Читать книгу Sex & Gott & Rock'n'Roll - Tilmann Haberer - Страница 4
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ОглавлениеDer Schock war einfach ausgeblieben. Der Schock, den Katharina so oft bei Patienten oder Angehörigen beobachte hatte, wenn sie eine schlimme Diagnose mitteilen oder – früher, in der Klinik – den Angehörigen erklären musste, dass der Patient gestorben war. Das plötzliche Verstummen, die aufgerissenen Augen, das sinnlose Öffnen und Schließen der Hände. Das ungläubige Kopfschütteln, die Tränen, die plötzlich an den unteren Lidern erschienen, anschwollen, bis sie sich lösten und die Wangen hinabtropften. Das Erbleichen, das abwehrende „Nein!“ oder das ungläubige „Wie bitte?“ Nichts dergleichen.
Sie hatte schon damit gerechnet, seit dem Gastroenterologen bei der Magenspiegelung ein bedenkliches Brummen entfuhr. „Da sitzt etwas“, sagte er, als er den Schlauch wieder aus ihr herausgezogen hatte, „das sieht nicht gut aus.“
Katharina konnte sich genau vorstellen, was er meinte. Sie hatte es schon befürchtet, nachdem die unspezifischen Bauchschmerzen nicht nachlassen wollten, das Sodbrennen sie häufiger plagte. Und als sie merkte, dass ihre Hosen immer weiter wurden. Sie wollte es nicht wissen. Du bist Ärztin und ignorierst solche Symptome? Lakshmi war richtig sauer geworden, hatte sie böse heruntergeputzt aus lauter Freundschaft. Schließlich entschloss sie sich doch zur Magenspiegelung, und das Resultat überraschte sie nicht.
Sie schob es weg, bis das Ergebnis der Histologie da war. Der Kollege schaute zerknittert drein, schickte sie zu weiteren Untersuchungen, Ultraschall, CT, dann Biopsie, der ganze Apparat. Schließlich stand es zweifelsfrei fest: Sie hatte Magenkrebs. Der Tumor war ziemlich weit fortgeschritten, hatte die Magenwand schon fast durchstoßen. Vielleicht gab es schon Metastasen, man musste die Untersuchung der Lymphknoten abwarten.
Katharina wunderte sich ein bisschen über sich selbst, wie gelassen sie die Diagnose hinnahm. Sie spürte tatsächlich keine Angst. Sie hing nicht am Leben, an dieser zufälligen Verkörperung, einer unter vielen. Und überhaupt, es war vollkommen unwirklich. Sie hörte die Worte des Kollegen, verstand sie, verstand auch die Bedeutung. Ihr Leben war in unmittelbarer Gefahr. Möglicherweise war es schon zu spät. Warum haben Sie so lange gewartet; Sie müssen doch die Symptome erkannt haben! Und gleichzeitig ließ sie das alles merkwürdig unberührt. Vielleicht würde sie bald tot sein. Im Moment rief diese Vorstellung nur ein Schulterzucken hervor. In sechs Wochen oder in dreißig Jahren – sterben würde sie sowieso. Diesen Körper ablegen, sich auf den großen Übergang einlassen, in einer anderen Welt, einer anderen Existenzform aufwachen wie aus einem tiefen Schlaf, nicht wissend, ob sie nicht dieses ganze Leben nur geträumt hatte.
Ja, unwirklich wie ein Traum kam ihr das alles vor, diese Spanne zwischen Geburt und Tod, dieses Leben als Katharina, als Jeannie, als Sharani. Und sie war gespannt auf das, was dann kam, wenn dieser Körper seinen letzten Atemzug getan hatte. Gespannt? In gewisser Weise, ja. Sie war der festen Überzeugung, dass der Tod tatsächlich nichts war als ein Übergang, dass das, was sie im Innersten ausmachte, niemals sterben konnte, weil es nicht geboren war. Sie sah das Bild von Osho und musste an den Spruch denken, der auf der Gedenktafel vor seiner Urne steht: Never Born, Never Died: Only Visited this Planet Earth. Nicht geboren, nicht gestorben, nur zu Besuch auf diesem Planeten Erde. So und nicht anders war es nach ihrer Überzeugung. Es spielte eigentlich keine Rolle, ob sie lebte oder starb.
Das Telefon klingelte. Lakshmi, sicherlich. Lakshmi, die Freundin, Kollegin, die sie im PJ kennen gelernt hatte, Lakshmi damals schon Oberärztin, sie die Anfängerin. Lakshmi, die jetzt wieder Eva-Maria Haimhauser hieß, aber für Katharina blieb sie Lakshmi. Lakshmi, mit der sie sich die Praxis teilte. Und die natürlich darauf brannte zu erfahren, was bei der Untersuchung herausgekommen war.
„Warum meldest du dich nicht! Ich komme um vor Angst!“
Lakshmis Stimme riss sie zurück ins wirkliche Leben. Sie hörte sich sagen: „Sieht nicht besonders toll aus. Es ist tatsächlich ein Magen-CA. G3. Hühnereigroß.“
Lakshmi sparte sich jeden Kommentar, sagte nur: „Ich komme vorbei“ und legte auf.
Plötzlich spürte Katharina eine große Schwäche. Sollte sie das Ganze wirklich auf sich nehmen? Sich operieren lassen, den therapeutischen Giftcocktail nehmen, Haarausfall, Übelkeit, Schwäche, Entzündungen, das ganze Geschiss… War es nicht besser, einfach stillzuhalten und zu warten, bis es vorüber war? Sie ließ sich aufs Sofa fallen. Auf das Sofa, das sie zusammen mit Achim angeschafft hatte.
Woher kam diese Gleichgültigkeit? Oder besser: dieses Desinteresse an der Frage, ob sie leben oder sterben würde? Bisher hatte sie immer gern gelebt, die Frage nach dem Warum und Wozu sich schon lange nicht mehr gestellt. Sie lebte, und das war gut so.
Und auf einmal schien es egal. Nicht dass sie sterben wollte, gar aktiv etwas dazu hätte unternehmen wollen. Aber es erschien ihr unerheblich, ob sie noch Wochen vor sich hatte oder Jahrzehnte. Sie versuchte dieser Haltung nachzuspüren. Es war nicht Gleichgültigkeit, es war etwas anderes. Es fühlte sich eher an wie ein tiefes Vertrauen, dass es seine Richtigkeit haben würde, egal wie es kam. Sie konnte es nehmen, wie es war. Sharani – Hingabe an die Existenz, in welcher Form auch immer.
Die Türglocke. So schnell? Sie sah auf die Uhr. Seit ihrem Telefonat mit Lakshmi war eine gute halbe Stunde vergangen. Wo ist die Zeit geblieben? Katharina stand auf, drückte den Türöffner. Kurz darauf stürmte Lakshmi herein, riss sie an die Brust. „Was machst du für Sachen, Mädchen!“
Auf einmal konnte sie weinen. Eigentlich gab es keinen Grund, die Tränen kamen einfach. Sie fühlte sich nicht traurig, verzweifelt schon gar nicht. Nur müde war sie, unendlich müde.
„Wenn ich sterben muss, sterbe ich.“
Lakshmi strich ihr übers Haar. „Wer spricht denn hier vom Sterben? Du hast einen Tumor, okay. Das ist blöd. Der Tumor wird rausgeholt, du kriegst wahrscheinlich eine Chemo, da hängst du ein halbes Jahr in den Seilen, und dann ist es wieder in Ordnung.“ Sie schien, erstaunlich genug, nicht zu begreifen, was sich in Katharina abspielte. Aber Katharina begriff es ja selbst nicht so recht.
„Es ist doch völlig egal, ob es in Ordnung kommt.“
Lakshmi schob sie von sich, sah ihr ins Gesicht.
„Wie bitte?“ Auf einmal schien sie ehrlich verärgert. „Das sagst du? Als Ärztin? Du sagst, es ist egal, ob es in Ordnung kommt? Ob du lebst oder nicht? Sagst du das deinen Patienten auch?“
Katharina zuckte nur die Schultern, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Es gab tatsächlich keinen Grund zu weinen, weshalb dann die Tränen! „Es ist doch sowieso alles nur Maya. Illusion. Dieses ganze Leben.“
Lakshmi sah ihr fest in die Augen. Ihr Ton war grob, aber Katharina kannte sie gut genug, um die Zärtlichkeit und Sorge hinter dem rüden Tonfall zu hören. „Pass mal auf, meine Liebe! Du haust mir jetzt nicht in die Depression ab! Du brauchst deine Kraft, um wieder gesund zu werden, da erlaube ich dir so einen Quatsch einfach nicht!“
Katharina erwiderte den Blick, konnte nichts sagen. Was auch!
Lakshmi hakte sie unter und führte sie ins Wohnzimmer. „Jetzt setz dich erst mal!“ Sie ging in die Küche, Katharina hörte sie eine Weile rumoren. Wie eine Marionette mir gekappten Fäden hing sie auf dem Sofa. Was war nur los mit ihr!
Waren es drei Minuten, war es eine Stunde? Irgendwann stand Lakshmi wieder vor ihr, eine Tasse mit einer dampfenden Flüssigkeit in der Hand. Es roch nach Zimt und Ingwer.
Sie nahm einen Schluck von dem heißen, süßen Chai. Lakshmi setzte sich ihr gegenüber, schwieg eine Weile, während Katharina ihren Tee schlürfte. Irgendwann ergriff sie wieder das Wort.
„Hör mal, Sharani. Das ist echt Quatsch. Natürlich ist alles Maya. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass es deswegen unwichtig ist! Es ist doch kein Zufall, dass du das hier alles erlebst! Oder vielleicht gar ein Unfall, ein kosmisches Missverständnis. Nein, auch wenn das alles hier Illusion sein mag und dein wahres Wesen ganz woanders zu Hause ist – dein Platz ist hier, hier, solange du lebst. Und ich möchte, verdammt noch mal, dass das noch eine Weile so geht. Du haust mir nicht einfach ab, hörst du? Ich brauche dich noch, als Freundin und wenn dir das nicht reicht, als Kollegin.“
Dann kam Lakshmi herüber zum Sofa und setzte sich neben sie, legte den Arm um ihre Schulter. „Hörst du? Ich brauch dich noch, und es gibt da draußen eine Menge Leute, die dich auch noch brauchen.“
In Sharanis Kopf war es seltsam leer. Sie hörte die Worte der Freundin wie durch Nebel, aber irgendwie erreichten sie doch ihr Herz. Sie stellte die Tasse ab, lehnte ihren Kopf gegen Lakshmis Schulter. „Okay“, sagte sie. „Dir zuliebe.“
***
Sie ist in einem leeren, von diffusem weißem Licht erfüllten Raum, ohne Wände, ohne Boden. Sie schwebt im Nirgendwo, aber es geht ihr gut. Sie hat keine Schmerzen, genießt die Schwerelosigkeit. Vor ihr wird es noch heller, ein reines Licht, das etwas wie einen Durchgang zu öffnen scheint. Aus diesem Licht bildet sich ein Körper, ein Mensch. Sie erkennt ihn, bevor er noch ganz materialisiert ist. Achim. Er ist es, und er ist es nicht. Es ist, als sei es Achims Essenz. Sein Lächeln, seine Wärme, seine Liebe. Die Sehnsucht schüttelt sie, sie streckt die Arme nach ihm aus. Achim!
Sie kann sich nicht bewegen, kann ihrem Schweben keine Richtung geben. „Achim!“, will sie rufen, aber kein Laut dringt aus ihrer Kehle. Er hält ihr die offene Handfläche entgegen. Komm mir nicht nahe, heißt das. Es ist noch nicht so weit. Hat sie diese Worte gehört? Sie weiß sie einfach.
Er scharfer Schmerz. Sie darf nicht zu ihm.
Er wird wieder durchsichtig. „Achim!“, will sie wieder rufen. Er lächelt wehmütig, winkt mit sich auflösender Hand. Sie muss ihn halten, er darf nicht wieder gehen, nicht wieder. Aber sie ist machtlos. Immer transparenter wird die Gestalt, das Licht immer heller, unerträglich hell.
Er ist fort.
Ihre Wangen waren nass, als sie aufwachte. Achim! Aber sie durfte nicht zu ihm. Noch nicht. Lakshmi hatte Recht. Sie wurde hier noch gebraucht, auch wenn sie im Moment keine Ahnung hatte, von wem und wozu. Sie durfte noch nicht gehen.
***
Wie lange hatte sie allein geschlafen! Seit Achim gestorben war, und das war drei Jahre her, hatte sie ihr Bett nicht mehr geteilt. Aber Lakshmi hatte nicht lange gefragt, hatte nur mitgeteilt, dass sie bleiben würde. Und Katharina war vor Herzen froh darüber. Nun lauschte sie auf das leise Schnarchen der Freundin neben ihr. Die Gedanken wanderten durch die Zeiten, blieben kurz im Klinikum hängen, wo sie Lakshmi kennengelernt hatte, wanderten weiter… Prakash, natürlich, die Erinnerung musste ja kommen, war unvermeidlich, wenn sie an ihre Zeit in der Klinik zurückdachte.
Ihr Abiturschnitt hatte nicht ausgereicht für einen Studienplatz in Humanmedizin. Neun Wartesemester, teilte ihr die ZVS mit. Neun Semester, viereinhalb Jahre. Viele hätten in so einer Situation aufgegeben und sich etwas anderes gesucht. Nicht so Jeannie. Sie hatte es kommen sehen, dass sie warten musste, und sich schon vor dem Abitur bei der Schwesternschule in Würzburg angemeldet, für die dreijährige Ausbildung. Wenn schon warten, dann wenigstens etwas Sinnvolles dabei tun. Und wenn sie Krankenschwester lernte, dann war sie so nah wie möglich an ihrem Traumberuf. Nur mit der Arroganz der Ärzte – und der wenigen Ärztinnen – hatte sie nicht gerechnet. Sie nahm sich fest vor, die Schwestern anders zu behandeln, kollegialer, gleichberechtigt, wenn sie einmal selbst als Ärztin auf Station sein würde.
Deswegen war es eine so angenehme Überraschung, als sie Prakash traf. Gerade aus Poona zurück, den Schock noch in den Knochen, dass Bhagwan so plötzlich aufgebrochen war nach Oregon, dass sich ihre Wahlheimat, der Ashram, plötzlich in Luft auflöste, heuerte sie in Köln-Merheim an, um das letzte Semester ihrer Wartezeit zu überbrücken. Köln war die Hochburg der Sannyasins in Deutschland und das Belgische Viertel in den frühen Achtzigern beinahe ebenso orange wie Koregaon Park. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, ließ der Chefarzt sie böse auflaufen, als sie am ersten Tag ihres Dienstes mit roten Klamotten unterm weißen Kittel ankam (dass sie ohne diesen Kittel nicht als Krankenschwester arbeiten konnte, hatte sie zähneknirschend eingesehen, doch bereitete ihr das Weiß fast physisches Unbehagen, wenn sie in den Spiegel schaute).
Der Chef, seine Visite zelebrierend, war schon fast an ihr vorbeigerauscht, doch er musste aus den Augenwinkeln etwas Rotes gesehen haben. Er machte kehrt, lief direkt auf sie zu, sah auf ihr Namensschild, auf dem Schwester Sharani stand, und stach mit dem Zeigefinger zu. „In vierzig Minuten sind Sie in meinem Büro!“, knurrte er und war schon wieder fort, mitsamt seinem Tross verschwunden im nächsten Krankenzimmer. Sieglinde, die neue Kollegin, rollte mit den Augen. „Ich hab’s dir ja gesagt“, flüsterte sie. „Das mit deinem Bhagwan kommt hier nicht gut!“ Sharani zuckte die Achseln. „Das werden wir ja sehen“, meinte sie gleichgültig und ging ihrer Wege.
Trotzdem stand sie genau achtunddreißig Minuten später vor dem Chefarztbüro. Die Sekretärin musterte sie strafenden Blicks von Kopf bis Fuß und ließ sie zwei Minuten warten, bevor sie Sharani über die Gegensprechanlage beim Chef meldete. Der saß hinter seinem riesigen Schreibtisch, die Hände auf der ledernen Schreibunterlage gefaltet, und musterte sie ebenfalls, ohne ein Wort zu sagen. Dann stand er umständlich auf und kam um den Schreibtisch herum auf sie zu. Sharani schaute ihm voll ins Gesicht. Bange machen gilt nicht! Doch der Chef schaute an ihr vorbei, mit leidender Miene, als hätte er Zahnweh.
„In Ihrer Akte“, begann er schließlich, „sehe ich, dass Sie Katharina heißen. Schöner Name, wirklich. Schade darum. Aber gut, wenn Sie mit so einem albernen indischen Juxnamen auf der Brust herumlaufen wollen“ – er schob die Brille in die Stirn, beugte sich übertrieben zu ihr herab und buchstabierte: „Schwester Shar-ra-ni“, schüttelte den Kopf und seufzte. „Wenn Sie also mit diesem Namen herumlaufen wollen, ist das Ihre Sache. Die Patienten werden es überleben.“ Sharani versuchte so gleichmütig wie möglich zu bleiben, auch wenn es irgendwo tief in ihr kochte. Atmen, in die Füße spüren, hier sein.
Wieder stach der Zeigefinger zu. „Aber eins möchte ich klarstellen, und zwar unmissverständlich. Alle Schwestern – alle Schwestern in diesem Krankenhaus tragen weiß. Weiß. Und zwar auch unter dem Kittel. Sie können eine Hose anhaben oder ein Kleid; das ist mir egal. Aber die Hose ist weiß, der Rock ist weiß, die Bluse ist weiß, die Socken sind weiß. Weiß. Das ist die Farbe dieses Krankenhauses und aller Krankenhäuser in diesem Land. Wir sind hier nicht in Kalkutta.“ Er machte eine kleine Pause, seine Augen funkelten sie an. Endlich schaut er mir mal in die Augen! „Ich denke, wir verstehen uns, Schwester – wie war das? Schwester Schalami.“
Sharani seufzte innerlich. Der Typ mag Chefarzt sein, menschlich ist er eine Niete. Gerade dass er nicht Salami sagt. Ergeben nickte sie und sagte: „Ja, Herr Professor.“ Sie wusste, es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Vorbei an der Sekretärin, die sie bemüht ignorierte, verließ sie das Büro und stieß fast mit einem jungen Arzt zusammen, der gerade um die Ecke geschossen kam.
„Hoppla!“, entfuhr es beiden synchron.
„Jetzt dürfen wir uns was wünschen!“ Der Fremde hatte ein sympathisches Lachen. Dann sah er sie an. „Neu hier?“
Sharani nickte und blickte ihm in die Augen. Blau. Dieses seltene Dunkelblau. Es bildete einen seltsamen Kontrast zu seinem schwarzen Haar, das knapp über die Ohren reichte, und dem akkurat gestutzten Vollbart. Fast kobaltblau. Sie wollte schon weitergehen, da hielt er sie am Ärmel fest. „Darf ich?“ fragte er und beugte sich zu ihrem Namensschild wie vorhin der Professor. „Sharani“, las er. „So, so.“ Sein Grinsen war schon beinahe unverschämt. „Gehe ich recht in der Annahme, dass das nicht der Name ist, den dir deine Eltern gegeben haben?“ Sie hatte nichts dagegen, wenn Fremde sie duzten, aber hier im Krankenhaus schien das doch gegen die Etikette zu sein. Sie nickte. „Da gehen Sie recht.“ Bei seinem breiten Lächeln dämmerte ihr etwas, und richtig: „Ich bin Prakash“, sagte der fremde junge Arzt – Dr. Walter P. Hofmann las sie auf seinem Namensschild. P wie Prakash, nicht wie Paul oder Philipp.
Ihm schien einzufallen, dass er es eilig hatte. „Ich muss weiter“, sagte er und wandte sich zum Gehen. Doch dann hielt er noch einmal inne. „Vielleicht sieht man sich nachher in der Kantine?“ Die Aussicht, einen Sannyasin-Bruder in der Klinik zu haben, erleichterte sie so sehr, dass sie spontan zusagte. „Ich glaube, um eins kann ich Pause machen.“ Prakash winkte und eilte davon. „Um eins“, rief er über die Schulter zurück. Erst als er um die nächste Ecke gebogen war, fiel ihr auf, dass er unter dem offenen Kittel ein blütenweißes Poloshirt und eine weiße Hose trug. Und keine Spur von seiner Mala.
***
Prakash kam erst um viertel nach eins, da hatte Sharani fast schon aufgegessen. Es war gar nicht so einfach, in dieser Kantine etwas Vernünftiges zu essen zu kriegen. Sauerbraten, Kalbsgeschnetzeltes, Buletten, Würstchen… Irgendwas, wofür kein Tier sterben musste? Sharani nahm sich einen gemischten Salat und ließ sich bei den Hauptspeisen eine Portion Gemüse mit Kartoffeln geben. Dafür nahm sie sich zwei Quarkspeisen als Nachtisch.
Auch Prakash hatte einen Gemüseteller und dazu zwei Salate. Er stellte das Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich Sharani gegenüber. „Ist heute dein erster Tag?“, fragte er ohne Umschweife. Sharani nickte kauend, legte dann die Gabel zur Seite. „Und schon hat der Chef dich erwischt. Gemein.“ Die Augen lachten, während der Mund sich beileidsvoll krümmte.
Sharani holte Luft. „Das ist doch wirklich oberkacke, diese Ideologie, dass man nur Weiß tragen darf. Wie soll ich das denn machen? Wen stört das denn, wenn ich unter dem Kittel orange oder rote Klamotten anhabe?“
„Den Chef stört’s“, sagte Prakash gelassen. „Und der Chef hat hier das Sagen.“
„Aber als Sannyasin bin ich doch verpflichtet, Farben des Lebens zu tragen. Ich finde es schon schlimm genug, dass ich dieses Leichenhemd als Uniform anziehen muss, aber drunter… Ich habe gar keine weißen Hosen oder T-Shirts.“
„Du bist verpflichtet? Wer sagt das?“ Prakashs tiefblaue Augen bohrten sich in die ihren.
„Na, Bhagwan sagt das. Das müsstest du doch eigentlich wissen!“
Prakash wurde ernst. „Meines Wissens sagt Bhagwan vor allem, dass wir frei sind. Dass wir uns von irgendwelchen Bevormundungen frei machen sollen. Dass wir selbst entscheiden sollen.“
„Eben.“ Sie verstand ihn nicht. „Und trotzdem fügst du dich dieser hirnrissigen Vorschrift.“
Prakash legte ebenfalls die Gabel neben den Teller. Sah sie an. „Sharani“, sagte er ernst. „Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass die Ermunterung, sich von Bevormundung freizumachen, sich auch auf Bhagwans eigene Vorschriften beziehen könnte?“
Ihr blieb der Mund offen stehen. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Was sagst du da!“
„Schau, Bhagwan sagt immer wieder, er lehrt keine Religion, er hat keine Dogmen, wir sind frei – also sind wir auch frei von dem, was er uns sagt. Er ist wie ein Fahrzeug. Es bringt dich irgendwohin, und wenn du angekommen bist, steigst du aus und brauchst das Fahrzeug nicht mehr. Entscheidend ist doch, dass du den Weg zurückgelegt hast und nun da bist, wo er dich hinbringen wollte.“
Das klang einleuchtend und doch war es irgendwie revolutionär. Ketzerisch.
Ketzerisch?
Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Ketzer konnte es nur geben, wo es Dogmen gibt. Und nichts verabscheute Bhagwan mehr als Dogmen. „Natürlich“, sagte sie und schlug sich vor die Stirn. „Du hast Recht. Wenn wir Sannyasins aus Bhagwan wieder einen machen, der die wahre Lehre verkündet, dann tun wir genau das, was er nicht will.“
„Bhagwan öffnet das Fenster und wir schauen hinaus. Nicht mehr und nicht weniger. Natürlich ist es okay und auch sinnvoll, Orange zu tragen. Und wenn ich hier raus bin, wenn ich in die Kommune gehe oder ins Zorba The Buddha oder zur Meditation, trage ich natürlich auch orange Klamotten und die Mala. Aber hier muss ich das nicht.“
So ganz konnte sie es noch nicht annehmen. „Puh, das kommt ein bisschen plötzlich. Irgendwie kommt es mir doch nicht ganz richtig vor, wenn wir uns so einfach über Bhagwans Vorschriften hinwegsetzen.“
Prakash schüttelte heftig den Kopf. „No, Baby, wrong! You’re totally wrong. Bhagwan macht keine Vorschriften. Er befreit dich. Das ist alles. Das ist sein ganzes Bestreben. Er ist erleuchtet und er will, dass wir auch die Erleuchtung finden. Und dazu ist es notwendig, dass du meditierst und seine Lectures anhörst und Therapie machst, aber das alles machst du, weil du eingesehen hast, dass es sinnvoll und notwendig ist. Nicht, weil Bhagwan es sagt.“
Sie schaute wohl immer noch ziemlich skeptisch drein, deswegen fuhr Prakash fort. „Bhagwan wird immer als Sektenführer bezeichnet. Aber das ist er eben genau nicht. Wir sind keine Sekte. Ach, was rede ich, das weißt du ohnehin. Jim Jones hat gesagt: Kommt mit mir in den Tod, und seine Sektenmitglieder sind ihm gefolgt. Das musst du dir mal geben: Neunhundert Menschen! Alle tot. Bhagwan würde so etwas nie sagen. Und wenn, dann würde er erwarten, dass alle sagen: Bhagwan, jetzt bist du verrückt geworden. Und er würde sich scheckig lachen und sagen: Fast hätte ich euch drangekriegt!“
Sharani fand Prakash respektlos. Aber dann wurde ihr klar, dass Bhagwan nie den Respekt einforderte, den irgendein Papst oder Bischof einfordern würde. Prakash hatte Recht. Es ging um die Freiheit, in allen Lectures, in allen Therapiegruppen: Set your mind free! Darum ging es, um nichts anderes.
„Was sagen die in der Kommune dazu?“, wollte sie noch wissen.
Prakash machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach was, natürlich gibt es Dogmatiker, die jedes Wort von Bhagwan nachbeten. Aber die haben’s nicht begriffen, finde ich. Aber gut, es hat keinen Sinn, mit denen zu streiten. Deswegen trage ich eben Sannyas, wenn ich in die Kommune gehe, und hier im Krankenhaus nicht. Schließlich will ich Menschen helfen und nicht Recht behalten.“
Dieses Argument stach. Ja, auch ihr Ziel war es, Menschen zu helfen. Und wenn die orangen Klamotten sie daran hinderten, war es ganz in Ordnung, sie abzulegen. Sie wollte aus Bhagwan keinen Popanz machen, der unumstößliche Gesetze erließ, die penibel einzuhalten waren. Das war ja das genaue Gegenteil von dem, was Bhagwan wirklich wollte. Diese Lektion hatte sie begriffen.
Katharina wälzte sich auf die andere Seite. Ja, so hatte es damals mit Prakash angefangen. Dass er sechs Wochen später ihretwegen Gyanavati verlassen, drei Jahre mit ihr zusammenleben würde, war bei diesem ersten Treffen nicht abzusehen. Das Entscheidende war doch, wie er ihr die Augen geöffnet hatte. Wie er sie davor bewahrt hatte, Bhagwan zum Verkünder eines neuen Dogmas zu machen.