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Kapitel 8 Geänderte Pläne

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Die ersten Worte, die Merthurillh sprach, als er endlich aus seinem erholsamen Heilschlaf erwachte, zeigten seine Besorgnis um seine beiden Söhne, den Drachen Allturith und seinen Adoptivsohn Adalbert.

„Adalbert geht es bestens“, beruhigte ihn die Heilerin Sintarillh. „Und solange es ihm gut geht, ruht auch die Seele unseres geliebten Freundes Allturith in Geborgenheit“, ergänzte sie mit einem traurigen Unterton.

„Wir vermissen ihn beide sehr“, erwiderte Merthurillh und rieb tröstend seinen mächtigen Kopf an ihrer Wange. Er wusste nur zu gut, wie eng die Bande der Freundschaft zwischen seinem Sohn Allturith und dieser Drachin waren. Seine Frau, die Kämpferin Zaralljah, vermutete sogar, dass die beiden heimlich ein Liebespaar gewesen waren, bevor Allturith starb.

„Gemeinsam mit Jordill und Tork ist Adalbert jetzt im Eisgebirge auf der Suche nach der Lorhdrachin Murwirtha“, wich Sintarillh vom Thema ab, bevor ihre Erinnerungen an den silbernen Drachen zu schmerzhaft wurden.

„Warum sind sie denn ohne mich aufgebrochen?“, fragte Merthurillh leicht enttäuscht.

„Weil du seit einigen Tagen im Heilschlaf lagst und erst in diesem Moment erwacht bist, lieber Freund. Nun freut sich mein Vater darauf, dich wieder im Rat zu begrüßen.“

Anschließend erzählte Sintarillh in kurzen Worten, was in den letzten Tagen geschehen war und welche Entscheidungen der Rat bereits getroffen hatte, ohne jedoch zu ausführlich zu werden, um ihrem Vater, dem Lorhdrachen Okoriath, nicht zu sehr vorwegzugreifen.

„Meine liebliche Sintarillh, ich bemerke, dass ich dir vor lauter Hunger kaum noch zuhören kann. Wenn ich vor deinen Vater trete, soll das nicht mit leerem Magen geschehen. Daher werde ich schnell zur Weide von Biggis Eltern hinüberfliegen und mich erst einmal richtig satt essen.“

„Aber denke daran, dass du deinen Appetit etwas kontrollierst, sonst verfällst du gleich wieder in einen mehrtägigen Verdauungsschlaf. Geschlafen hast du nun wirklich genug“, mahnte Sintarillh ihn mit einem frechen Grinsen.

„Keine Sorge, meine Heilerin, ich werde mir nur einen kleinen Appetithappen von der Weide holen. Außerdem kann ich dabei prüfen, wie gut meine Flügel genesen sind.“

Der goldene Drache drehte sich in Richtung der Höhlenöffnung und stürzte sich im nächsten Augenblick mit einem lauten Freudenschrei in die Tiefe.

***

Der Rat war an diesem Tag nur lückenhaft besetzt, denn die beiden Elfenkönige Trillahturth und Erithjull, der knurrige Zwerg Kronglogg und Adalbert, der sich seinen Platz zur Linken Merthurillhs redlich verdient hatte, waren mit wichtigen Aufgaben im Drachenland unterwegs. Außerdem klaffte noch die deutliche Lücke zwischen dem ersten Ratsritter Merthurillh und der Vertreterin des Hochgebirges, Lady Zaralljah. Diese Ratsloge, die in früheren Zeiten dem Vertreter der Drachen aus der ehemaligen Gemarkung des fernen Ostlandes zugestanden hatte, verdeutlichte besonders nachhaltig die Trennung und die daraus resultierende Spannung, die drohend über dem Drachenland lag.

Seit den dunklen Zeiten des schwarzen Druiden Rettfill, der einst das ganze Drachenland in Angst und Schrecken versetzt hatte, um es dann anschließend in einen fürchterlichen Krieg zu stürzen, wurden keine Abgesandten aus dem Ostland mehr in den Rat geschickt. In diesem Krieg war es in vielen Schlachten zu unzähligen Opfern auf allen Seiten gekommen.

Natürlich sah auch Rettfills Nachfolger, der hinterlistige und bösartige Druide Snordas, keinerlei Veranlassung dazu, mit dieser traurigen Tradition der Spaltung des Drachenlandes zu brechen und einen Gesandten zum Drachenrat zu beordern. Wen hätte er auch dorthin schicken sollen? Etwa einen dieser fürchterlich verstümmelten Feuerköpfe, die allein durch den Anblick ihrer scheußlich versengten Drachenschädel bereits Schrecken selbst über hartgesottene Krieger verbreiteten?

Nein, dieser Druide sah keinerlei Veranlassung, sich mit einem Abgesandten dem Drachenrat anzuschließen, der sich, ganz im Gegenteil zu seinen eigenen Plänen, dem Wohl des ganzen Landes verpflichtet hatte. Snordas hatte seine eigenen Pläne für die Zukunft und diese waren düster und böse.

So traf Merthurillh an diesem Tag nur auf wenige Mitglieder des Rates.

„Ich hoffe doch sehr, dass mein Erster Ritter besonders gut geruht und nicht zu üppig gespeist hat“, begrüßte der Lorhdrache Merthurillh freundlich.

„Oh ja, ich habe hervorragend geruht und einen leckeren Happen zu mir genommen. Meine Kräfte sind zurück und ich kann wieder fliegen, wie der junge Drachengott Wargos selbst. Ich spüre seine Kraft in meinen Gliedern und freue mich auf neue, spannende Abenteuer“, antwortete der Erste Ritter.

„Wir sollten mit diesem fürchterlichen Schmus aufhören und uns den wirklich wichtigen Aufgaben zuwenden, die noch vor uns liegen“, warf der alte Haudegen Rostorrh in die Runde.

„Diese schroffen Worte sind mal wieder typisch für unseren treuen Gefährten, der kein Freund von langen Reden ist. Aber auch ich schließe mich im Kern seiner Aussage an, denn ich befürchte, dass uns langsam die Zeit zwischen den Krallen verrinnt“, wurde der narbenübersäte Ritter von Lady Coralljah unterstützt.

So kam es, dass Merthurillh schnell über die Geschehnisse informiert wurde, von denen er bereits in Kurzform unmittelbar nach seinem Erwachen von Sintarillh erfahren hatte, bis schließlich die offene Frage in der Ratshöhle stand, was nun als Nächstes unternommen werden sollte.

Der Lorhdrache Okoriath hatte seine Rede damit beendet, dass er allen Anwesenden die Zwickmühle aufzeigte, in der sie sich zurzeit befanden.

Einerseits stand natürlich die Suche nach dem seelenlosen Drachen im Vordergrund, um Merthurillhs Sohn Allturith zu retten. Selbstverständlich gab es niemanden an der ganzen Drachenschule, der es sich nicht inständig wünschte, dass der lebensfrohe Allturith wieder zurückkommen möge, doch bei vielen drang dabei noch eine weitere unterschwellige Hoffnung immer mehr in den Vordergrund. Jeder wusste, dass durch die Übertagung der Seele ein unbeschreiblich mächtiger Drache geboren werden würde, der gerade in der jetzigen Zeit so dringend von Nöten war. So wurde die Suche nach diesem seelenlosen Drachen zunehmend bedeutender und der Lorhdrache erhob sie zur wichtigsten aller Aufgaben. Um dabei möglichst effizient vorzugehen, bildete der Rat in dieser Besprechung drei wesentliche Teilaufgaben.

Bei der ersten Aufgabe, der Suche nach der verschollenen Lorhdrachin Murwirtha im Eisgebirge, um die geheime Formel für die Seelenübertragung zu erfahren, musste Adalbert so gut wie möglich unterstützt werden.

Selbstverständlich wollten Merthurillh und Zaralljah dieser Aufgabe zugeordnet werden, doch der Rat konnte die Eltern von Allturith davon überzeugen, dass der Jungritter Torgorix und der Junker Tomporillh für diese Aufgabe völlig ausreichen würden. Außerdem wurde Adalbert ja auch durch den Elfen Jordill und den Keiler Tork unterstützt, von dessen traurigem Ende an der Schule zu diesem Zeitpunkt noch nichts bekannt war.

Die zweite Teilaufgabe bestand in der eigentlichen Suche nach dem seelenlosen Drachen selbst. Hier sollten die Erfahrungen der beiden Dracheneltern eingesetzt werden. Lady Coralljah, selbst Mutter, hatte es treffend formuliert, als sie meinte, dass niemand einen größeren Willen haben könnte, den rettenden Drachen zu finden, als die Eltern der Drachenseele, die möglicherweise bald sterben würde, wenn ihre Suche nicht von Erfolg gekrönt werden würde.

Die dritte Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, alle Schriften, Urkunden und Aufzeichnungen genau nach jeglichen Informationen zu durchsuchen, die entweder auf den unbekannten Aufenthalt der Lorhdrachin Murwirtha, den des seelenlosen Drachen oder die verschwundene Formel hinweisen könnten. Da sich der Chronist Olstaff bereits seit einigen Tagen mit nichts anderem beschäftigte, als mit eben dieser Suche, sollte er es auch sein, der alle Informationen sammelte. Dabei sollte er von allen Mitgliedern des Rates tatkräftig unterstützt werden. So hoffte Okoriath, dass in Kürze jeder Bewohner des Drachenlandes, abgesehen von den Verbündeten Snordas’, zu der Suche beitragen würde.

Die so gewonnenen Informationen sollten dann beim Chronisten zusammenlaufen und dort von diesem, der kundigen Lady Coralljah und dem weitsichtigen Lorhdrachen selbst gesichtet werden.

Sobald sie davon überzeugt wären, eine halbwegs brauchbare Spur gefunden zu haben, sollte Okoriaths Tochter Sintarillh dann als Botin zu Merthurillh und Zaralljah fliegen, damit die beiden der Spur nachgehen konnten.

Doch es gab noch weitere, nicht minder wichtige Aufgaben, die nicht vernachlässigt werden durften. Neue „alte“ Verbündete wie die Zwerge des Hochlandes und die Menschen mussten gesucht, gefunden und davon überzeugt werden, dass auch sie sich auf den bevorstehenden Krieg vorbereiten mussten.

Auch bei dieser heiklen Aufgabe würden Knut von Tronte, Kronglogg und Trulljah über jegliche Hilfe dankbar sein, die ihnen zukommen würde. Das Zwergenvolk alleine war schon eine harte Nuss, die es zu knacken galt, aber die Menschen würden noch wesentlich schwieriger zu einer Vereinigung zu überreden, geschweige denn davon zu überzeugen sein. Sie lebten in ihrer eigenen Welt und wollten von Zwergen, Elfen und Drachen nichts wissen. Das beste Beispiel dafür war Adalberts Vater, der ehemalige Drachenjäger, gewesen.

Doch dieser war durch die Verkettung seines eigenen Sohnes mit diesen für ihn bis dato feindlich gesinnten Wesen leichter zu überzeugen gewesen, als es der König Ekleweif von Kronenberg sein würde, der in scheinbarer Ruhe und Sicherheit auf seiner Burg in der gleichnamigen Hauptstadt Kronenberg lebte. Noch wesentlich schwieriger würde es bei der einfachen Landbevölkerung werden.

Und nicht zuletzt war es auch sehr wichtig und notwendig, die Grenzen zum Ostland zu überwachen und zu sichern. Auch dabei waren wieder die Menschen das Hauptproblem, denn solange sie sich nicht mit dem Drachenrat und den Völkern der Elfen verbündeten, wäre die östliche Flanke, südlich des Kaltfließers, völlig ungeschützt.

Das wachsame Elfenvolk der Grenzgänger beobachtete bereits seit Generationen das Treiben des räuberischen Ostvolkes und wäre vom Elfenkönig Trillahturth sicherlich leicht zu einer Allianz zu überreden, zumal der Anführer der Ratswache Wortrillh selbst ein Elf der Grenzgänger und durch seine stetige Anwesenheit bei den Ratsversammlungen in alle Geschehnisse mit einbezogen worden war.

„Noch nie zuvor mussten wir unsere Kräfte so sehr zerreißen. Natürlich sehe auch ich die dringende Notwendigkeit, an mehreren Schauplätzen parallel zu wirken, aber wenn sich nur mehr von uns diesen Aufgaben widmen könnten, würde mich das deutlich beruhigen. Wie sehr sehne ich mir in diesem Moment meine Kameraden Rorgath und Fantigorth mit seinem Elfenreiter Timbarill an unsere Seite. Mit ihrer mächtigen Unterstützung und Wargos’ Wohlgefallen sähe die Sache schon ganz anders aus“, sprach Rostorrh allen aus der Seele.

Der Lorhdrache nutzte den Gedanken seines erfahrenen Kämpfers und bat alle Anwesenden, kurz der zu Wargos aufgestiegenen Drachen und aller verstorbenen Freunde zu gedenken, bevor er diese Ratsversammlung mit der Mahnung auflöste, dass jeder Einzelne sehr gewissenhaft seiner Aufgabe nachkommen möge.

Wortrillh und Rostorrh machten sich auf den Weg an die östlichen Ausläufer des Trasli Karillhs, um den Kontakt zu den Grenzgängern aufzubauen. Rostorrh wollte jedoch nicht darauf warten, bis der Elf endlich quer durch das Drachenland von West nach Ost gelaufen war und flog auf direktem Wege zum Zwergenhain, um dort mit seinen geplanten Patrouillenflügen zu beginnen.

„Es kann nicht schaden, wenn Snordas sieht, dass wir nicht tatenlos herumstehen und abwarten, was er mal wieder im Schilde führt. Auf diese Weise werden sich seine Kundschafter und diese ehrlosen Feuerköpfe nicht zu sehr unseren Grenzen nähern“, meinte er voller Tatendrang und Vorfreude auf das eine oder andere Gefecht. Seine Aufgabe als Taktiklehrer war zwar sehr ehrenvoll und er konnte durch seine reichen Erfahrungen viel vermitteln, doch in seinem tiefsten Inneren war er eben ein echter Haudegen, der keinem Streit aus dem Wege ging.

„Sieh dich bitte vor meinem Bruder Furtrillorrh vor. Er wurde zwar durch den Katapultspeer von Adalberts Vater schwer verletzt, aber ich habe kurz zuvor seine riesigen Kräfte zu spüren bekommen. Er ist viel mächtiger als je zuvor“, warnte Merthurillh seinen alten Freund.

„Willst du damit etwa sagen, dass ich es nicht mit diesem Missgriff der Natur, der selbst eure Mutter angegriffen hat, aufnehmen könnte?“, fragte Rostorrh verärgert.

„Das wollte ich so nicht sagen, aber dein Wohl liegt mir sehr am Herzen, mein alter Kamerad“, beruhigte ihn Merthurillh.

„Schon wieder dieser sentimentale Schmus. Lasst endlich unseren vielen Worten Taten folgen“, forderte der alte Kämpfer und drehte sich dem Ausgang zu, nachdem der Lorhdrache mit einem zustimmenden Nicken die Ratsrunde aufgelöst hatte.

Merthurillh und Zaralljah flogen nur wenige Augenblicke später in südöstlicher Richtung davon. Sie wollten vorerst nur bis zum Elfenwald fliegen und erst bei der hereinbrechenden Nacht in Richtung Riffkoop weiterreisen, um möglichst wenig Aufsehen zu erregen. In Riffkoop selbst waren sie dann mit dem Elfenkönig Erithjull und Maradill verabredet, die bereits auf dem Weg in die Piratenstadt sein mussten.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Zaralljah endlich die traurige Stille, die sie beide zu trennen schien, durchbrach.

„Ob wir unseren geliebten Sohn je wiedersehen werden? Ich kann mir ein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen. Sollten wir es nicht schaffen, zumindest seine Seele zu retten, dann hat mein Leben keinen Sinn mehr“, stellte sie traurig fest.

„Wir werden ihn wieder zurückbekommen, wenngleich er sich durch die Übertragung seiner Seele auf einen anderen Drachen nicht nur äußerlich stark verändern wird. Trotzdem wird es unser Allturith sein. Ich verspreche dir, dass ich mein Leben dafür einsetzen werde, dass wir wieder mit unserem Sohn zusammen sein können. Nichts wird mich von dieser Mission abhalten können. Ich bringe uns unseren Jungen zurück, das schwöre ich dir.“

Mit diesen markigen Worten wollte Merthurillh nicht nur die Verlustängste von Zaralljah unterdrücken, sondern auch seine eigenen.

„Ich habe dich seit deinem Erwachen aus dem Heilschlaf noch gar nicht über Adalbert reden hören“, stellte Zaralljah etwas später fest, „haben sich deine Gefühle für ihn verändert?“

„Nein, das ist es nicht“, antwortete Merthurillh, „es fällt mir im Moment nur schwer, meine Gefühle ihm gegenüber zu ordnen. Du weißt, dass ich diesen Menschenknaben tief in mein Herz geschlossen habe. Ich bezeichne ihn nicht nur als Sohn, irgendwie ist er das auch geworden. Dabei wird er natürlich nie den Platz von Allturith einnehmen können, aber spätestens seit dem Moment, als ich erfuhr, dass er zum Seelenträger unseres Sohnes geworden ist, habe ich ihn als mein zweites Kind angenommen.“

„Das verstehe ich gut, mein lieber Merthurillh, aber was ist es dann, was dich beschäftigt?“, fragte Zaralljah nach.

„Ich bin mir über die Gefühle nicht sicher, die ich haben werde, wenn die Seelenrettung erfolgreich war. Werde ich mich dann ausschließlich um unseren wiedergeborenen Sohn kümmern und Adalbert vernachlässigen? Das würde ihn bestimmt sehr enttäuschen. Was werde ich aber empfinden, wenn der schlimmste Moment kommen sollte und wir Allturiths Seele verlieren. Kann ich dann überhaupt noch irgendetwas für Adalbert empfinden? Sind meine Gedanken nicht fürchterlich?“, wollte er wissen.

„Ich bin sehr überrascht, ausgerechnet von dir solche Zweifel zu vernehmen. Bist es sonst nicht immer du, der stets davon redet, dass man die Dinge auf sich zukommen lassen und sich vor der Zukunft nicht sorgen soll? Ich bin davon überzeugt, dass du ganz beruhigt sein kannst. Ich kenne dich nun schon so viele Jahre und habe dich stets für deine Weisheit und Gerechtigkeit bewundert. Zu dir habe ich schon immer aufgeschaut. Du bist für mich der prächtigste Drache, den das Drachenland je gesehen hat. Adalbert wird von dir stets die Liebe erfahren, die er sich so redlich verdient hat. Und solltest du das doch einmal vergessen, kannst du dich darauf verlassen, dass ich dich schon daran erinnern werde, unsere beiden Söhne gleichzubehandeln.“

Merthurillh sah seine Frau lange und sehr nachdenklich an, fast so, als wenn er sie zum ersten Mal sehen würde.

„Deine Worte klingen wundervoll, meine geliebte Frau. Fast hätte ich vergessen, wie bezaubernd du bist. Der Funke zwischen uns scheint ja noch nicht völlig erloschen zu sein!“

„Ganz und gar nicht, mein Held!“

***

Adalbert und Jordill kletterten schon seit einiger Zeit auf den ständig steiler werdenden Eisklippen, ohne viel zu sprechen. Die vergangenen Erlebnisse, ganz besonders der tragische Tod von Tork, beschäftigten sie zu sehr.

Noch lag der Gipfel des Eisgebirges in dichtem Nebel. Jedes Mal, wenn Adalbert nach oben sah, um sich zu orientieren, erschien ihm diese nebulöse Welt hoch über ihnen wie eine verschwommene Geisterwelt. Was mochte sie wohl dort erwarten? Welche Gefahren würden sich dort versteckt halten, die nur auf den richtigen Moment warteten, um plötzlich zuzuschlagen?

Da erklang hoch über ihrem Rücken der Schrei eines Adlers. Als Adalbert sich umsah, erkannte er den königlichen Vogel sofort wieder.

„Das ist der Adler, der laut aufschrie, als ich am Krähenpass abstürzte. Ich glaube fast, er folgt mir“, staunte er.

„Dich umgibt eine ganz besondere Aura, mein lieber Freund. Bist du dir eigentlich im Klaren darüber, wie einzigartig du bist? Ich habe von Anfang an daran geglaubt, dass du der Erwartete bist, daher habe ich mich auch darum gerissen, dich bei deinen Abenteuern begleiten zu dürfen. Aber selbst wenn ich bis jetzt noch nicht daran geglaubt hätte, spätestens seit dem seltsamen Erscheinen des Ijsvargs und dieses Adlers hier könnte ich nicht mehr an deiner Bestimmung zweifeln.“

Da waren sie wieder, die Zweifel, die tief in Adalberts Brust nagten, ob er wirklich dieser Erwartete sein konnte und, wenn er es tatsächlich wäre, ob er den Aufgaben gewachsen wäre, die vor ihm liegen würden. Doch seit seinem letzten Gespräch mit Merthurillh wollte er diese Zweifel sofort im Keim ersticken, sobald sie aufzusteigen drohten. So auch jetzt. Adalbert konzentrierte sich schnell auf den weißen Wolf, der ihm das Leben gerettet hatte, und schon waren seine Zweifel wie von Zauberhand verschwunden.

Erfreut darüber, dass diese Ablenkungstaktik so gut und vor allem so schnell funktionierte, wollte er Jordill gerne von dem erzählen, war er unmittelbar vor dem Angriff der untoten Narsokk-Wölfe geträumt hatte.

„Jordill, ich hatte gestern einen komischen Traum, in dem Tork eine wichtige Rolle spielte. Ich weiß nicht, wie ich es richtig beschreiben soll, aber irgendwie denke ich, dass er absichtlich in meinem Traum erschienen ist. Ich möchte aber auch nicht taktlos erscheinen, wenn ich jetzt von unserem Freund erzähle, obwohl er erst vor kurzem gestorben ist“, zögerte Adalbert, der Jordills Trauer in jeder Faser seines eigenen Körpers spürte.

„Wir trauern lange und vergessen nie, nehmen aber trotzdem schnell Abschied. Torkdill wird uns für immer begleiten, denn selbst in vielen Generationen werden unsere Kindeskinder und deren Kinder noch von seinen Taten hören.“

„Das erinnert mich an das, was mir Orax erzählte, nachdem dein Bruder Trulljah seinen hinterlistigen Bruder töten musste. Auch die Trolle besingen ihre Toten für viele Generationen. Wie könnt ihr euch bloß all diese Namen von euren Vorfahren merken, die ihr nie gesehen habt?“, fragte Adalbert staunend.

„Das ist gar nicht so schwer, wie es auf den ersten Moment erscheint. Wir hören ja nicht nur die Namen, sondern auch die Geschichten, die dazugehören. Diese werden uns schon im Kindesalter von unseren Eltern und Großeltern möglichst spannend erzählt. Dadurch werden sie für uns Kinder so interessant, dass sie leicht zu behalten sind. Du kennst doch auch deine Eltern, deine Großeltern und deren Eltern, oder?“, fragte Jordill.

„Ich weiß nicht viel von meiner Mutter. Wer ihre Eltern waren, habe ich nie erfahren. Von den Eltern meines Vaters weiß ich nur, dass mein Großvater auch ein Drachenjäger war. Er wurde bei seiner Arbeit von einem Drachen zerrissen.“

„Das tut mir wirklich leid, denn das ist wahrlich nicht viel. Wir alle brauchen unsere Vorfahren, um zu wissen, woher wir kommen und wo unsere Wurzeln sind. Wir Elfen schöpfen aus dem Bewusstsein unserer Vorfahren seelische Kraft und manchmal auch Trost, wenn wir von den Unsrigen lange getrennt sind. Wenn du möchtest, können wir uns später einmal darum kümmern, mehr über deine Ahnen herauszufinden. Ich würde dir dabei sehr gerne behilflich sein. Der Erwartete des ganzen Drachenlandes braucht doch schließlich eine eigene Ahnenhistorie! Doch ganz so schlimm steht es um dich nicht, denn du hast ja nicht nur die Familie deines Vaters und deiner Mutter.“

„Das verstehe ich nicht. Man hat doch immer nur die Familien seiner Eltern“, fragte Adalbert verwirrt.

„Normalerweise schon. Aber in deinem besonderen Fall sieht die Realität anders aus. Durch deine heilige Aufgabe als Seelenträger wirst du, sobald die Seelenübertragung abgeschlossen ist, bis zu deinem Tod mit Allturith und dem seelenlosen Drachen, von dem wir annehmen, dass es sich um den sagenumwobenen Rorgath handelt, verbunden sein. Du bist dann zu gleichen Teilen ein Familienmitglied dieser beiden Drachen. Dann wirst du eine Menge zu lernen haben, denn sowohl Merthurillhs als auch Zaralljahs Stammbäume sind sehr interessant. Doch diese Familienchroniken sind noch nichts gegen das, was dich bei den Brüdern Rorgath und Fantigorth erwartet. Ihre Vorfahren reichen direkt bis zum Drachengott Wargos zurück!“

Adalbert wurde ganz schwindelig bei der Vorstellung, dass er das alles lernen sollte.

„Mach dir darüber keine Sorgen. Nahezu die ganze Geschichte des Drachenlandes ist mit den Vorfahren Rorgaths verbunden. Du brauchst also nur etwas mehr über die Geschichte zu lernen und schon reihen sich die Namen aller Vorfahren wie wunderbare Perlen an einer unsichtbaren Kette auf“, ermutigte der Elf Adalbert.

„Jetzt ist mir ganz schlecht!“, stöhnte der junge Anführer und ließ sich auf einen Felsen sacken, der unter dem dicken Eis hervorschaute.

„Ich brauche nur die gesamte Geschichte des Drachenlandes zu lernen“, wiederholte er seufzend „und schon sehe ich Tausende von Drachennamen, die ich kaum auszusprechen in der Lage bin, wie eine blöde Perlenkette vor mir?“

Jordill sah in an und lachte plötzlich laut auf.

„Was ist denn jetzt so lustig?“, brummelte Adalbert.

„Du müsstest dich sehen. Der unerschrockene Kämpfer und Anführer, den ich in dir kennengelernt habe, der schon mutig gegen hässliche Trolle und grässliche Feuerköpfe gekämpft hat, sitzt hier wie ein trauriges Häufchen Elend und ängstigt sich davor, ein paar Namen zu lernen. Das ist wirklich komisch!“

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis sich auch Adalberts Miene verzog und er herzhaft mitlachte.

„Es tut der trauernden Seele richtig gut, wieder lachen zu können“, meinte Jordill, als sie sich etwas beruhigt hatten.

„Doch du wolltest mir ja eigentlich etwas über den Traum von Tork erzählen, bevor ich dir deine schillernde Zukunft vorhergesagt habe“, fragte der Elf dann neugierig nach.

Adalbert reagierte nicht sofort, sondern beobachtete zuerst, wie der riesige Eisadler hinter einem Bergrücken verschwand, stand dann auf und setzte zusammen mit Jordill nachdenklich seinen beschwerlichen Aufstieg zu den eigenartigen Geisterwolken fort, bevor er endlich antwortete.

„Kurz vor unserem schrecklichen Erwachen träumte ich genau das, was nur wenige Augenblicke zuvor tatsächlich passiert war. Ich musste regungslos zusehen, wie Tork von wilden Bestien, die ich aber nicht richtig erkannte, zerrissen wurde. In diesem grässlichen Traum röchelte mir der arme Tork noch im Sterbenskampf zu, dass er mich jetzt verlassen müsse und ich treu meinen Weg weitergehen sollte. Das alleine ist schon seltsam, aber da war noch etwas anderes, das er mir mitteilte. Im Traum konnte ich es aber nicht richtig verstehen, weil seine Worte immer leiser wurden. Erst später, als dieser fletschende Narsokk drohend über mir stand, kamen die Worte Torks endlich deutlich zu mir durch, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Ist das nicht seltsam?“

Diesmal war es der Elf, der eine ganze Weile schweigend neben seinem Weggefährten herlief.

„Tork hat nie zu mir oder einem meiner Brüder gesprochen. Wir konnten uns immer nur mit Gefühlen oder Emotionen verständigen, obwohl ich oft davon überzeugt war, dass er jedes Wort von uns genau verstehen konnte“, begann Jordill.

„Das verstehe ich jetzt nicht. Ich dachte, dass diejenigen von euch, die die Schlussmetamorphose, also den Kreislauf von Elf über Pflanze, über Tier bis zurück in den Elfenkörper abgeschlossen haben, genau wissen müssten, ob sie die anderen in den einzelnen Phasen des Wechselkreislaufs verstanden haben“, fragte Adalbert etwas verdutzt.

„Nein, so ist das leider nicht. Nach der letzten Metamorphose können wir uns nur an vage Empfindungen und Emotionen unserer früheren Leben als Tier oder Pflanze erinnern, aber bedauerlicherweise an keine Einzelheiten. Lediglich das erste Leben als Elf ist uns noch so in Erinnerung, als wenn wir erst gestern unseren Wechsel erlebt hätten. Daher können wir nicht mit Bestimmtheit wissen, was wir in den Zwischenleben tatsächlich von unserer Umwelt und den anderen Lebewesen mitbekommen.

Soweit ich weiß, hat es noch nie zuvor einen direkten Gedankenaustausch zwischen einem Wandler und einem Elfen oder gar einem Menschen gegeben. Das ist etwas Einzigartiges und daher von ganz besonderem Wert.

Aber wie schon gesagt, ich war immer davon überzeugt, dass mich Tork verstehen konnte. Nun lieferst du mir dafür den Beweis. Ich bedaure es nur, dass er nicht mit mir auf diese Weise in Verbindung treten konnte wie mit dir. Ich beneide dich um diese seltene Gabe, die du besitzt.“

Jordills Worte klangen traurig, aber keinesfalls neidisch.

Kurz darauf drängelte er: „Nun spann mich nicht länger auf die Folter, sondern sage mir endlich, was er dir mitgeteilt hat. Was waren seine letzten Worte? Sie könnten vielleicht wichtig für uns und unser weiteres Vorhaben sein!“

„In dem Moment, als ich dachte, dass mich der untote Wolf gleich zerfetzen würde, drangen Torks letzte Worte so klar zu mir hindurch, wie unser Gespräch in diesem Moment“, begann sich Adalbert an die letzten Worte des Keilers zu erinnern. „Er sagte Folgendes: Ich werde leider nicht mehr an deiner Seite sein können, um dich zu beschützen. Meine Reise endet hier, noch bevor ich die Ehre der Schlussmetamorphose erlangen werde. Ich möchte dich bitten, meinem geliebten Volk den Abschiedsgruß zu überbringen und sage meinen drei Neffen, dass ich sehr stolz auf sie bin und sie sehr liebe.

Adalbert musste kurz innehalten, so sehr bewegte ihn die Erinnerung an Torks letzte Worte. Jordill schossen Tränen aus den Augen und liefen leise über seine markanten Wangenknochen und an seinem Kinn hinunter. Mit einer Handbewegung forderte er Adalbert auf, fortzufahren.

Die Lorhdrachin Murwirtha kann manchmal sehr launisch und unfreundlich erscheinen. Habe einfach etwas Geduld und bestell ihr einen lieben Gruß von mir, dann wirst du ihre volle Aufmerksamkeit bekommen, denn wir kannten uns einst gut.

Ich möchte dir noch einen weiteren Tipp geben. Deinen Geistdrachen wirst du nicht hier im Eisgebirge, sondern nur in der geheimen Adlerhöhle finden, wenn du dich … hier endeten die Worte aus meinem Traum, die ich erst später verstand, und ich erwachte mit dem Blick in diese schrecklichen, wässrig blauen toten Augen des Narsokk-Wolfs“, beendete Adalbert seine Erzählung.

„Mein Onkel kannte die edle Lorhdrachin!“, wunderte sich Jordill. Er hatte sich wieder etwas gefangen und weinte nicht mehr. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen, was bisher tief verborgen gewesen war. „Wie konnte ich das bloß vergessen, mein Onkel Torkdill war früher ja auch ein Mitglied des Drachenrates! Wie ich aus dem entnehme, was er dir im Traum erzählt hat, stand er der ehrenwerten Lorhdrachin Murwirtha irgendwie nahe, warum sonst hätte er dir gesagt, dass du sie von ihm grüßen sollst? Wie tragisch, dass Tork nicht mehr dazu kam, dir den genauen Ort zu nennen, wo sich diese geheime Adlerhöhle befindet.“

Erneut schweigend stiegen sie der einbrechenden Nacht entgegen.

Dracheneid

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