Читать книгу Sex & Gott & Rock'n'Roll - Tilmann Haberer - Страница 5

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„Hannes? Lebst du noch?“ Gabi gab sich Mühe, humorvoll und ungezwungen zu klingen, aber er spürte in ihrer Stimme deutlich die Ungeduld. Gute Frage. Lebe ich noch? Ein paarmal an diesem Tag hatte er sich schon gewünscht, tot umzufallen. Nicht beim Ja-Wort, das hatte er mit allem Ernst gesagt, der ihm möglich war. Und, ja, mit aller Aufrichtigkeit, zu der er fähig war. Aber bei all den vielen Glückwünschen, bei all den Bemerkungen, dass nun endlich das Leben zu zweit anfing, dass er sich glücklich schätzen dürfe, diese Frau gewonnen zu haben. Ja, er schätzte sich glücklich, Gabi war eine tolle Frau. Wenn er nur Jeannie nicht wieder begegnet wäre.

Ewig kannst du hier nicht drin bleiben! Er zog die Hosen hoch und schloss die Klotür auf. Gabi stand im Gang, mit ihrem bodenlangen, blütenweißen, schulterfreien Hochzeitskleid und sah ihn missmutig an. „Wo steckst du so lange! Es ist unsere Hochzeitsnacht.“

Er ging auf Gabi zu, küsste sie, legte die Hände auf ihre nackten Schultern, küsste ihren Hals. Sie entzog sich ihm, packte seine Hand, zog ihn ins Schlafzimmer. Dort angekommen, drehte sie ihm den Rücken zu. „Hilfst du mir?“, fragte sie. Und während er das Häkchen öffnete, den Reißverschluss im Rückenteil des Kleides herunterzog, während er sah und hörte, wie das Kleid zu Boden raschelte, wie sie sich nun zu ihm drehte, in einem Spitzen-BH, ebenso blütenweiß wie das Kleid, und einem Slip aus weißer Spitze, da überkam ihn doch eine Erregung, ein Verlangen. Ja, er liebte Gabi, doch, auf jeden Fall. Er war nur vollkommen durcheinander durch diese Begegnung mit der dreimal vermaledeiten Hexe Jeannie. Er wollte Gabi, er hatte sie immer gewollt, die ganzen zwei Jahre seit ihrem gemeinsamen Marsch durch den strömenden Regen.

Gabi ließ sich aufs Bett fallen, legte sich zurecht. Winkte ihn mit einer kleinen Bewegung aus dem Handgelenk zu sich. „Komm!“

So schnell er konnte, sprang er aus seinen Kleidern. Legte sich zu ihr.

Mit der Wucht eines Orkans kam sie über ihn, schleuderte sich ihm entgegen, empfing ihn mit dem aufgestauten Begehren eines Lebens in Enthaltsamkeit. Zwei Jahre hatte sie sich ihm verweigert, doch jetzt saugte sie ihn förmlich auf, für einen Moment kam er sich vor wie das Spinnenmännchen, das vom Weibchen beim Akt verschlungen wird. Er ließ sich fallen, versuchte alle Gedanken und Bilder, die sich aufdrängen wollten, zu verscheuchen. Küsste seine Frau wie wild, flüsterte ihren Namen, seufzte ihren Namen, rief ihren Namen, immer wieder ihren Namen, schrie ihn, ritt mit ihr den Todesgalopp, als hätte Kara ben Nemsi seinem Rappen die Hand zwischen die Ohren gelegt und Rih gerufen. Gabi! Sie war ein Vulkan, eine Naturgewalt, und er verlor jeden Gedanken, jede Erinnerung, kam mit einem lauten Schrei, doch sie entließ ihn nicht, riss ihn in die nächste Runde, bis er völlig erschöpft über ihr zusammenbrach. Und während sein Puls sich allmählich normalisierte, sein Atem zurückkehrte, er sie in den Armen hielt und sie sich an ihn drängte, spürte er, wie seine Schulter nass wurde, wie sie zu zittern begann, sich ein gewaltiges Schluchzen aus ihrer Kehle drängte.

„Bin ich so gut wie sie?“

Mit einem Schlag war die Erinnerung wieder da, lag Jeannie zwischen ihnen. Er hatte sie erfolgreich verjagt, doch Gabis törichte, angstvolle Frage hatte sie heraufbeschworen wie ein Medium bei einer spiritistischen Séance einen Geist ruft. Er antwortete nicht, versuchte stattdessen sie zu küssen. Doch Gabi wandte den Kopf ab. „Bin ich nicht so gut wie sie?“, beharrte sie.

Er wand sich. Wie sollte er die beiden Frauen vergleichen! Dort Jeannie, die er vergessen wollte, die ihn zehn Jahre seines Lebens gekostet hatte, und hier Gabi, seine rechtmäßig angetraute Ehefrau, die ihn verzweifelt liebte und anscheinend meinte, die andere ausstechen zu müssen. Zu können.

„Gabi“, flüsterte er, „es gibt keine andere. Es gibt keinen Vergleich. Du bist wie du bist, und du bist meine Frau.“

Sie stieß ihn von sich, wie ein Fieberkranker die Daunendecke von sich stößt. „Weich mir nicht aus! Du findest sie besser als mich, stimmt’s?“

„Nein.“

Er wusste nicht, ob das gelogen war. Er konnte die beiden wirklich nicht vergleichen. Wie auch.

„Nein, Gabi. Sie ist nicht besser. Sie ist ein Phantom. Sie spielt überhaupt keine Rolle.“ Er achtete darauf, den Namen nicht auszusprechen, so wie Gabi ihn vermied, als ob sie sich materialisieren würde, wenn er sie rief. Die Dschinnin, die Zauberin. Die Hexe.

„Du verdammter Schuft!“ Gabi schlug mit den Fäusten nach ihm. „Du hast mich betrogen, mit so einem dahergelaufenen Flittchen, du Sau!“

Hannes erstarrte. Sie ist kein dahergelaufenes Flittchen. Aber er hütete sich, zu widersprechen. Sie ist… ja, was? Was war Jeannie noch für ihn?

Eine Erinnerung.

Ein Schmerz, tiefer als die Welt.

Und ich war mir so sicher, dass Gabi mich von diesem Schmerz geheilt hat.

Ein Phantom. Ja, ein Phantom. Sie war nicht mehr real. Real war die Frau an seiner Seite, die inzwischen aufgehört hatte, ihn zu schlagen, und sich schluchzend auf die Seite rollte, weg von ihm. Vorsichtig strich Hannes über Gabis Schulter, sie zuckte, als wollte sie ihn abschütteln. Aber er ließ nicht locker. „Gabi“, sagte er ein ums andere Mal. „Du bist meine Frau. Dich liebe ich. Dich habe ich heute geheiratet. Mit dir will ich leben. Mit dir und mit niemand anderem.“

Plötzlich drehte Gabi sich wieder zu ihm herum. Ihre Tränen waren versiegt, der aberwitzige Zorn anscheinend verflogen. „Ja, Hannes“, sagte sie mit matter Stimme, „mich hast du geheiratet. Deine Frau bin ich.“ Und ihm fiel nichts anderes ein als sie weiter zu streicheln, ihre Brüste, die Hüften, die Schenkel, und obwohl er todmüde war und gar nicht wusste, wie es noch gelingen konnte, schliefen sie noch einmal miteinander. Und wieder riss sie ihn in einen gewaltsamen Strudel, der ihn hinab zog auf den Grund, wo er völlig entleert und entkräftet einschlief, in ihren Armen, in ihrem Schoß.


***

Er wachte auf und fühlte sich zerschlagen. Das Bett neben ihm war leer und für einen Moment sprang ihn der Schock an, den er vor sechs Wochen erlebt hatte. Als Jeannie weg war am frühen Morgen, weg nach dieser Liebesnacht, die er vergessen musste, für die er sich jetzt hätte ohrfeigen können. Dann hörte er die Klospülung rauschen und wusste: Sie ist nicht weg. In die Erleichterung mischte sich etwas wie eine kleine, dumme Enttäuschung. Natürlich haut sie nicht einfach ab. Sie ist meine Frau. Wir sind verheiratet.

Gabi war wie verwandelt. Von ihrer rasenden Wut, der Verzweiflung war nichts mehr zu spüren. Sie beugte sich zu ihm herab, legte ihm die Hand auf die Wange und sah ihm in die Augen. „Guten Morgen, mein Mann.“ Dann kroch sie zu ihm ins Bett und kuschelte sich an ihn. Alles ist gut. Und einen Herzschlag später: Fast alles.

Er fühlte sich wund und ausgepumpt, aber Gabi war unersättlich. Sie schien alles nachholen zu wollen, was sie sich bisher versagt hatten, und er gab ihr, was er zu geben hatte. Und er spürte, dass es ihn sogar ein bisschen stolz machte, von ihr so begehrt zu werden. Zwischendurch frühstückten sie im Bett, und als er mittags halb ohnmächtig wieder einschlief, hatte er Jeannie tatsächlich für den Moment vergessen.

Gegen Abend standen sie auf und fuhren zum Bahnhof. Mit dem Schlafwagen nach Paris, das war Gabis Idee gewesen. Er fand es ein bisschen kitschig, zur Hochzeitsreise ausgerechnet nach Paris zu fahren, aber er hütete sich, etwas zu sagen. Und es wurde eine wunderbare Woche. Statt alle möglichen Sehenswürdigkeiten abzuklappern, flanierten sie einfach über die Boulevards, setzen sich ins nächste beste Straßencafé und sahen den Leuten zu. Gabi hatte ihre Fröhlichkeit wiedergefunden, nur manchmal legte sich ein leichter Schatten über ihre Augen, den sie aber tapfer wegwischte. Sie blieb so hungrig wie in ihrer ersten Nacht. Manchmal wurde es ihm fast zu viel, aber wieder hütete er sich, etwas davon zu zeigen. Er stand seinen Mann, so gut er konnte, und mit seinen sechsundzwanzig Jahren konnte er ziemlich gut. Und nur ganz gelegentlich, wenn Gabi mit einem unterdrückten Schrei kam, fiel ein Schatten der Erinnerung über ihr Liebesnest, ein fernes Echo eines Wimmerns, eines Schreis aus einer anderen Kehle, aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben.


***

Die Woche in Paris war die schönste in ihrem ganzen gemeinsamen Leben. Wieder in München, war Gabis Hochstimmung verflogen. Immer wieder, aus heiterem Himmel, überkamen sie Anfälle von Eifersucht, und er konnte ihr nicht klar machen, dass sie es war, die die Erinnerung an Jeannie immer wach hielt. Sie hielt auch sein schlechtes Gewissen wach, aber mit der Zeit hatte er keine Lust mehr, sich immer wieder ein schlechtes Gewissen machen zu lassen. Einmal, ein einziges Mal sprach er sie darauf an. „Ich weiß“, begann er vorsichtig, „dass ich dich sehr verletzt habe. Und es tut mir wirklich wahnsinnig leid, ich hoffe, du weißt das, mein Schatz. Und ich frage mich, ob du mir verzeihen kannst. Wenn nicht, fürchte ich, werden wir diese dunkle Wolke über unserer Liebe nie loswerden…“ Weiter kam er nicht. Wie eine Furie ging sie auf ihn los. „Wer ist denn verantwortlich für diese dunkle Wolke? Wer ist denn das Schwein, das sechs Wochen vor der Hochzeit fremdgegangen ist? Wer, hm? Ich war das nicht, mein Lieber, ich nicht!“

Hannes zog den Kopf ein, aber er wollte nicht gleich aufgeben. „Ich weiß, mein Schatz…“, da fuhr sie ihn an: „Sag nicht immer mein Schatz! Du brauchst nicht zu versuchen, mich zu beschwichtigen mit ein bisschen billigem Süßholzraspeln!“

Er holte tief Luft, zählte innerlich bis sieben, dann unternahm er noch einen Versuch. „Ich weiß, ich habe es verbockt. Ich bin auch wirklich bereit, jede Buße anzunehmen, die du mir auflegst. Nur, bitte, kannst du mir vergeben? Kannst du die Geschichte begraben? Vielleicht nicht gleich, aber irgendwann?“

Aus ihren Nüstern schienen Funken zu stieben. Trotzdem erinnerte sie ihn plötzlich eher an Nepomuk, den Halbdrachen aus Jim Knopf, als an einen schrecklichen Racheengel. Offenbar konnte sie ihm nicht vergeben. Oder sie wollte nicht. Aber das kam aufs Gleiche heraus.

Nur im Bett war sie nicht zu bremsen. Und was ihm vor der Hochzeit wie ein erträumtes Paradies erschien, wurde bald zu Routine und Pflicht. Ja, manchmal sogar lästige Pflicht. Wieder und wieder ließ er sich nichts anmerken, aber manchmal seufzte er innerlich und dachte, was er sich kaum zu denken traute. Wenn sie mich doch einmal in Ruhe ließe.

Nach zweieinhalb Monaten war sie schwanger. Doch auch während der Schwangerschaft ließ sie nicht locker. Sie verlangte nicht mehr jede Nacht nach ihm, aber selbst im neunten Monat wollte sie noch mit ihm schlafen. Er stellte sich vor, wie das Kind – der Frauenarzt hatte das Geschlecht des Embryos schon erkennen können, aber Gabi wollte es nicht wissen –, wie also das Kind es erleben mochte, wenn ständig von außen an seine Behausung gehämmert wurde. Aber auch diese absurde Fantasie behielt er für sich. Er wurde überhaupt ziemlich schweigsam seiner Frau gegenüber. Gabi schien das nicht zu merken, jedenfalls nahm sie keinen Anstoß. Vorbei die Abende auf dem Sofa, an denen sie über Gott und die Welt geredet hatten, stundenlang, manchmal bis zum Morgengrauen.

Anfang Juni, zwei Wochen vor ihrem ersten Hochzeitstag, wurde Lukas geboren. Hannes war total verzaubert von dem zerbrechlichen Wesen, das ihn schon in den ersten Lebenstagen mit seinen großen Augen so weltweise anblickte, als hätte es noch Erinnerungen an das Licht, aus dem es gekommen war. Mit Hingabe wickelte Hannes seinen Sohn, gab ihm das Fläschchen, sang ihm Schlaflieder und trug das kleine Bündel im Tragetuch durch die Gegend, um ihm die Welt zu zeigen.

Und nach kurzer Zeit hatte er das Gefühl, fast allein für den Jungen zuständig zu sein. Gabi stillte ihn ab, sobald es ging, und verließ sich darauf, dass Hannes sich kümmerte. Sie stand vor sechs Uhr auf und ging joggen. Wenn der Kleine sich dann meldete, war Hannes gefragt. Er fütterte und wickelte Lukas, setzte ihn in seine Wippe und las ihm aus der Zeitung vor. Wenn er ins Büro musste, übergab er ihn an Gabi, die dann oft schon am Schreibtisch saß und irgendwelche Listen aufstellte. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, setzte er Lukas meist in den Buggy und fuhr eine Runde um den Block mit ihm. Er war sich nicht sicher, ob Gabi irgendwann am Tag mit dem Kind draußen gewesen war. Was sie überhaupt den ganzen Tag machte, war ihm ein Rätsel. Wenn er nach Hause kam, sah er Zeugnisse diverser Aktivitäten, aber er konnte keinen Zusammenhang und keinen Sinn erkennen. Alle paar Tage dekorierte sie die Wohnung um, einmal waren die Küchenstühle grün angestrichen, die am Morgen noch in Kiefer natur dagestanden hatten, einmal hatte sie ganz allein ihr gemeinsames Arbeitszimmer ausgeräumt, eine Wand ochsenblutrot gestrichen, die meisten seiner Bücher in Bananenkisten gepackt. „Die brauchst du doch sowieso nicht mehr, die können in den Keller“, beschied sie. Sie schien sich mit Freundinnen zu treffen, irgendwelchen Frauen aus ihrer Gemeinde, vielleicht auch mal mit Kolleginnen. Ansonsten hatte er den Eindruck, sie stehe ständig unter Strom. Ständig war sie beschäftigt, rastlos, doch oft ohne sichtbares Ergebnis.

Auch nachts hielt ihre ruhelose Aktivität an. Sobald der Dammschnitt einigermaßen verheilt war, war sie wieder so unersättlich wie vor der Geburt. Hannes kam seiner ehelichen Pflicht nach, mit abnehmender Begeisterung. So sehr er sich bemühte, Gabi merkte es natürlich. Und verstärkte ihren Anspruch. Obwohl sie Jeannie nie wieder erwähnte, kam es Hannes vor, als würde sie ständig gegen das Phantom einer Nebenbuhlerin ankämpfen. Als hoffte sie, die Erinnerung aus ihrem Mann herauszuvögeln.

Bis sie zum zweiten Mal schwanger wurde. Lukas war gerade sieben Monate alt, da blieb Gabis Periode aus. So sehr Hannes seinen Sohn liebte, so begeistert und engagiert er seine Vaterrolle ausfüllte, die Nachricht machte ihn nicht glücklich. Ein Kind konnte er managen, aber zwei? Wenn Gabi weiterhin in solcher zielloser Hektik herumwirbelte, ohne sich wirklich um den Haushalt und das Kind zu kümmern?

Aber es kam ganz anders. Als ob das Ergebnis des Schwangerschaftstests einen tiefen Schatten über ihr Leben geworfen hätte, zog Gabi sich zurück. Sie stand morgens nicht mehr auf; wenn er das Haus verließ, um ins Büro zu gehen, legte er Lukas zu ihr ins Bett. Und mehr als einmal kam es vor, dass sie abends, wenn er nach Hause kam, schon wieder im Bett lag. Oder immer noch? War sie gar nicht aufgestanden? Meistens stand das Frühstücksgeschirr noch auf dem Tisch, es war nichts eingekauft und nicht geputzt.

Hannes versuchte möglichst pünktlich heimzukommen, packte dann Lukas wie üblich in den Buggy. Nur ging er jetzt nicht mehr einfach um den Block, sondern erst mal einkaufen. Dann kochen. Dann Luki ins Bett bringen. Dann noch eine Trommel Wäsche waschen, die Wäsche von vor drei Tagen vom Ständer nehmen, bügeln, wegräumen. Gabi saß die meiste Zeit auf dem Sofa, die Hände schützend auf den wachsenden Bauch gelegt, und schaute vor sich hin. Er verstand die plötzliche Veränderung nicht, die mit ihr vorgegangen war. Sie war passiv und lethargisch, und auch nachts war plötzlich nichts mehr geboten. Sie schien oft schlaflos wach zu liegen, doch er durfte sie kaum berühren. Jede vorsichtige Annäherung, aus der eine liebevolle Umarmung hätte werden können, wehrte sie ab.

Die plötzliche Enthaltsamkeit machte ihm schwer zu schaffen. Er fühlte sich zu jung, um ganz ohne Sex zu leben. Und es war nicht nur die natürliche Geilheit eines jungen Mannes. Er liebte Gabi, auch wenn sie es ihm schwermachte. Das war ja das Verrückte. Zwar hatte die Begegnung mit Jeannie die alte, törichte Leidenschaft neu in ihm entfacht, doch wäre er wohl rasch darüber hinweggekommen, hätte nicht Gabi die Erinnerung ständig wachgehalten. Er hätte Jeannie zwar nicht vergessen, das nicht. Aber er war sicher, dass seine Liebe zu Gabi echt und tief war und von einem anderen Stern als das, was ihn einmal zu Jeannie hingezogen hatte. Gemeinsam hätten sie es geschafft, hätten über seinen Seitensprung, diesen vermaledeiten Ausrutscher, gemeinsam geweint und dann gelacht. So aber war das nicht möglich. Auch wenn Gabi nicht mehr von Jeannie sprach, sie war immer gegenwärtig, mehr in Gabis Fantasien als in seinen.

Er sagte sich: Lass sie, solange sie schwanger ist, geht halt nichts. Obwohl während der ersten Schwangerschaft durchaus etwas gegangen war. Die gedrückte Stimmung zu Hause war schwer auszuhalten, und sooft er konnte, ging er mit Luki nach draußen. Er erzählte ihm alles und war froh, dass der Kleine sich am Klang seiner Stimme erfreute, ohne ein Wort zu verstehen. So wurde sein Sohn bei diesen langen Spaziergängen zum Beichtvater. Er hörte die Klagen über die plötzliche Frigidität seiner Mutter, hörte Litaneien über die wundersame wilde Fantasiegestalt, die Zauberin Jeannie, hörte Vorträge über Schuld und Sühne, über Versagen und Vergeltung, hartherziges Festhängen im Alten und über die Sehnsucht nach einem Neuanfang. All das vorgetragen in halblautem Ton, sobald andere Menschen auf den Wegen waren, und auch mal ziemlich lautstark, wenn sie die Einzigen waren, die im Nieselregen durch die Dämmerung zogen.

Judith kam im Oktober in einer stürmischen Nacht zur Welt, die Straßen nass vom Regen, die Fahrbahn kaum zu unterscheiden unter dem sich türmenden Laub der Linden und Kastanien, ein würziger Duft hing in der feuchten Luft, zwischen fliegenden Wolken trat ab und zu für Augenblicke ein erstaunlich gelber Mond hervor. Gabis Mutter war in Rufbereitschaft, und als die Wehen so stark wurden, dass sie in die Klinik mussten, kam sie herüber, um Luki zu hüten. Judith hatte sich im Geburtskanal verklemmt und kostete ihre Mutter schier unendliche Kraft und Schmerzen, bevor ein Kaiserschnitt beschlossen wurde. So betrat sie diese Welt ganz anders als ihr Bruder, der fast im Sturzflug gelandet war, trug von ihrem gefährlichen Start ins Leben aber keinen erkennbaren Schaden davon.

Wenn Hannes später an die ersten Monate mit den zwei kleinen Kindern dachte, wusste er nicht mehr zu sagen, wie sie es geschafft hatten. Ohne Oma Hildegard wäre es nicht gegangen. Gabi erholte sich nur schwer von der Operation. Sie lag fast die ganze Zeit auf dem Sofa oder im Bett, schaute in die Luft, sprach kaum ein Wort, nicht einmal mit ihrer Mutter. Immerhin konnte sie Judith stillen, drei Monate lang, dann musste die Kleine auf das Fläschchen umstellen. Hannes rotierte zwischen Windeln, Fläschchen und Gläschen, zwischen Stramplern, Beißringen und ersten Duplo-Bausteinen, die Luki strategisch in der Wohnung verteilte. Oma Hildegard war fast täglich bei ihnen und zwischen ihr und ihrem Schwiegersohn entwickelte sich etwas wie ein stilles Einverständnis. Hildegard war fassungslos, dass ein junger Mann sich so im Haushalt und für die Kinder engagierte, und sparte nicht mit Anerkennung, während Gabi alles für selbstverständlich zu nehmen schien.

Nach drei, vier Monaten stand sie wieder auf. Die Operationsnarbe war verheilt, Hannes erwartete im Stillen, dass das eheliche Leben jetzt wieder etwas spritziger würde. Doch er hatte sich getäuscht. Gabi schien ein vollkommen geschlechtsloses Wesen geworden zu sein, auch wenn sie ihm mit ihren blonden Locken und der sportlichen Figur nach wie vor hinreißend und begehrenswert vorkam. Ja, Hannes begehrte seine Frau, er liebte sie, und gleichzeitig wurde diese Liebe immer frustrierter und verzweifelter, weil so offenkundig nichts zurückkam. Nichts.

Eines Abends, als die Kleinen endlich schliefen und Oma Hildegard nach Hause gegangen war, hielt er es nicht mehr aus. Von hinten trat er zu Gabi, die am Schreibtisch saß und seit zwanzig Minuten auf dieselbe Seite ihres Buches starrte. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, küsste ihren Scheitel, und obwohl sie erstarrte, hörte er nicht auf, sie zu küssen, er küsste ihr Ohr, ihren Hals, sie rührte sich nicht. Er versuchte sie um die Taille zu fassen, da schlug Gabi eine Hand mit einer raschen, heftigen Bewegung weg. „Lass mich in Ruhe, du geiler Bock“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor.

„Gabi“, sagte er, ernüchtert. „Gabi, ich bin dein Mann, ich liebe dich, ich möchte einfach nur…“

Sie fuhr herum. „Und ich möchte nicht.“ Böse funkelte sie ihn an. „Ich möchte nicht, dass du mich für deine Triebabfuhr benutzt!“

Triebabfuhr? Was war das denn für ein Wort!

„Meinst du, ich hätte nicht gemerkt, dass du immer, wenn wir miteinander geschlafen haben, an sie gedacht hast, an deine große Liebe, mit der du mich betrogen hast?“ Ihre Miene war so hasserfüllt, dass er erschrak. „Meinst du, ich hätte es dir abgenommen, dass du mich meinst? Die ganze Zeit war ich nichts als ein Ersatz, ein schwacher Ersatz für Die Eine, für deine blöde Jeannie“ – sie hat den Namen ausgesprochen! – „für dieses Flittchen, dieses elende!“

Ihr Ausbruch nach so vielen Monaten, in denen sie nur depressiv geschwiegen hatte, traf ihn völlig unvorbereitet. Er schnappte nach Luft. „Gabi…“ Weiter kam er nicht. Sie war aufgesprungen, stand ihm nun gegenüber, die Fäuste geballt. Gleich schlägt sie mich wieder.

„Gabi…“ Wie macht man das jetzt mit der Deeskalation? „Gabi, ich weiß, ich habe dir furchtbar wehgetan. Es tut mir leid, das habe ich dir schon tausendmal gesagt und ich sage es dir noch tausendmal, wenn du es hören willst. Es tut mir wirklich, wirklich leid, und ich würde es so gern wiedergutmachen. Aber du lässt mich ja nicht. Du bist es doch, die immer wieder diese unselige Geschichte hervorzieht. Lass es doch endlich! Sieh mich doch einfach einmal an. Mich, wie ich jetzt vor dir stehe, und nicht als den, der vor zwei Jahren einmal etwas schrecklich Falsches gemacht hat.“

Bittend streckte er seine Hände nach ihr aus. Und sagte es auch: „Bitte!“ Wie sehr muss ich mich erniedrigen, bis sie vernünftig wird?

Sie ignorierte die Demutsgeste, die Bitte um Verständigung, wenn schon nicht Versöhnung.

„Du bist nichts als ein Betrüger, ein dreckiger Ehebrecher, und deswegen: Lass deine Finger von mir. Hast du mich verstanden?“

Einmal noch versuchte er es. „Gabi, lass uns doch bitte einmal in Ruhe reden. Hör mir doch bitte einmal zu. Ich liebe dich, ich will dich, ich meine dich, nur dich, und was damals vor zwei Jahren war, das würde ich so gern ungeschehen machen. Lass es doch bitte endlich ruhen, lass uns sehen, was jetzt ist, und nicht, was damals war. Jetzt sind wir hier, du und ich, und ich liebe dich, und du bist meine Frau und die Mutter meiner Kinder. Können wir nicht in Frieden miteinander leben?“

Sie wandte sich ab. „Das hast du verkackt“, sagte sie tonlos. „Du allein.“

Und dann drehte sie sich wieder zu ihm. „Ja, ich habe dich geliebt. Ja, du warst meine große Liebe. Ja, ich war froh und stolz, dass wir heiraten wollten, stolz war ich, hörst du? Und froh. Und dann hast du alles kaputtgemacht, alles wegen deiner hirnlosen Geilheit, wegen dieser Nutte, die dich verhext hat und dein ganzes Herz besetzt hält, so dass für mich kein Platz mehr ist. Ich liebe dich nicht mehr, ich hasse dich.“

„Das ist doch alles Quatsch, Gabi. In meinem Herzen ist sehr wohl Platz für dich, und nur für dich. Und was war, ist für mich schon lange vorbei, ich bereue es bitterlich. Bitte, Gabi, bitte, halte du nicht immer daran fest. Lass diese blöde Geschichte endlich ruhen.“

Sie sah ihm gerade in die Augen. Schrecklich ruhig. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. „Nein, Hannes, das lasse ich nicht ruhen. Du hast mich zerstört. Und du wirst es büßen bis ans Ende deiner Tage.“

Das war zu viel. Ohne wirklich zu merken, was geschah, drehte er auf dem Absatz um, verließ das Zimmer, steckte automatisch den Schlüssel ein, zog die Daunenjacke über und stürzte aus der Wohnung. Ging, rannte die Wege, die er sonst mit Lukas im Buggy ging, in seinem Kopf und in seinem Herzen nichts als Chaos. Und aus dem Chaos stieg der Gedanke auf, den er so lange niedergehalten hatte, der Gedanke: Wäre ich doch damals nicht eingeschlafen. Hätte ich Jeannie überredet, zu bleiben, hätte ich mich von Gabi getrennt, solange es noch möglich war, wenn sie es mir doch nicht vergeben will, wenn sie doch nicht bereit ist, sich auf mich einzulassen.

Wäre er damals doch nicht umgefallen! Hätte er zu dem gestanden, was sein Herz sagte. Hätte er alles verkauft und wäre nach Poona gefahren, Jeannie wäre ja wohl zu finden gewesen in diesem indischen Kaff, bei diesem Guru, wäre er seinem Herzen gefolgt und nicht der elenden Scheißmoral, die ihn jetzt in diese Lage gebracht hatte, seine moralische Frau, die sich moralisch so im Recht fühlte, dabei war sie es, die sich unmoralisch verhielt, ach verdammte Scheiße, elendige!

Und dann? Wenn er in Poona gewesen wäre? Wenn er sie getroffen hätte? Womöglich in den Armen irgendeines orange gekleideten Swamis, der freien Liebe hingegeben, die ihr komischer Guru propagierte? Hätte nicht all das Elend, das sie miteinander erlebt, das sie einander bereitet hatten, wieder von vorn begonnen? Hätten sie denn jemals die Chance gehabt, miteinander glücklich zu werden? Nein, das mit Jeannie war ja doch auch immer nur schrecklich gewesen, von einzelnen sonnigen Augenblicken abgesehen, es war doch eine Katastrophe nach der anderen. Und während er die vertrauten Wege ging, während es Mitternacht wurde und später, während er schneller lief, um sich zu wärmen in der kalten Märznacht, erlebte er sie noch einmal, die Katastrophe mit Jeannie, im Gedächtnis, und wusste, das wäre keine Lösung gewesen. Aber was wäre denn eine Lösung? War er verdammt, bis ans Ende seiner Tage an dieser unglücklichen Begegnung zu leiden, damals, vor mehr als zehn Jahren, die ihm für einen Moment den Himmel auf Erden beschert hatte, bevor es kippte und zur Tragödie wurde?


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