche Pflanzenfresser im Tierreich zu finden waren. Bestes und erstaunlichstes Beispiel ist der Ecar Equis, welcher früher unter dem Namen Pferd oder Ross bekannt war, wie die Gelehrten herausfanden. Die Erscheinungsform dieses Tieres war auch eine gänzlich andere - wobei es erlaubt sein muss, sie als weit weniger bedrohlich, vielmehr fast gar harmlos anzusehen. Ob dies den Fakten nahekommt, werden wir wohl nie erfahren.

Ich verwahre mich an dieser Stelle ausdrücklich gegen die ketzerische Aussage, dass das Ewige Feuer, welches die sündhaften Alten verzehrte, der Auslöser für die Entstehung der Ödlande gewesen sein soll. Dies sind Lügen von unseren Feinden, welche der Kirche schaden wollen und die mit den Verdammten - diesen Kreaturen der Dunkelheit - gemeinsam gegen das Licht und das Feuer und somit gegen alles, was gut und recht ist, anstürmen.

Nein, es waren jene finsteren Mächte selbst, die, noch ausgestattet mit Kräften der Alten, ihren Herren, jene Öde aus dem einst fruchtbaren und von der Ewigen Flamme gesegneten Lande formten.

Es regnet selten in dieser Welt, doch wenn, dann ist die Freude unter allen rechtschaffenen, der Kirche treuen Menschen groß. So viel gutes Wasser, das eingeschlossen ist in den Eismassen der westlichen Berge, den Eispanzern weit im Norden. Hätten wir nur einen kleinen Teil dieses Wassers, wären die gewaltigen Zisternen der Städte und Kleinstädte unnötig, würden keine Krankheiten wegen verschmutztem Wasser die Menschen quälen, darüber hinaus könnten weit mehr Äcker und Wiesen für die lebenswichtigen Viehbestände geschaffen werden. Der Gedanke, was die Alten angerichtet haben, erfüllt mich jedes Mal mit Zorn. (Gedanken eines Gelehrten, Kirche des Feuers, Eternal Flame, 1067 nach dem Großen Feuer)

Zehn Jahre später

Maddy landete aufschreiend im Dreck, sprang aber sofort wieder auf. Das Mädchen attackierte den Jungen, der weit größer und breiter war als sie mit einer Wildheit, die dieser nicht erwartet hatte. Einige kombinierte Arten des waffenlosen Nahkampfes waren nur ein Gebiet, auf dem das Mädchen so gut war wie nur wenige in ihrem Alter - was auch die Jungen mit einbezog. Dabei konnte man nicht behaupten, dass Maddy - was die Kurzform war für den inoffiziellen Kampfnamen, den sie schon vor zwei Jahren bekommen hatte, nämlich Mad Cat - besonders groß oder für ihr Geschlecht übermäßig kräftig war. Nein, es kam aus ihrem Inneren, immer weiter und weiter zu kämpfen. Auch das Einstecken von Schmerzen beherrschte die Ordensrekrutin, als die sie ab dem zehnten Lebensjahr galt, ausgezeichnet. Was auch kein Wunder war, denn auch wenn tödliche oder auch dauerhaft schädigende Gewalt von den Ordenslehrern und Aufsehern nicht geduldet wurde, ließ man bei Rangkämpfen innerhalb der Gruppen von Ordensanwärtern - und Anwärterinnen - anfangs freie Hand. So bildete sich automatisch eine Hierarchie, aus der man die Anführer der Gruppen wählen konnte.

Natürlich blieben die Geschlechter - außer für Übungskämpfe - streng getrennt. Ein solcher Trainingskampf war es, bei dem Maddy, voller Staub und mit dröhnendem Kopf, in einem der Übungsringe eben wieder auf die Füße kam. Gerade hatte sie ein Tritt gegen die Seite niedergeworfen, doch rechnete der scheinbar überlegene Junge nicht mit der Entschlossenheit seiner Gegnerin. Mit einem wütenden Aufschrei griff sie wieder an, tauchte unter einem wuchtigen Schlag weg, hämmerte das rechte Schienbein gegen die Beine des körperlich überlegenen Gegners. Der ging zu Boden, fing sich aber mit den Armen ab. Maddy sprang ihm jedoch mit einem Ellenbogen sofort direkt gegen den Kopf, woraufhin Blut aus der gebrochenen Nase schoss. Der Junge indes war ebenfalls hart im Nehmen: Sein Fuß schnellte hoch, traf die wieder aufstehende Kontrahentin am Bauch, was Maddy sofort aufkeuchend rückwärts taumeln ließ. Trotz des Blutes aus seiner Nase kam der Junge wieder hoch.

Nach Luft ringend war das Mädchen noch nicht wieder kampfbereit, als der erste Handballenschlag sie auf der Brust traf. Maddy brachte die Arme hoch, während sie die Zähne zusammenbiss, um dem Schmerz zu begegnen. Sie blockte zwei, drei Hiebe, hieb ihrem Gegner einen Lowkick...gegen das hochgebrachte Knie, als eine herrische Stimme erklang. "HALT!" Mitten in der Bewegung stoppten beide Kämpfende und starrten einander an. Der Aufseher, ein finsterer, vollbärtiger Riese, der den Namen Ivan trug, seines Zeichens Ordens-Ausbilder, trat in den Übungsring. Nie sah man dem Mann mit der grollenden Stimme irgendwelche Emotionen an - egal, ob er mit Rekruten, mit Rittern oder mit dem Ordensmeister Lyons sprach. "Giant...Maddy...!" Er war auch einer der wenigen, der die innerhalb der Gruppen gängigen Kampfnamen übernommen hatte anstatt jener, die der Personalverwalter allen Waisen zuteilte. Maddy stand in den Ordensbüchern als Andrea, Giant - der so wegen seiner Größe genannt wurde - war als Marcus verzeichnet.

"Ein Kampf, der mit der nötigen Härte, dem Willen und der Entschlossenheit geführt wurde, die ich erwarte", grollte Ivan gleichmütig. "Als Frau wirst du des Öfteren kräftigeren Feinden begegnen, Mädchen. Es ist keine Schande, wenn man als weibliche Kriegerin alle notwendigen Tricks anwendet. Dazu gehört auch das Vortäuschen von Schwäche, von Angst..., wenn du älter bist, auch noch andere Tricks." Deshalb war Maddy eine der wenigen, die Ivan nicht unsympathisch fand - er hielt nicht viel von Standesdünkel, von großer Ehre und Ähnlichem in einem Kampf auf Leben und Tod. Für ihn als Veteranen musste man gewinnen - nur das zählte, und nur das brachte er den Rekruten, Mädchen wie Jungen bei.

Dass er damit schon einige Male ernsthafte Rügen seitens der Ordensführung hatte einstecken müssen, war ihm - unübersehbar - ziemlich egal. "Giant, du hast trotz deiner Nase weitergekämpft, hast nicht gezögert. Glaub' mir, auch Frauen können gefährlich sein, das trifft nicht nur auf Maddy zu. Es gibt bei den Tribes keine ausgebildeten Kriegerinnen, aber wenn man sie überrascht, so dass nur sie zwischen uns und ihren Kindern stehen, dann verwandeln sich auch diese Frauen in zu allem, wirklich allem entschlossene Gegnerinnen. Sie sind bereit, zu sterben, wenn es sein muss - nehmen dich aber mit in den Tod. Unterschätze daher nie einen kleineren Gegner oder eine Frau. Mach' es so, wie gerade, dann wirst du überleben." Plötzlich nickte der Riese. "Säubern, beim Heiler versorgen lassen. In zwei Stunden will ich euch beim Schwertkampf sehen." Damit ging er davon. Maddy wartete, bis er sich anderen Rekruten zuwandte. Erst dann besah sie sich Giants Nase. "Wollte ich nicht, Gi'...tut mir leid", meinte sie, konnte angesichts der etwas schiefen Nase aber nicht anders als zu Grinsen. Der Junge fand das logischerweise nicht sehr komisch. "Das war nur ein Übungskampf, Maddy. Wieso musst du immer mit dem Kopf durch die Wand?" Das Mädchen wirkte nun zerknirscht. "Ich sagte doch, dass es mir leidtut. Es ist nur..., wenn ich kämpfe, geht es einfach mit mir durch hin und wieder." Giant sah sie seltsam an. "Du magst es, zu kämpfen", stellte er sachlich fest, woraufhin das schwarzhaarige Mädchen ihn erschrocken anstarrte. "Ich bin keine Berserkerin...du darfst so etwas nicht sagen, Gi'. Nur die Berserker wüten, ohne nachzudenken, sie werden von der Finsternis geleitet…von allem was schlecht ist. Nein, es ist...ich fühle mich einfach so lebendig, wenn ich kämpfe. Es...ist schwer zu erklären. Denkst du, ich habe...etwas Dunkles in mir?" Da musste der Junge, obgleich er es sofort bereute, da seine Nase schmerzte, lachen. "Wohl kaum. Die mutige, wilde Maddy...hat Angst, sie könnte eine Ausgeburt der Alten, der Dunkelheit, sein. Vor nichts empfindest du Furcht. Nur davor, was ich sage." "Blödmann", schimpfte das Mädchen in einem blitzartigen Stimmungsumschwung. "Du weißt, wie sehr Tom Kent mich hasst. Er hat schon Gerüchte über mich verbreitet, allerlei Zeug, das aber gefährlich wäre, würde es die Inquisition mitbekommen", sagte sie leise, während sie auf dem Weg zum Heiler waren. Giant rümpfte, wenn auch vorsichtig, die Nase. "Tom Kent ist ein Drecksack. Zwei Jahre älter als du, aber seit du ihm den Arsch versohlt hast, tut er, als hätte er eine persönliche Vendetta mit dir zu klären. Dieser verzogene Adelsspross kann nur eine dicke Lippe riskieren, weil er dem Clan der Autumns entstammt - der älteste Sohn des hiesigen Fürsten ist. Blöde Edelleute, mit ihrem Dünkel vergiften sie alles", stieß Giant immer wütender heraus. Da sie einen solchen Gefühlsausbruch von ihm nicht gewohnt war, glotzte Maddy ihn staunend an, aber dann lächelte sie. "Da hast du Recht. Auch, wenn ich zugebe, dass ich nicht bereue, ihm eine...oh, verzeih’…blutige Nase verpasst zu haben. Bei dir bereue ich es", fügte sie rasch hinzu, als sie Giants prüfenden Blick sah. Der Junge wusste, dass dies ein erstaunliches Geständnis bei einem Wildfang wie Maddy war, die sonst mit Vorliebe allem und jedem widersprach und sich nie scheute, nur ihre eigene Meinung zählen zu lassen.

Giant besaß dagegen für seine elf Jahr bereits eine erstaunliche Selbstkontrolle und Umsicht. Zwar rührte dies auch daher, dass er seit drei Jahren unumstrittener Anführer seiner Jungengruppe war - im Grunde wussten die Ordenslehrer jetzt schon, dass er eine geborene Führungskraft sein würde, Ritter oder gar Paladin.

Für Maddy galt das nicht. Dabei konnte niemand abstreiten, dass das aufbrausende und kampfeslustige Mädchen zweifelsohne schon jetzt keinen gleichwertigen Gegner in ihrer Gruppe mehr besaß. Nicht einmal, was die meisten Jungengruppen anging, hätte man noch viele gefunden, die es an Wildheit, aber auch an Finesse im Nahkampf mit ihr aufnehmen konnten. Dasselbe galt für den Kampf mit Dolch und Schwert, den Maddy oft wie eine Besessene trainierte. Viele schüttelten den Kopf über die, wie sie sagten, kleine Amazone. Nur der Beichtvater der Mädchen wusste um die Wahrheit, die sie ihm einst unwirsch und nach langen Versuchen anvertraut hatte. Irgendwann hatte sie erfahren, wer sie war. Dass sie nur durch Glück als einjähriges Mädchen überlebt hatte, dass Raider ihre Familie abgeschlachtet hatten. Es hatte in dem zuvor fast schon stillen Mädchen alles verändert. Hier, als Kriegerin des Ordens, war sie fähig, etwas zu verändern, hatte sie dem Beichtvater anvertraut. Sie würde Ritterin werden, die die Ketzer und alles mordgierige Pack der Ödlande, samt den "Verdammten", hinwegfegen, sie austilgen würde. Ihre Ausbilder merkten schnell die Veränderung, die ihnen zunächst aber sehr willkommen war. Das Mädchen, das ihnen vorher beinahe Sorgen gemacht hatte, veränderte sich über wenige Wochen in einen Menschen - obgleich noch ein Kind - der mit unerschütterlicher Entschlossenheit an ein Ziel glaubte. Das Unrecht, die Barbarei zu bekämpfen, im Namen der Kirche des Feuers aus dieser Welt einen Ort zu schaffen, der es wert war, in ihm zu leben.

Roter Speer lugte vorsichtig über den Rand des Felsenkamms. Seine dunklen Augen verrieten eine gewisse Nervosität, die für den knapp elf Jahre alten Jungen auch nicht weiter verwunderlich war. Denn der junge Tribal, der - alleine und ohne Schutz des Stammes - seine Beute verfolgte, war gerade dabei, einen Teil seiner Initiation zu erfüllen. Es war eine Prüfung, ob er es schaffen konnte, ob er stark genug war für ein Leben hier draußen. Das Werden zu einem Jungkrieger erfolgte schon früh bei den Stämmen, da die Kindersterblichkeit hoch war. Nur die Härtesten - und leider oft genug auch nur jene mit Glück - überlebten in den Ödlanden. Hunger, Krankheiten und Kriege gegen andere Tribes um Futterstellen für die Rinderherden waren nicht selten, auch wenn totale Kriege mit Zerstörungen ganzer Stämme und Zeltdörfer eher selten waren. Dafür sorgten die Schamanen, die - auch im grausamsten Kampf - immer darauf achteten, dass unnötige Brutalitäten wie das Ermorden von Kindern oder gar Vergewaltigungen nicht vorkamen.

Roter Speer war einer von drei Brüdern, die aus insgesamt acht Kindern - zwei Mädchen und sechs Jungen - das elfte Lebensjahr erreicht hatten. Wie die meisten Tribals war er von dem Glutball des Tages braungebrannt, trug das schwarze Haar lang. Sein Körper wies die eine oder andere Narbe einer Begegnung mit den Gefahren der Ödlande auf, seien es Tiere oder auch die Spuren von härteren Auseinandersetzungen mit anderen Jungen. Er war kräftig gebaut, jedoch besaß er auch - wie es in den Ödlanden unabdingbar war - eine gute Schnelligkeit und Wendigkeit, daher war er wie die meisten Tribal-Krieger kein Muskelberg, sondern eine Mischung aus Kraft und Beweglichkeit. Er war der Jüngste der drei, was bei den Stämmen nicht gerade ein Vorteil war. Schon mit wenigen Jahren hatte er lernen müssen, sich alleine durchzusetzen gegen die Gleichaltrigen. Dies wurde von den Eltern geduldet, da man der Ansicht war, dass nur die Stärksten, die ihren Mann stehen konnten, später überleben würden. Schmerzen zu ertragen, Trauer über den Tod von Geschwistern oder älteren Familienangehörigen, die freiwillig den Marsch in die Öde antraten, um den Jüngeren nicht Nahrung und Platz in den Zelten wegzunehmen, all das gehörte zu der bisweilen erbarmungslosen Lebensweise der Stämme.

Wieder beobachtete der junge Tribal das Tier, dem er nun schon seit Stunden folgte. Einen Sandbären - ein Männchen, ein alter Einzelgänger, was an den vielen Narben in dem kurzen, erdfarbenen Fell zu sehen war. Sandbären wogen so viel wie zwei ausgewachsene Ecar Equis, hatten Klauen von der Größe von Dolchen und aus ihrem kurzen Maul staken überkreuzte Zahnreihen, die jedes Tier in den Ödlanden binnen Augenblicken würden zerfetzen können. Die roten, tückischen Augen der Bestie, die, wie Roter Speer wusste, weit schneller sein konnte, als es der momentan behäbige Gang vermuten ließ, sah sich zum wiederholten Male misstrauisch um. Das Ungeheuer schnaubte tief und bedrohlich, was dem jungen Tribal einen leichten Schauer über den Rücken jagte. Indes wusste er, dass der Sandbär ihn nicht entdeckt hatte - weil er ihn noch nicht angegriffen hatte. Sandbären waren Killer, sie zögerten niemals, wenn sie einen Feind erkannten.

Demnach war das riesige Tier noch arglos. Roter Speer spannte die Muskeln um jenen seiner beiden Wurfspieße, den er in der Rechten hielt. Keine leichte Waffe, wie sie für Springrehe oder auch noch Ecar Lupus geeignet waren - schwere Wurfspeere, die eine lange, aus Knochen oder, falls man es durch Handel erworben hatte, aus Eisen bestehende Spitze mit Widerhaken besaß. Man benötigte Kraft, um eine solche Waffe ins Ziel zu bringen. Kraft, über die Roter Speer, trotz seines geringen Alters, verfügte.

Das zumindest sagte ihm sein Selbstbewusstsein, das er hier und jetzt dringend nötig hatte. Dennoch sandte er ein Stoßgebet zu dem Herrn allen Lebens, ehe er sich hinter dem kleinen Felskamm erhob, kaum mehr als zwanzig Schritte von der riesigen Bestie entfernt. Sich erheben, den Arm mit dem Speer zurücknehmen und werfen war eins. Der Spieß flog durch die Luft, und in dem Augenblick entdeckte der Sandbär seinen Feind. Die gedankenschnelle Bewegung des Tieres - geradezu erschreckend schnell - sorgte für eine leicht Veränderung in dessen Stand, bevor der Speer einschlug. Er traf nicht den Hals des Tieres, wie beabsichtigt, sondern den wuchtigen Schädel. Keine menschliche Waffe (zumindest nicht in dieser Zeit) hätte durch den massiven Knochen des gewaltigen Ungeheuers dringen können. Und dass der Spieß das rechte Auge traf, aber seitlich im Knochen der Schnauze steckenblieb, war KEIN Vorteil. Denn ein verwundeter Sandbär war wie ein Berserker, den man zusätzlich unter Kampfdrogen gesetzt hatte - er stieß ein Brüllen aus, das selbst einen Großwildjäger der Alten hätte weinend davonlaufen lassen, während Geifer aus dem aufgerissenen Maul spritzte. Ohne zu zögern griff die Bestie an, raste förmlich auf den jungen Tribal zu.

Der fühlte, wie er die Kontrolle über seine Blase verlor, nahm aber dennoch seinen zweiten Speer, niemand musste ihm sagen, dass ihm nur noch ein einziger Atemzug blieb - dann würde er seine Großeltern wiedersehen, die ihn als Kind immer ein wenig verwöhnt hatten, vielleicht, weil sie ihn als Jüngsten am meisten mochten. Roter Speer sandte den zweiten Spieß auf die Reise, direkt dem viele hundert Kilo schweren, heranrasenden Tod auf vier Beinen entgegen. Der Sandbär setzte schon zum letzten Sprung an, als der Spieß eintraf. Roter Speer warf sich zur Seite, denn egal, ob getroffen oder nicht, das Tier würde so oder so nicht mehr anhalten. Wenn ich nicht getroffen habe, wird es schnell gehen, schoss es ihm durch den Kopf, als er sich abrollte und hinter sich das Aufkommen einer großen Masse hörte.

Roter Speer kam wieder auf die Füße und zog sein Knochenschwert - eine höchst unwirksame Waffe gegen ein Raubtier dieser Größe, aber eine Wahl gab es nicht. Der Sandbär war da, wo er eben noch gestanden war, zum Stillstand gekommen, so dass der junge Tribal ihn von der Seite betrachten konnte. Beim Anblick der monströsen Klauen und der Zähne, die seitlich aus dem Maul ragten, musste Roter Speer schlucken. Dann geschah es: Der Sandbär wandte sich um, langsam, so als wolle er die Qual seines Feindes, den er gleich zerfetzen würde, noch in die Länge ziehen. Zumindest kam Roter Speer dieser eigentlich absurde Gedanken, während er darauf wartete, dass das Tier sich auf ihn stürzte. Nur tat es das nicht. Erst, als es ihm seinen gewaltigen Kopf zuwandte, konnte er auch den Grund dafür sehen: Der zweite Spieß steckte direkt in dem weit aufgerissenen Maul - und das ziemlich tief. Roter Speer klappte der Mund auf, als er den Blutstrom bemerkte, der dem Sandbären aus dem Maul lief. Rot wie sein eigenes erinnerte es den Tribal daran, dass dies hier nicht sein Feind war - sondern ein Teil der Ewigen Lande, die die Eisenmenschen so ignorant "Ödlande" nannten. Wie er war auch dieses Tier nur ein Jäger, der überleben wollte. Er näherte sich dem sterbenden Tier nicht - nur ein unvorsichtiger Narr hätte das getan - aber als der Sandbär zusammenbrach, sah Roter Speer ihm in die roten Augen, aus denen die Wildheit und Kampfeslust gewichen waren. "Kehre heim zu unser aller Erschaffer...heim auf die Himmelswiesen", flüsterte der junge Tribal betroffen, als die Augen des riesigen Raubtieres brachen. In dem Moment musste er daran denken, wie jung und dumm er noch vor wenigen Tagen gewesen war, als er - vor seinem Aufbruch - lauthals seinen Ruhm verkündet hatte, einen Sandbären töten zu wollen. Wie hatte er sich vorgestellt, stolz und als großer Jäger anerkannt zurückzukehren, neidvoll beäugt von seinen gleichaltrigen Stammesbrüdern. Hier und jetzt empfand er nichts mehr von diesem nichtigen Stolz. Dieser war gegangen und hatte einer anderen Art von Gefühl Platz geschaffen. Roter Speer spürte, dass sich etwas in ihm verändert hatte. Denn erst jetzt begriff er, dass er stolz sein durfte - stolz, dass ihn der Erschaffer würdig erachtet hatte, ihn über ein solch riesiges, gefährliches Geschöpf siegen zu lassen. Es erfüllte ihn mit tiefer Demut vor den Ewigen Landen, in denen auch er eines Tages die Beute eines anderen werden würde, wie dieser Sandbär. Große Taten und der Stolz des Jägers waren so klein und nichtig gegen diese Erkenntnis, dass er innerlich erschüttert wurde.

Zum Beweis, dass er seine sich selbst gestellte Aufgabe erfüllt hatte, schnitt er Reißzähne und Klauen des Sandbären heraus, außerdem sein Herz, dessen Stärke er seiner Familie zum Geschenk machen würde. Reifer und weiser geworden, allerdings auch mit vollgepisstem Lendenschurz, machte er sich auf den Rückweg.

Maddy murrte leise vor sich hin, als der Ordenslehrer, ein ergrauter alter Kämpe mit dem seltsamen Spitznamen Goethe sie wieder einmal ermahnen musste, dem Unterricht zu folgen. Genauer: Dem Geschichtsunterricht. Maddy hasste Unterricht, bei dem sie Lesen oder Schreiben musste. Zu den Fächern gehörte unter anderem Mathematik, natürlich Religion (was hieß: Die Lehre des Heiligen Feuers) und auch Führungslehre. Grund für letzteres war, dass ein Ritter jederzeit in die Situation kommen konnte, das Kommando über Soldaten oder Söldner übernehmen zu müssen. Maddy konnte jegliche Theorie auf den Tod nicht ausstehen. Aber was sie wirklich HASSTE, waren uralte Geschichten über die Anfänge der Kirche, all das verstaubte Wissen - schlichte Zeitverschwendung in ihren Augen. Dazu kam der eintönige, schmucklose Unterrichtssaal, die harten Holzbänke und das wenige Licht, welches durch die schmalen Fensteröffnungen in den grauen, unbemalten Steinwänden hereinfiel und nur ungenügend mit einigen Öllampen verstärkte wurde. Am liebsten hätte Maddy einfach den Unterricht geschwänzt und hätte stattdessen mit Schwert oder Speer trainiert, aber Goethe wusste längst um ihre diesbezügliche Abneigung und wachte darüber, dass sie auch bloß keine Stunde versäumte. Das Schlimmste daran war, dass Goethe nicht einmal unsympathisch oder gar kalt und distanziert wie mancher der Ausbilder war. Nein, der frühere Ritter, der gleichzeitig die Lehren der Kirche sowie deren Geschichte studiert hatte, empfand Begeisterung, wenn er den Kindern, die einst die Kirche verteidigen würden, die Wichtigkeit ihrer Aufgabe auf diese Weise vor Augen führen konnte.

"Maddy...nenne uns das Gründungsjahr der Kirche", sagte er gerade, als Maddy sich wieder mal durch die Stunde gähnte. Das Mädchen, natürlich vollkommen überrascht, stotterte. "Öh...Gründungsjahr...oh, das Jahr Eins nach dem Himmlischen Feuer", meinte sie erleichtert, aber am Grinsen des jungen Autumn, der zwei Bänke vor ihr saß, erkannte sie schon, dass sie wieder mal NICHTS wusste. "Logisch gedacht, aber nicht richtig", korrigierte der Gelehrte seufzend. "Das Jahr Fünf nach dem Himmlischen Feuer oder auch schlicht "nach dem Feuer" wurde die Kirche vom Heiligen Magnus Adams gegründet. Und wer war Magnus?" "Ein Ritter...und Feldherr", kam es von Maddy wie von der Sehne geschnellt. "Richtig. Ein Ritter, der später durch das Erste Konzil unserer Kirche zum Heiligen erklärt wurde. Was er auch war, sieht man sich die Unzahl seiner Großtaten an. Er tötete die Verdammten zuhauf, verteidigte die Schwachen, die Wehrlosen, gegen Raider und heidnische Kriegsherren. Und er gründete Eternal Flame, Hauptstadt und Zentrum unseres Glaubens, wo noch heute das Heiligtum zu seinen Ehren steht."

Der Gelehrte nickte voller Inbrunst. "Ihr müsst es eines Tages selbst sehen, am besten auf einer Pilgerfahrt", fügte er begeistert hinzu, bevor er sich dem heutigen Thema widmete. Kurz bevor Maddys Kopf wieder Kontakt mit dem rauen, abgenutzten Holz der Schulbank aufnahm, wurde sie durch Goethe gebremst. "Unser heutiges Thema: Kriegführung des Ordens. Wir hatten schon einige Stunden, in denen ich euch über Schlachten und Zweikämpfe berichtete, die überliefert sind. Heute aber wollen wir uns ganz einfach der Kunst des Krieges widmen. „Laura?" Die Angesprochene, ein gleichaltriges Mädchen aus Maddys Gruppe, sah auf. "Herr?" "Warum ist der Ordensritter der gefährlichste Krieger der Welt?" Nach einigen Atemzügen kam stockend die Antwort. "Nun...wir…wir werden gut ausgebildet, sind stärker…" "Quatsch", sagte Goethe entschieden, aber nicht unfreundlich. "Warum sollten wir stärker sein? Die "Verdammten", von denen ihr froh sein könnt, dass seit vielen Generationen keiner mehr gesehen wurde, sind uns an Größe und Körperkraft weit überlegen, sie benutzen Waffen wie gewaltige Streithämmer, die du nicht einmal hochheben könntest. Die Stämme wiederum werden von klein auf zu Kriegern und Jägern trainiert, härter als ihr - denn versagt ein Stammeskrieger, ist er in den Ödlanden so gut wie tot - nicht wie ihr in einem Übungsring, wo ihr vielleicht verletzt werdet, aber nicht gleich Tierfraß seid. Nochmal - was macht uns überlegen?" Maddy streckte langsam, als ihr ein Gedanke kam. Goethe traute seinen Augen nicht. "Maddy?" "Wir sind entschlossener, weil wir an etwas glauben…an das Richtige." Goethe sah sie einige Momente an, ohne dass sie seinen Ausdruck richtig lesen konnte. "Wir sind die Verteidiger von allem, was gut und recht ist, von der Zivilisation an sich. Gewiss, die Fürsten machen auch heute noch Fehler, eben weil sie nicht immer, wie es nötig wäre, an das glauben, an das wir glauben. Doch gerade das macht uns zum Schwert und Schild des Feuers." Er nickte langsam, während Maddy vor Stolz fast platzte. "Nun aber auch zu der Kunst des Krieges an sich. Was trägt ein Ritter oder gar ein Paladin, um sich zu schützen? Zählt auf." "Kettenrüstung mit Eisenplatten." "Schild." "Helm, aus Eisen." "Panzerhandschuhe." "Ecar-Rüstung für das Reittier." Goethe nickte. "Waffen?" "Schwert." "Lanze." "Manche auch Reiterbogen." "Streithammer." "Streitaxt." "Absolut richtig", lobte Goethe anerkennend. "Aber ihr habt eine Waffe vergessen." Ratlose Blicke, bis Maddy es war, die grinsend meinte: "Der Ecar natürlich. Mit einer Rüstung ist der echt gefährlich." Die anderen starrten sie an. Noch nie hatte das Mädchen während des Unterrichts so viel gesprochen wie heute. Der Blick, den ihr Tom Kent Autumn zuwarf, war allerdings voll der üblichen Abscheu gegen sie. Sie antwortete mit einem geringschätzen Lächeln, ehe sie ihn ignorierte.

"Der Ritter und der Paladin sind so gut gepanzert, dass höchstens Armbrustbolzen mit enormer Wucht die Rüstung durchschlagen können, wozu der Schütze aber dicht herankommen muss, kein Pfeil eines Tribals oder anderer Feinde wären dazu imstande. Selbst die Armbrust ist nur eine sehr eingeschränkte Waffe gegen die schwere Kavallerie, weil es lange dauert, sie nachzuladen. In dieser Zeit vernichten die Ritter des Ordens, erst mit Wurfspeeren und eigenen Bögen oder mit ihren Lanzen und Schwertern den Feind. Höchstens die "Verdammten" sind imstande, mit ihrer übermenschlichen, durch die Finsternis verliehenen Kraft, gegen zu halten." Maddys Fantasie übernahm die Kontrolle, sie stellte sich vor, wie sie - hoch zu Ecar - gerüstet mit Kettenpanzer und Lanze, mitten in die "Verdammten" hineinritt, wie sie sie tapfer und unbesiegbar niedermähte, das Schwert wie eine Sense führend. Es war die blühende Fantasie eines Mädchens, das noch nicht einmal ahnte, wie die "Verdammten", dieser ach so böse und grausame Feind, überhaupt aussah.

Viereinhalb Jahre später

Tägliches Training mit Schwert, Speer, Bogen, kurzer Klinge und waffenlosem Kampf, jahrelang und unerbittlich jeden Tag - solange kein sonstiger Unterricht die Übungsstunden unterbrach hatten die Körper der nunmehr Jugendlichen in einer Weise gestählt, die sich nicht vor Eliten antiker Krieger-Gesellschaften zu verstecken brauchte. Bei jedem von ihnen kristallisierte sich eine bevorzugte Waffe heraus, bei der die Ausbilder eine erhöhte Übungsstundenzahl zuließen. Zwar durfte der Rest des Trainings nicht vernachlässigt werden, doch waren Spezialisierungen beim Orden willkommen. Maddy hatte, wie die anderen Mädchen auch, in diesen langen, harten Jahren Kraft und Ausdauer in Armen und Beinen aufgebaut. Dabei überließen die Ausbilder die Wahl zwischen Muskelaufbau und höherer Ausdauer jedem Einzelnen, ob Junge oder Mädchen, selbst. Maddy hatte sich dabei für Geschwindigkeit entschieden, wenngleich ihre Kondition und körperliche Kraft es ihr erlaubten, einen Kampf bereits länger zu führen als mancher Söldner oder Ritter der Stadt-Armeen. Gleichzeitig zum Schwert war der Dolch - oder gar zwei Dolche zugleich - die Lieblingswaffe der jungen Ordensrekrutin geworden. Nun jedoch stand sowohl den Ausbildern als auch den Rekruten eine schwierige Zeit bevor.

Sowohl Mädchen als auch Jungen kamen in das schwierigste Alter, manche von ihnen früher, andere später. Mit Argusaugen und nächtlichen Wachen taten die Ordensausbilder, die das Szenario zur Genüge kannten, alles, um die langsam in die Geschlechtsreife übergehenden Gruppen der Mädchen und Jungen außerhalb des Trainings und des Unterrichts voneinander zu trennen. Strenge Strafen standen auf unzüchtiges Zusammensein, im Falle einer Schwangerschaft drohte den beiden Beteiligten, voran allerdings dem Mädchen, der Tod. Das hinderte Maddy und Giant, die sehr oft miteinander trainierten, nicht daran, sich heimlich zu treffen. In den letzten vier Jahren hatte sich das Mädchen zu einer mehr und mehr die Blicke auf sich ziehenden jungen Frau entwickelt. Das herzförmige Gesicht, die schön geschwungene Nase, die dennoch etwas von einer frechen Stupsnase hatte, rechts und links daneben die wunderschönen, blauen Augen, dazu die braungebrannte Haut, die langen, schwarzen Haare - all das wurde nunmehr durch gewisse Rundungen komplettiert, die sich bildeten. Mehr und mehr wurde sich Maddy vor allem der Blicke Giants bewusst, und als sie nach einer Trainingsrunde wieder einmal mit Schrammen und Blessuren zum Heiler geschickt wurden, nutzten sie die Chance für einen ersten, aus dem Nichts kommenden Kuss. Weder sie noch er fanden es unangenehm, im Gegenteil (und das, obwohl die Ordenskleriker die körperliche Liebe als etwas Finsteres und im Grunde Falsches verwarfen). Maddy empfand nichts Falsches daran, als sich ihre Lippen das erste Mal mit Giants trafen - und sie den Jungen das erste Mal nicht im Training rein zufällig mit ihren Brüsten berührte. Trotz des Stoffes der hellroten Rekrutenroben zwischen ihnen spürte Maddy etwas Neues, Geheimnisvolles. Etwas, das sie erforschen wollte.

Es war riskant, als sie sich einige Tage später des Nachts auf dem Dach der Kapelle trafen. Es war ein Versteck der besonderen Art, denn man erreichte das Dach nur mit einer Leiter - oder einem Seil, das man mit einer Schlinge über eines der eisernen Kamine warf. Genau auf diese Weise konnten die beiden relativ sicher sein, dass sie ungestört waren. So richtig wussten sie beide nicht, was sie miteinander anfangen sollten, also küssten sie sich lange, ehe Maddy den Anfang machte. Sie öffnete vor Giants Augen wortlos ihre Robe, unter der sie absichtlich nichts trug. Sie wurde rot, bis sie bemerkte, dass Giant vor reinem Erstaunen kein Wort herausbekam. Maddy lächelte schüchtern, aber dann legte auch Giant seine Robe ab. Sie taten es nicht in dieser Nacht, sammelten aber Erfahrung, erkundeten ihre Körper, nahmen den Anblick des anderen in sich auf. Dass sie am nächsten Tag müde und unkonzentriert waren, stellte einen Preis dar, den sie beide gerne dafür zahlten. Von da an trafen sie sich, wann immer es ging. Sie wurden mutiger, sammelten Erfahrung, sich gegenseitig mit ihren Händen und dem Mund Lust zu geben - schaffen es aber irgendwie, es nicht zum "Äußersten" kommen zu lassen. Der drohende Tod war ein starker Anreiz, darauf zu verzichten, auch wenn es ihnen nicht gerade leichtfiel.

In einer besonders klaren, warmen Nacht lagen sie nackt auf dem Dach der Kapelle und sahen zu den nächtlichen Feuern der Ewigen Flamme auf. Wie sie gelernt hatten, waren diese Lichter die Erinnerung des Feuers, dass es am Morgen ganz sicher wiederkehren würde, um Wärme und Leben in die Welt zurückzubringen. "Woran denkst du?", fragte Giant sie mit einem Mal. Maddy legte sich auf die Seite, so dass sie ihn ansehen konnte. "Ich...weiß nicht recht, wie ich es sagen soll", überlegte Maddy. Giant grinste. "Maddy...die nicht weiß, was sie sagen soll? Wow, wer bist du, und was hast du mit meiner Freundin gemacht?" "Idiot", meinte sie ohne Ernst, grinste ebenfalls. "Es ist…ich fühle mich manchmal...so als wäre ich…hm, gefangen. Nicht frei. Nein, das trifft es nicht richtig. Ich habe immer gedacht, ich würde als Ritterin einst gegen das Böse ziehen, den Schwachen helfen, dass sie es leichter haben, dass sie beschützt sind. Aber...alles, was wir hier beigebracht bekommen, sind die Großtaten gegen alle möglichen Feinde. Nie höre ich, dieser oder jener Heilige rettete so und so viele Leben, sorgte für eine bessere Bewässerung, half mit den Kräuter- und Heilpflanzen, wie man es uns beibringt." "Wir sollen damit auch keine Fremden heilen, sondern Kameraden oder Verbündete…" "Siehst du, aber warum keine Fremden? Wenigstens Frauen oder Kinder? Würdest du einer Familie helfen, deren einziges Kind am Trockenfieber leidet - das wir ja heilen können?" "Kommt darauf an, was für eine Familie…" "Nein, kommt es eben nicht. Sicher, ich rede ja nicht von "Verdammten", aber nimm' doch beispielsweise…sagen wir, eine Familie von "Gestraften". Denkst du, deren Kinder sind von klein auf schon anders als wir es waren? Es sind KINDER. Klein, wehrlos...und sag' mir nicht, dass die Kleinen von Tribals oder Gestraften schon als Kinder böse sind. Wieso sie nicht gefangen nehmen, sie richtig erziehen, ihnen die Wahrheit beibringen? Aber hier höre ich nur von Kämpfen, Töten oder von der Treue gegenüber der Kirche. Ich bin loyal, ich würde sterben für die Kirche...doch was, wenn sie von mir verlangt, wehrlose Menschen sterben zu lassen oder sie gar niederzumachen?" Giant erkannte mit leisem Erstaunen die innere Qual, die Maddy bei der Vorstellung empfand. "Mach' dir da mal keine Gedanken. Wenn du der Kirche so weit vertraust, dass du für sie sterben würdest, musst du auch daran glauben, dass sie das Beste in allem sucht. Mehr kann man von Menschen nicht verlangen." Maddy dachte eine Weile darüber nach, kam aber zu keinem vernünftigen Schluss. Außer, dass sich die schon seit vielen Monaten gehegten Zweifel einfach nicht mehr beseitigen ließen - so sehr sie das auch versuchte.

In derselben Zeit wurde Tom Kent mehr und mehr zu einem lästigen Problem für Maddy. Er beobachtete sie, folgte ihr oft wie zufällig. Immer öfters sah sie, wie er sie während des Trainings beobachtete, dann auch während des Unterrichts. Dabei konnte sie sein eigentümliches Verhalten zuerst nicht recht einordnen. Der junge Adlige warf Giant zunehmend eifersüchtige Blicke zu, doch auch Maddy gegenüber war sein Ausdruck hasserfüllt. Als er einige Male während des Unterrichts ermahnt wurde, ging er vorsichtiger vor. Er wartete, bis er sicher war, dass niemand ihn dabei sah, wenn er Maddy beobachtete oder gar handfest belästigte. Er schaffte es stets, sich rechtzeitig zurückzuziehen, ehe die junge Kriegerin ihm die Nase noch einmal brechen konnte. Dabei wurde er trotz der drohenden Prügel mutiger. Ohne, dass die Ausbilder und Lehrer es bemerkten, keimte vor ihren Augen eine Katastrophe.

Unglücklicherweise sind die Geschehnisse, welche mit den Großtaten von Magnus Adams einhergingen, nur äußerst unvollständig überliefert. So datieren die Aufzeichnungen über die Person des großen Gründers unserer Kirche und der ersten der mächtigen Städte, die er Eternal Flame taufte, zum überwiegenden Teil fast einhundert Jahre nach den gewaltigen Taten des Helden der Flamme. Dazu kommt, dass etliche Seiten der Aufzeichnungen mit anderer Handschrift hinzugefügt wurden, vermutlich, weil die alten Manuskripte in allzu schlechtem Zustand waren. Als Oberster Hüter der Geschichte und der Schriften widerspreche ich an dieser Stelle den Thesen von Unwissenden, welche behaupten, dass es somit gar nicht sicher sei, ob jede der überlieferten Taten und auch die Abstammung von Magnus Adams überhaupt dem entspräche, was so lange Zeit nach seinem Tode erst niedergeschrieben worden sei. Dies sind ketzerische Ansichten, die von allen Aufsehern der Kirche und der Inquisition mit entschiedener Härte verfolgt werden müssen.

Zweifel an dem Heiligen Magnus Adams oder an seiner Untadeligkeit sind Zweifel an der Ewigen Flamme selbst und stellen somit todeswürdige Verfehlungen dar.

Aus diesem Grunde dürfen Lücken in den geschichtlichen Aufzeichnungen von uns nicht als Grundlage für theologische Diskussionen geduldet werden, nirgendwo in den Territorien der Kirche. (Stellungnahme zum Disput des Jahres 1078 nach dem Großen Feuer, Leiter der Zentralbibliothek Eternal Flame, John Westing)

Der Tag, an dem Maddy und die anderen Mädchen aus ihrer Gruppe das erste Mal auf einem Ecar Equis ausreiten durften, war für sie alle ein unbeschreibliches Erlebnis. Schon früher, vor dem Krieg, hatten Pferde aus unerfindlichen Gründen eine Faszination auf junge Frauen ausgeübt, was weder Maddy noch sonst jemand noch wusste. Dies hatte sich nun auf die sechsbeinigen, stolzen und nicht weniger gefährlichen Ecar Equis übertragen, die, als sie aus ihren Ställen durch das äußere Tor direkt in das Ödland geführt wurden, bereits ungeduldig mit den Klauenhufen in der Erde schabten. Schon seit zwei Jahren trainierten die Rekruten auf den Tieren, aber nur innerhalb der Umzäunung, was natürlich die Schnelligkeit stark eingeschränkt hatte. Heute jedoch würden sie mit den Ecars hinaus in die Ödlande reiten, schneller und weiter als je zuvor. Augen leuchteten begeistert, mühsam konnten sich die Rekruten zurückhalten. "Noch einmal: Die Tiere sind gefüttert, aber greift ihnen nicht im Bereich des Mauls herum, das darf nur ein erfahrener Reiter, der sein Tier kennt", sagte Ivan, der die Ausbildung zusammen mit zwei weiteren Ausbildern leitete. Natürlich erhielten die Jugendlichen für diesen ersten Ausritt keine Kriegs-Ecars, die irgendwelchen Rittern gehörten. Ein Pool an eigens gezüchteten Ecars stand bereit, es waren genügsame Tiere, die nicht so sensibel auf oftmals wechselnde Reiter reagierten.

Maddy und die anderen Rekrutinnen trugen Lederkleidung in roter Farbe, jede von ihnen trug bei diesem ersten Ausritt ein Schwert und ein Dolch. Zwar befanden sie sich in vom Orden und von einem Fürsten kontrollierten Gebiet, aber darauf gaben vor allem manche Raubtiere nicht sehr viel. Schon als sie aufstieg, wusste Maddy tief in ihrem Inneren, dass sie genau hier, auf dem Rücken eines Ecars, eines so kraftvollen und nur mühsam zu bändigenden Tieres - ähnlich ihres eigenen Wesens - zuhause sein würde. Dass sie es sein wollte! Ein Gefühl von Sehnsucht packte sie. Selbst durch die Lederkleidung und das Leder des Sattels hindurch spürte sie das Pulsieren der Muskeln und das simultane Schlagen der beiden kräftigen Herzen des Tieres. Ein unbewusstes Lächeln umspielte ihren Mund, als Ivan ihr den Weg freigab. "Du kannst...aber langsam, Mad Cat", grollte der Ausbilder. Die junge Rekrutin nickte, machte ein ernstes Gesicht, aber genau das ließ Ivan misstrauisch werden. Doch Maddy hatte das Tier bereits angetrieben. Die sechs Beine des Ecars sorgten dafür, dass der Ecar schnell an Tempo zulegte, gleichzeitig aber auch weit weniger Bewegungen auf den Reiter übertrug als bei einem Pferd (was natürlich niemand wissen konnte, denn Pferde gab es schon lange nicht mehr, sie waren vermutlich von ihren fleischfressenden Nachfolgern verputzt worden). Schon nach den ersten paar Dutzend Metern hatte Maddy die noch zaghaft anreitenden Kameradinnen weit hinter sich gelassen - und, wie sollte es anders sein, auch die Ermahnung von Ivan völlig vergessen.

Einen schrillen, begeisterten Schrei ausstoßend, trieb Maddy den Ecar weiter an, der sich dies nicht zweimal sagen ließ. Schon recht schnell flog das Tier samt Reiterin förmlich über die Ebene, immer weiter in die Ödlande hinein. Maddys Haare wehten im Wind, es war ein Gefühl, als müsse sie nur die Arme ausbreiten - und sie würde davonfliegen, immer höher und höher. Jauchzend genoss sie es, fühlte sich frei wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie vergaß einfach alles, außer diesem unbeschreiblichen Empfinden jenseits aller Worte, die sie aussprechen konnte. Erst, als sie Last Hope nur noch weit, weit entfernt wie eine Stadt aus winzigen Bauklötzen sah, zügelte sie das Reittier. Minutenlang spürte sie die unbändige Freude in sich, die dieser schier unglaubliche erste Ritt hier draußen in ihr ausgelöst hatte.

Keinen Moment hatte sie auch nur daran gedacht, dass sie eigentlich unsicher oder ängstlich angesichts der ungeheuren Geschwindigkeit hätte sein müssen. Nichts davon, nur Begeisterung. Bis ihr klar wurde, dass es bei ihrer Rückkehr Ärger geben würde. Ivan war ein guter, aber auch ein strenger Lehrmeister. Dass man seine Worte praktisch direkt vor den anderen Rekrutinnen missachtete, darüber konnte er nicht hinwegsehen. Hin- und hergerissen zwischen ihrer Begeisterung und der leisen Furcht vor Ivans Zorn ritt sie zurück. Der Riese war schon von weitem zu sehen, er stand mit verschränkten Armen da. Alleine, die anderen mussten mit ihren Aufsehern noch unterwegs sein. Als sie näherkam, konnte sie schon die starren, kalten Augen erkennen. Noch während sie abstieg und vor den Veteranen trat, suchte sie nach Ausflüchten, aber dann wurde ihr klar, dass Ivan nichts mehr hassen würde als faule Ausreden. Also sagte sie das, was sie sagen musste. "Ich bin vom ersten Übungsritt zurück...!" Er starrte sie an, schien auf etwas zu warten. Kalt und streng waren seine Augen. In Maddy kämpften Stolz und jene laute Stimme, die ihr dringend riet, es nicht mit dem Oberausbilder zu verscherzen. Es dauerte, aber dann siegte letzteres. "Ordensrekrutin Andrea der...zweiten Ausbildungsgruppe im Orden der Flamme, Last Hope...meldet hiermit, gegen einen Befehl verstoßen...zu haben. Herr", sagte sie mit fast schon heiserer Stimme. Plötzlich trat Ivan direkt vor sie hin. Sein grollender Tonfall war leiser als sie es je bei ihm gehört hatte. "Der Verstoß gegen einen Befehl im Feld wird mit dem Tode bestraft, Rekrutin Andrea. Dein Glück ist, dass wir hier nicht im Krieg sind. Aber das wird sehr oft in deinem Leben der Fall sein. Willst du dein Leben wegen deiner Disziplinlosigkeit wegwerfen, Mädchen?" Er betonte das "Mädchen" mit unverhohlener Verachtung, dass Maddy Mühe hatte, nicht ihren Mund aufzumachen. Ivan schüttelte den Kopf. "Wenn du nicht lernst, dich zu beherrschen…wenn du nicht einmal Kontrolle über dich selbst hast, wie willst du je andere kommandieren, wie je Verantwortung übernehmen?" Maddy biss sich auf die Lippe, schwieg aber klugerweise. Ivans Miene war völlig emotionslos, als er seine Peitsche zog. Maddys Mund wurde trocken, als sie es sah. Schon einige Male hatte sie mit allen anderen Ordensleuten an derart grausamen Bestrafungen von Waffenträgern und einmal von einem der Mönche anwesend sein müssen. "Du bist jetzt fünfzehn Jahre alt, den Gesetzen der Kirche nach eine erwachsene Frau und den Ordensregeln nach eine ausgebildete Kriegerin an der Schwelle zur Ritteranwärterin. Sag' du mir, welche Strafe du für dein Fehlverhalten verdient hast." Maddy glotzte ihn an, als hätte er sie gebeten, den Ecar auf ihren eigenen Händen zurück in den Stall zu tragen. "Was?" Noch nie hatte sie Ivan so wütend gesehen, wie er es nun blitzschnell wurde. "Du hast jedes meiner Worte verstanden, Andrea. DU bestimmst, wie viele Hiebe ich dir geben werde." Schlagartig stand Begreifen in ihrem Gesicht. Er wollte, dass sie Verantwortung übernahm. Dass ihr zu Bewusstsein kam, dass jede ihrer Taten Folgen haben würde - vor allem die schlechten Taten, eben jene, bei denen sie nicht nachdachte. Natürlich konnte sie jetzt ganz einfach ihren Trotz und ihren Stolz herauskehren, der ihr auch zuschrie, genau das zu tun, aber was wäre die Folge? Ivan würde sie verachten, in ihr nur ein verzogenes Kind sehen, das zu schwach war, sich im Griff zu halten. Niemals würde er solch eine Person als Ritter sehen wollen, niemals Vertrauen in so jemanden setzen.

Maddy schaffte es irgendwie, den kalten Blick des Veteranen zu erwidern. Er erkannte die mühsam gebändigte Wildheit und den Stolz, den sie niederringen musste - genau, was er von ihr erwartete. "Ausbilder...Ivan…ich setze…die disziplinarische Maßnahme…" sie schluckte, kannte ihre eigene Stimme nicht mehr „…auf zehn Hiebe. Herr", brachte sie gerade noch hervor. Da, zum allerersten Mal, sah sie, wie der Veteran ein mildes Erstaunen nicht unterdrücken konnte, das aber rasch wieder hinter dem eisernen Panzer des Mannes verschwand. "Zehn Hiebe wurden festgelegt, aber ich mache fünf daraus, aufgrund deiner Unerfahrenheit und der Tatsache, dass zehn Hiebe die Anfangsstrafe für schwere Verbrechen ist. Fünf Hiebe. Ich überlasse dir die Wahl, sie als offizielle Bestrafung vor der gesamten Ordensmannschaft oder hier und jetzt zu erhalten." Maddy senkte den Kopf, auf seltsame Art und Weise erleichtert. Soweit man das in ihrer Situation sein konnte. "Herr, hier und jetzt...bitte."

Ivan machte keine große Zeremonie daraus, er presste Maddy ein Stück Holz zwischen die Zähne, trat hinter sie. Die junge Frau hob das lederne Oberteil am Rücken, so dass dieser frei lag. "Eins..." Zuerst fühlte es sich eigentümlich kalt an, als die Peitsche die Haut traf, aber die Kälte schlug in einem Augenblick in glühende Hitze um. Maddy biss wie verrückt auf das Stück Holz, als der zweite Hieb eine weitere Schneise durch ihren Rücken zog, vage spürte sie, dass ihr Blut dort hinunterlief. Beim dritten Hieb schrie sie auf, ihr ganzer Rücken schien jetzt zu brennen, ihre Knie wurden weich. Der vierte und der fünfte Hieb knallten in rascher Folge auf ihren bloßen Rücken, so als wüsste Ivan, dass sie es nicht mehr lange aushalten würde, still dazustehen. Maddy fand sich auf den Knien wieder, ohne recht zu wissen, wie sie da hingekommen sein sollte, Schmerz und Qual erfüllte ihren Leib, das Stück Holz war ihr nach dem letzten Schlag aus dem Mund gefallen, aber sie achtete nicht mehr darauf. Starke, muskulöse Arme fingen sie auf, halfen ihr, bis ihre Kraft zurückkehrte. "Du kannst jetzt zum Heiler gehen, Maddy", sagte Ivan überraschend leise. Obgleich ihr das Leder über ihren zerschundenen Rücken kratzte, machte sie sich erhobenen Hauptes auf den Weg. Dem Schmerz nachzugeben, würde später, wenn sie alleine war, noch genug Zeit bleiben. Ebenso hätte sie dann aber auch die Zeit dafür, sich noch einmal das Gefühl reiner Freiheit in Erinnerung zu rufen.

"Mad Cat...netter Name für eine kleine Hure wie dich", hörte sie hinter sich die nur allzu bekannte Stimme, die sie mittlerweile noch in ihren Träumen verfolgte. Es war eine Woche nach ihrem Ausritt, und natürlich hatte sie die Peitschenwunden in dem gemeinsamen Schlafraum der Rekrutinnen nicht geheim halten können. Wenn sie darüber nachdachte, hatte sie es eigentlich gar nicht versucht. Leider war die Tatsache ihrer Bestrafung damit auch Tom Kent zu Ohren gekommen, der ihr nun umso mehr nachstellte. Zu allem Unglück war es mitten in der Nacht, als sie gerade von einem ihrer geheimen Treffen mit Giant zurückkam. Da die Schlafsäle auf den gegenüberliegenden Seiten des Ordensgeländes lagen, musste Tom demnach in der Nähe in einem Versteck gewartet haben - nur, um sie noch außerhalb der Schlafräume abfangen zu können. Obwohl es Maddy kalt den Rücken hinunterlief, als der junge Adlige mit triumphierendem Grinsen hinter einer Säule hervortrat, wuchs ebenso schnell der Zorn. "Was machst du Arschloch um diese Zeit hier?", fragte sie kalt, ging damit gleich zum verbalen Gegenangriff über. Leider wurde die Wirkung ihrer Worte durch ihre noch immer ein wenig glühenden Wangen und die zerzausten Haare abgeschwächt, Nachwirkungen dessen, was Giant soeben mit ihr auf dem Dach der Kapelle angestellt hatte. Tom lachte leise, wollte offenbar ebenfalls keine der Aufseher wecken. "Vielleicht will ich, was dieser grobe, dumme Bauernklotz will, Giant heißt er, nicht wahr?" Es durchfuhr Maddy eisig, was Tom nicht entging. Grinsend trat er näher. "Was würde wohl ein Aufseher dazu sagen, wenn ich es als meine Pflicht ansähe, dich und diesen Tölpel zu melden? Du weißt, welche Strafe auf das steht, was ihr da tut, nicht wahr?" Wie sie das blöde "nicht wahr" hasste. "Was redest du für einen Mist? Denkst du, ich wäre so blöd, DAS zu machen? Ich war hier nur, um frische Luft…" "Lüg' ruhig, du Schlampe", fuhr er sie an, stand nun so nahe, dass er sie fast packen konnte. "Eine einfache Anschuldigung, und man wird deine Jungfräulichkeit überprüfen…was denkst du, wird man dann feststellen?" Maddy glotzte den jungen Adligen an. Leider war der Sexualunterricht - aus naheliegenden Gründen - in der Ordensschule gar nicht Teil der Theoriestunden. Sie wusste nicht recht, ob das, was Giant mit ihr gemacht hatte - und sie mit ihm - ihre Unschuld verletzt haben konnte. Dieses Unwissen machte sie zum Opfer. Tom grinste hässlich. "Willst du, dass ich schweige?" Sie biss wütend die Zähne aufeinander, nickte aber wortlos. Demütigung und Scham brannten in ihr. Der Adlige kicherte mit schmutziger Vorfreude. "Dann wirst du für mich genauso die Beine breit machen, wie für deinen idiotischen Freund", raunte er bösartig. Die junge Frau starrte ihn an, schwankte für einen Augenblick in ihrer Entscheidung - bis die Kriegerin in ihr dem ein Ende machte. "Du willst mich...?", brachte sie gepresst heraus, während die Wut in ihr zunahm, ihre Unsicherheit zu verdrängen begann. Dass Tom es nicht bemerkte, war sein Fehler. "Ja, ich will dich, ich werde dir zeigen, wo dein Platz ist, Hure. So lange sehe ich schon, wie du alles tust, um eine Ritterin zu werden. Lächerlich...du bist eine Bauernschlampe, die Tochter von primitiven, tumben Tölpeln, die gerade gut genug sind, um Dreck zu graben. Wie sollte so etwas Niedriges wie du je Ritterin werden? Ha! Aber ich werde dir ab jetzt zeigen, zu was du am besten taugst. Von jetzt an bist du mir immer zu Willen, wenn ich es wünsche." Die Worte trafen Maddy tief und brutal. Nie hatte sie viele Gedanken über ihre Familie, ihren Vater, ihre Mutter…Geschwister…zugelassen. Doch als dieser verzogene, arrogante Adelsbursche derart grausam über jene Menschen sprach, die sie einst hoffnungsvoll auf diese Welt gebracht hatten – nur, um gleich darauf ermordet zu werden, schaltete etwas in Maddy aus. So als wäre damit alles gesagt, in völliger Verkennung von Maddy wahrem Zustand, von dem, was er ihrer Seele eben angetan hatte, griff er nach ihr.

Es war sein zweiter Fehler an diesem Abend - und es sollte sein letzter sein. Vollkommen überrascht von Toms Handeln gelang es diesem, seine Hand unter Maddys einfache Leinenhose zu bringen - wo er roh an ihre empfindlichste Stelle griff. Der junge Adlige hatte in seiner Dummheit und grenzenlosen Selbstüberschätzung keine Ahnung, was er damit anrichtete. Die junge Kriegerin reagierte in ihrem Schreck reflexartig, ohne noch nachzudenken. In einer fließenden Bewegung lag das Messer, das sie versteckt im langen Ärmel ihres Oberteils mit sicher führte, in ihrer Rechten. Die unzähligen Male mit dem Dolch eingeübte Bewegung, die Maddy fehlerfrei beherrschte, war binnen eines Wimpernschlages getan. Die Klinge steckte sauber im Herzen des Jungen, der sie, ohne recht zu begreifen, was geschehen war, anblickte. "Was...?" Seine Augen brachen im selben Moment, wortlos sackte er zusammen. Maddy stand nur da. Nie würde sie erfahren, wie lange sie auf die Leiche des Jungen hinunterstarrte, der versucht hatte, sie zu schänden. Er hätte das nicht machen dürfen...er hätte es nicht machen dürfen, sagte sie sich, immer und immer wieder. Eine Blutlache breitete sich unter dem Leichnam aus, doch das bemerkte Maddy gar nicht. Ohne es zu begreifen, stand sie unter Schock. Warum...? Wieso...hast du…das getan? Ihr war nicht ganz klar, ob sie noch mit dem toten Tom oder mit sich selbst sprach. Ihr Blick traf ihre eigenen, blutverschmierten Hände, wanderte wieder zu dem Messer, das noch immer in der Brust des Jungen steckte. Langsam sackte sie auf die Knie, spürte etwas tief in sich selbst sterben. Quälend drang die Erkenntnis, was ihr nun bevorstand, in ihr gemartertes Bewusstsein. Mord...und dazu noch an einem Adligen, am Sohn des örtlichen Kriegsherrn. Kein schneller Tod würde es sein, der ihre Strafe wäre.

Ihr Gehirn hatte diese Tatsache noch nicht recht erfasst, als sie einen mühsam unterdrückten Laut des Erschreckens hörte. "Maddy...!" Giants Stimme, voller Entsetzen. "Was hast du…hast du das getan?" Sie wagte nicht, sich umzudrehen. "Ja", stieß sie rau hervor, aber da war der ältere Junge schon bei ihr und zog sie unsanft hoch, drehte sich zu sich herum - und erstarrte. Das Mädchen, das er eben noch hatte anschreien wollen, war nicht DIE Maddy, die er vor einigen Stunden verlassen hatte, nachdem sie eine wunderschöne Zeit auf dem Kapellendach verbracht hatten. Verstört, aber auch auf seltsame Weise verändert, als sei alle Unbeschwertheit, alle Freude der Jugend, alle Zuversicht aus der jungen Frau gewichen, blickte sie ihn an. Aber es waren ihre Worte, die Giant mehr als alles andere zusammenfahren ließen. "Er wollte mich schänden...er hätte das nicht...tun dürfen. Warum...warum hat er das versucht? Wieso?" Giant stand der Mund offen, als er begriff. "Dieses Schwein...dieses schmutzige Schwein. Du hast dich nur gewehrt, Maddy..." Er verstummte, als ihm klar wurde, wie aussichtslos die Lage des Mädchens war. Sie, die geborene Tochter eines Bauernpaares, von klein auf eine Waise, ohne mächtige Schützlinge...tötete den Sohn eines angesehenen Adligen mit einem Messer, mitten in der Nacht und außerhalb der Schlafräume. Die wenigsten würden ihr glauben, dass Tom sie vergewaltigen wollte - und die es glauben würden, was sollten die tun? Toms Vergehen war zwar ebenfalls verachtungswürdig, aber im Vergleich zu einem Mord - denn als solcher würde man es hinstellen - war der Verlust von Maddys Unschuld etwas, das sie in den Augen der Adligen hätte hinnehmen müssen. Man musste kein Genie sein, um vorauszusehen, wie Toms Vater dazu stehen würde. Im Grunde war Maddy schon so gut wie tot.

Als er das erkannte, gab es einen Kampf in Giant, der aber schnell entschieden war. Er schob seine Pflicht, die in diesem Fall ohnehin nur der Ungerechtigkeit gedient hätte, beiseite und sagte leise: "Du musst fliehen, Kleines. Und ich...ich helfe dir." Maddys Reaktion war ein entgeisterter Blick. "Fliehen? Ich bin...eine Ordenskriegerin, ich fliehe nicht..." "MADDY..." Er fuhr sie so laut an, wie er es glaubte, sich erlauben zu dürfen. "Du bist die beste Kämpferin, die ich kenne und - sieht man von deinem Temperament ab - ein guter, freundlicher Mensch, der anderen gerne hilft. Doch dies hier ist ein Kampf, den sie dich nicht gewinnen lassen werden. Tom war ein Drecksack, aber ein adliger Drecksack. Du weißt, wie mächtig sein Vater ist, er wird mit allen Mitteln deine Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen fordern. Sie werden dich opfern, das weißt du. Der Orden wird keinen Konflikt mit dem Fürsten beginnen wegen...einer einzelnen Rekrutin." Seine Worte trafen sie wie Pfeile, der innere Schmerz erschütterte sie fast noch stärker, als es die brutale Tat von Tom getan hatte. Bis Giant, plötzlich ganz sanft, hinzufügte: "Ich würde es tun. Für dich kämpfen, auch gegen den Fürsten." Und da küsste er sie, für einige Momente verblasste die Seelenqual des Mädchens, als sie Giants Lippen auf ihren spürte. Es half ihr, wieder halbwegs klar zu denken. "Dummkopf", sagte sie zärtlich. "Sie würden uns beide verbrennen. Hol' die Wache, es...ist gut so. Ich laufe nicht weg." Sie schaffte es irrerweise sogar, zu lächeln. "Vergiss' mich nicht, Gi'." Von einem Augenblick auf den anderen lag harte Entschlossenheit auf den Zügen des Jungen. "Das werde ich nicht...aber nur deshalb, weil du mir jetzt etwas versprechen wirst. Maddy, schwöre es mir: Du wirst am Leben bleiben, wenn es irgendwie geht. Du wirst nicht aufgeben, niemals!" "Gi', ich..." "Schwöre es, Maddy", sagte er eindringlich. Die junge Kriegerin starrte ihn an. "Du...du willst mich nicht an die Wache übergeben, richtig? Gi', wenn ich fliehe, wird die Kirche mich verdammen, ich werde nie das Ewige Licht sehen..." "Wenn sie dich als Mörderin verbrennen, wirst du genauso verdammt sein. Wenn du fliehst, hast du wenigstens eine Chance", fuhr er sie an. "Lebe, Maddy...ich bitte dich, Kleines." "Nein...nein, das kann ich nicht", meinte Maddy kopfschüttelnd, doch da sah sie Giants Entschlossenheit. "Gut, dann sterben wir gemeinsam. Ich werde behaupten, dass ich Tom abgestochen habe. Du sagst dasselbe, und da sie nicht sicher sein können, werden sie uns beide töten." Fassungslos glotzte Maddy ihren Freund an. "Bist du blöde?" Aber Giant lachte nur heiter. "Goethe hat uns doch mal gesagt, Liebende seien Narren...jetzt weiß ich, was er meinte. Aber wenn das Lieben eine Sünde ist, begehe ich sie gerne. Kannst mich nennen, wie du willst." Verzweifelt, aber auch angerührt von Giants Entschlossenheit, senkte Maddy den Kopf. Giant strich ihr vorsichtig durch das Haar. Es versetzte Maddy einen Stich mitten ins Herz. Denn obgleich sie diesen Jungen als Freund und Kameraden mochte, obgleich sie mit ihm ihre ersten, intimen Erfahrungen gemacht hatte, wusste sie in ihrem Inneren, dass Giant für sie nie mehr als genau das würde sein können – ein guter Freund. "Ich besorge Essen und Waffen. An die Ecars kommen wir nicht heran, der Stall ist verschlossen und das hintere Tor wird bewacht. Es kommt aber langsam ein leichter Sturm auf, da werden sie deine Fußspuren nicht lange sehen können, wenn sie dir folgen. Hol' du alles an Kleidung, was nötig ist. He...und lass' dir nichts anderes einfallen. Ich würde es merken. Wir treffen uns hinter dem Lager, unterhalb der Mauer." Er gab ihr noch einen Kuss, ehe er davoneilte.

Giant war höchstens zehn weitere Minuten später am Treffpunkt. Wortlos umarmten sie sich, bevor Giant Maddy ein Schwert und einen Dolch reichte. "Wie...bist du da rangekommen?", fragte sie erstaunt, aber der Junge winkte ab. "Spielt keine Rolle. Nimm' noch das hier. Essen, es ist Brot und Käse, außerdem zwei Äpfel und hier...die Wasserflasche. Es dürfte für drei, vier Tage reichen, bis dahin solltest du einen Bach oder einen See gefunden haben." Er sprach es nicht aus. Sie sagte es ebenfalls nicht. Die Ödlande alleine, zu Fuß, ohne Erfahrung und ohne jede Hilfe zu überleben, das war schlicht nicht möglich. Maddy wusste es, aber dennoch war sie es, die lächelte und Giant das letzte Mal küsste. "Danke...und sag' Goethe, ich sei es gewesen, die seine Äpfel gestohlen hat, OK?" "Woher...?" "Hab' ihm schon mal welche gemopst." Ihre Miene verriet, dass sie erst jetzt begriff, dass sie alles und jeden, der ihr lieb und teuer war, niemals wiedersehen würde. Oder höchstens, um anschließend verbrannt zu werden. Sie schluckte, blinzelte die Tränen weg. "Du musst bis Tagesanbruch schnell sein, es sind kaum mehr als vier Stunden bis dahin. Der Wind draußen ist zum Glück stark, er wird den Leuten des Lords zu schaffen machen." "Gi'...?" "Ja?" "Ich schwöre es", sagte sie rau, dann schlich sie los. Giant wartete einige Momente, ehe er in das Dämmerlicht der Fackeln trat, die vom Wehrgang aus einen Teil des Hofes erleuchteten. Kaum gesehen, rannte er ins Dunkel, so schnell er konnte. Die Wachen, da nur zu zweit, nahmen die Verfolgung auf. "Halt...stehenbleiben...!" Maddy huschte über den Wehrgang und ließ sich an den Armen ein Stück die Mauer hinunter, dann sprang sie. Schon nach wenigen Dutzend Schritten hatte die Finsternis sie verschlungen.

Dark World I

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