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Kapitel 9 Der große Weiße
ОглавлениеKronglogg machte sich große Sorgen um Adalbert, der die tückischen Gefahren des Eisgebirges nicht kannte. Der Zwerg wollte nur so schnell wie möglich zu seinem Freund aufbrechen, um ihm mit seinen einzigartigen Ortskenntnissen zur Seite zu stehen.
Die seelische Verletzung, die er durch den ungewollten Ritt auf dem Drachenrücken davongetragen hatte, ließ ihm ebenfalls keine Ruhe. Selbst die versöhnlichen Worte des Elfenkönigs Erithjull konnten daran kaum etwas ändern. Sicherlich hatte der Zwerg verstanden, dass er es wohl nicht mehr rechtzeitig zu den Elfenheilern geschafft hätte, hätten ihn seine Freunde Merthurillh und Adalbert nicht mit einer frechen List überrumpelt, aber sein Zwergenstolz konnte nicht mit dem Wissen umgehen, von einem Drachen getragen worden zu sein. Es ärgerte ihn selbst am meisten, dass er hier nicht über seinen Schatten springen konnte, aber von Kindesbeinen an hatte man ihm eingetrichtert, dass sich ein gesunder Zwerg niemals tragen ließ. Doch an diesem Punkt konnte der Elfenkönig etwas Einsicht erzielen, denn Kronglogg war ja kein gesunder Zwerg gewesen.
„Du musst deinen treuen Freunden ihre List verzeihen, denn ohne sie wärst du bereits an der Tafel des großen Axtschwingers“, sprach der König gerade.
„Was wäre daran so schlimm? Es gibt nichts Ehrenvolleres für einen ordentlichen Zwerg, als nach einem heldenhaften Kampf in die heiligen Zwergenstollen einzufahren und an der weiten Tafel des großen Axtschwingers seinen Platz einnehmen zu dürfen“, antwortete ihm der Zwerg knurrig.
„Wäre dir dein Tod also lieber gewesen, als mit deinen treuen Weggefährten und Freunden weitere Abenteuer erleben zu dürfen, von denen noch künftige Zwergengenerationen ihren Kindern erzählen werden?“
„Alles papperlapapp! Ich bin kein kleiner Zwerg mehr, dem man mit solchen Reden kommen muss“, unterbrach ihn Kronglogg mürrisch.
Erithjull schmunzelte heimlich, denn er kannte seinen Freund nur zu gut. Einerseits wusste Kronglogg, das ihn seine Freunde vor dem sicheren und äußerst schmerzhaften Tod bewahrt hatten, doch andererseits konnte oder wollte er noch etwas mit seinem Schicksal hadern. So war er eben.
„Deine Erfahrung und deine Weitsicht werden dringend am Hof in Kronenberg benötigt“, erwiderte der Elfenkönig.
„Was bitte soll ich denn bei diesem ignoranten Menschenkönig Ekleweif? Der denkt doch nur an sich und macht keinen Hehl daraus, dass er jeden Zwerg, jeden Elfen und alle Drachen hasst. Ihn interessiert doch nur, wie er noch mehr Steuern aus seinen Untertanen herauspressen kann, um sich seinen kostspieligen Lebensstil leisten zu können. Ekleweif schert sich nicht im Geringsten um das Wohl des Drachenlandes. Jede Bemühung, mit ihm zu reden, ist bereits im Vorfeld zum völligen Scheitern verurteilt!“, protestierte Kronglogg, der die Einsamkeit des Eisgebirges dem überlaufenen und hektischen Hofleben in Kronenberg vorgezogen hätte.
„Ich stimme dir zu, König Ekleweif ist nicht die beste Wahl für unser Land. Aber trotzdem ist dieser Besuch enorm wichtig, denn ohne die Unterstützung der Menschen werden wir im Ernstfall nicht viel gegen Snordas’ Horden ausrichten können. Außerdem ist kein Gespräch jemals überflüssig, denn man weiß nie, welche Ohren für das eigene Anliegen offen stehen“, schloss Erithjull seine Rede.
„Denkst du dabei etwa an Ekleweifs jüngeren Bruder Norman? Das ist doch noch ein völliger Grünschnabel, auf den wir nicht zählen brauchen. Auch die Königsmutter, die ehrenwerte Lady Kassandra, hat schon lange nicht mehr die Macht, die sie früher einmal hatte“, gab Kronglogg zu bedenken.
„Wir wissen natürlich nicht, wer uns tatsächlich zuhören wird, aber am Hof in Kronenberg gibt es auch noch eine Menge ehrenhafter Ritter und viele tüchtige Kaufleute, die nicht immer mit den Entscheidungen ihres Königs einverstanden sind. Ich möchte natürlich nicht, dass wir dort am Hof Zwietracht säen, aber wir sollten den Menschen von unseren Erlebnissen der letzten Zeit berichten und ihnen unsere Einschätzung der momentanen Lage nicht vorenthalten.“
Kronglogg dachte über die Worte des Königs nach, zwirbelte nachdenklich an seinen buschigen Augenbrauen und stimmte Erithjull schließlich mit einem Kopfnicken zu.
***
„Hörst du ihn schon?“, fragte Jordill Adalbert, als sie gerade ihr karges Abendmahl einnahmen.
„Wen soll ich hören?“, wollte Adalbert überrascht wissen.
„Da kommt unser lieber Torgorix. Wenn du dich ganz stark auf den Flügelschlag konzentrierst, kannst du irgendwann alle Drachen voneinander unterscheiden. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Flugstil und damit auch seinen eigenen, unverkennbaren Klang. So erkennst du beispielsweise den alten Drachen Rostorrh an einem harten Flügelschlag, wohingegen der Klang der flinken Lady Zaralljah eher an einen Peitschenklang erinnert. Torgos Flügelschlag klingt noch sehr unbeholfen, irgendwie ledern. Kannst du ihn jetzt hören?“
„Torgo klingt immer wieder gut. Das gefällt mir“, entgegnete Adalbert und konzentrierte sich nun seinerseits auf das angekündigte lederne Schlagen des jungen Drachen. Da der Fuß ihres Berges längst in stumme Dunkelheit getaucht war und ihm der Blick ins unter ihnen liegende Tal nichts nutzte, strengte der Junge seine Ohren noch etwas mehr an. Tatsächlich konnte er jetzt ganz leise etwas hören, das so ähnlich klang, wie wenn eine Magd Lederlappen auf den nassen Boden schlug. Adalberts Miene hellte sich auf, als er immer deutlicher hören konnte, wie sich ihnen ihr junger Drachenfreund näherte.
„Da seid ihr ja!“, rief Torgorix, als Adalbert endlich dessen undeutliche Konturen aus der Dunkelheit emporsteigen sah.
„Wenn ihr nur ein paar Schritte weiter nach oben steigt, kommt ihr zu einer kleinen Plattform, auf der ich landen kann“, rief er ihnen noch zu, dann schoss er senkrecht an ihnen vorbei, dem Gipfel entgegen.
Die beiden packten rasch ihre Sachen zusammen und folgten Torgorix, der längst nicht mehr zu sehen war. Adalbert wünschte sich sehnlichst, auch fliegen zu können, dann würde er nicht mehr so viel laufen müssen und käme wesentlich schneller voran. Welche Möglichkeiten sich wohl auftun würden, wenn er ähnlich den Drachen in den Himmel steigen könnte?
„Wach endlich aus deinen Träumen auf, Adalbert. Du musst dich unbedingt auf den schwierigen Weg konzentrieren, sonst stürzt du uns noch ab und diesmal ist kein Adler in der Nähe, der durch seinen schrillen Warnschrei Merthurillh herbeirufen kann wie damals am Krähenpass“, ermahnte ihn der Elf lächelnd.
Keuchend kamen sie schließlich oben an.
„Wisst ihr eigentlich, dass ein großer weißer Wolf hinter euch herläuft? Eine ganze Weile habe ich ihn aus der Luft beobachtet. Als ich mir sicher war, dass er tatsächlich eurer Spur folgte, habe ich versucht, ihn zu verjagen. Er ließ aber nicht locker, selbst als ich ihn mit einem Feuerstoß zu vertreiben versuchte, jaulte er nur kurz auf, ließ sich aber nicht beirren. Irgendwie habe ich seine Hartnäckigkeit bewundert. Dann habe ich ihn alleine gelassen, denn er kann euch ja nichts tun, wenn ich in eurer Nähe bin“, erklärte Torgorix leicht angeberisch.
„Oh Torgorix, du dummer Tölpel! Du hast unseren Retter, den mutigsten aller Ijsvargs angegriffen! Ich hoffe nur, dass du ihn nicht schwer verletzt hast. Er folgt uns, um Adalbert zu beschützen“, rief Jordill verärgert.
„Oje, das habe ich nicht gewusst. Ich bin doch wirklich zu nichts zu gebrauchen. Ich wollte euch nur helfen. Überall mache ich mich entweder lächerlich oder ich tue etwas, das völlig falsch ist.“
In der Stimme des Drachen schwangen nun ehrliche Traurigkeit und Resignation mit.
„Das konntest du doch nicht wissen, lieber Torgorix“, versuchte Adalbert seinen einstigen Schützling etwas zu trösten. „Wie weit ist der Ijsvarg denn von uns entfernt?“
„Nur ein kleines Stück bergabwärts. Wenn du möchtest, werde ich zu ihm fliegen und nachsehen, wie es ihm geht.“
„Nein, das werde ich lieber selbst tun. Wenn er dich sieht, könnte es sein, dass er vielleicht doch noch wegläuft. Ich werde mal schauen, ob ich ihn finde. Vielleicht lässt er sich von mir helfen“, hoffte Adalbert.
Jordill wollte sich seinem Freund anschließen, doch der junge Anführer ließ das nicht zu. Er wollte den verletzten Wolf alleine aufsuchen, sich ihm so weit wie möglich nähern und ihn in dieser Nacht nicht alleine lassen. Adalbert hoffte, dass er das Glück haben würde, heute über den Wolf zu wachen. Er wusste zwar, dass er sich beim Wolf für seine Rettung nicht durch Taten oder Worte bedanken konnte, aber vielleicht würde dieser erkennen, dass ihm Adalbert mit dieser Geste etwas zurückgeben wollte. Schnell nahm er seine Tasche und lief vorsichtig in die stockfinstere Nacht.
„Sei mir bitte nicht böse, dass ich eben so unfreundlich zu dir war. Ich wollte dich wirklich nicht beleidigen. Du konntest ja nicht wissen, dass uns der weiße Wolf vor den grässlichen Narsokk-Wölfen retten wollte, bevor er unglücklicherweise von Pfeilen der Kapuzenmänner getroffen wurde, die ihn auch für einen angreifenden Wolf hielten“, entschuldigte sich Jordill bei dem Drachen und berichtete anschließend, was sich alles ereignet hatte, seit dieser zur Drachenschule geflogen war. Torgorix war entsetzt, als er von dem grausamen Tod Torks hörte.
Adalbert konnte seine eigenen Hände vor Augen nicht sehen, so dunkel war diese eisige Nacht. Der weite Himmel über ihm war komplett mit pechschwarzen Gewitterwolken verhangen, aus denen hier und da ein vereinzelter Blitz zur Erde hernieder schoss. Nur in diesen kurzen Augenblicken konnte er zumindest für einen winzigen Moment einen flüchtigen Eindruck von der steilen Felswand erhaschen, die er vorsichtig hinabstieg, in der stillen Hoffnung, bald auf den mutigen Ijsvarg zu treffen. Adalberts Gedanken kreisten nur noch um den Wolf. Hoffentlich würde er ihn finden und insgeheim hoffte er, dass dieser sich von ihm berühren ließe.
Je weniger er sehen konnte, umso mehr konzentrierte sich Adalbert auf seine neu gewonnenen Fähigkeiten. Dabei schloss er oft seine Augen und vertraute vollkommen seinem Tast- und Orientierungssinn. So war er bereits eine Weile unterwegs, als unmittelbar neben ihm laut krachend ein Blitz in einen Felsen einschlug und diesen in der Mitte teilte. Dieser ohrenbetäubende Knall erschreckte Adalbert so sehr, dass er seine Augen weit aufriss. Und da stand der riesige weiße Wolf, nur wenige Schritte vor ihm. Sein Körper war leicht geduckt, als wenn er entweder gleich angreifen oder fliehen wollte. Es schien fast so, als hätte er ihn hier erwartet.
Schnell setzte sich Adalbert auf eine kleine Schneeverwehung, um seine eigene Größe etwas zu verringern. Er wollte dem Ijsvarg damit das beruhigende Gefühl vermitteln, dass er keine Bedrohung für ihn war.
Lange Zeit geschah nichts. Adalbert bewegte sich keinen Fingerbreit, fast so, als wenn er selbst zu einer frostigen Eissäule erstarrt wäre. Doch auch der Wolf stand wie angewurzelt da, kein Muskel rührte sich. Weder der Junge noch der Wolf schienen den nächsten Schritt machen zu wollen. Natürlich wusste Adalbert, dass er aus dieser Entfernung keine Chance hatte, einem plötzlichen Angriff des Wolfs zu entkommen, aber davor fürchtete er sich auch nicht. Vielmehr hatte er Angst, dass es sich der Ijsvarg doch noch anders überlegen könnte und in die Nacht verschwinden würde. Also begann Adalbert, ganz leise eines jener Kinderlieder zu singen, die er noch aus vagen Erinnerungen an seine Mutter kannte.
Natürlich hätte er auch viele andere Lieder singen können, die er von seinem Vater und dem alten Schmied Siegfried gelernt hatte, aber dieses Kinderlied hatte stets einen besonders beruhigenden Einfluss auf ihn gehabt. Adalbert hoffte, dass es auf den Wolf ähnlich wirken würde. Und tatsächlich, der große Weiße machte einen minimalen Schritt auf ihn zu und gab einen kaum wahrnehmbaren Laut von sich, der fast wie ein leises Winseln klang. Der Junge bewegte sich noch immer nicht, aber sein Lied wurde etwas lauter. Der Ijsvarg legte seinen mächtigen Kopf leicht zur Seite und richtete seine beiden Ohren direkt auf den singenden Knaben aus. Als er den nächsten vorsichtigen Schritt tat, fasste Adalbert, immer noch singend, ganz langsam in seinen Beutel hinein und holte etwas Brot hervor, welches er fast beiläufig in die Richtung des Wolfes hielt.
„Komm her, mein Schöner. Ich tue dir nichts. Es ist zwar nur trockenes Brot, aber es kommt von Herzen“, lockte er, als das Lied zu Ende war. Wieder kam der Weiße einen Schritt näher. Trotzdem konnte Adalbert deutlich erkennen, dass die kräftigen Muskeln des Wolfes zum sofortigen Sprung gespannt waren. Auch seine ganze Körperhaltung war etwas tiefer, was der Junge als Unsicherheit deutete, aber die Nase, die nur noch eine knappe Armlänge entfernt war, witterte vorsichtig den Duft des Brotes.
Völlig unerwartet machte der Wolf einen Satz nach vorne, packte mit seinen riesigen Zähnen schnell das Brot und sprang drei, vier Schritte weg, gerade so weit, dass die beiden sich noch eben in der Dunkelheit erkennen konnten. Dort ließ er sich nieder und knabberte prüfend mit seinen Schneidezähnen an dem trockenen Gebäck.
Natürlich hätte sich Adalbert diese erste Kontaktaufnahme nach dem Angriff der Narsokks etwas anders gewünscht, aber es war ein vielversprechender Anfang. Instinktiv spürte er, dass er den Wolf noch in dieser Nacht berühren würde.
Als er sich das Brot geholt hatte, hatte Adalbert deutlich die Wunden erkennen können, die durch die Pfeile der Kapuzenmänner verursacht worden waren. Auch die neue Verletzung durch Torgos Feuer war in diesem Augenblick sichtbar geworden. Hinter dem rechten Ohr und bis zur Schulter war das Fell versengt und die Haut stark verbrannt. Was hatte dieser arme Wolf bloß alles erdulden müssen, seit er Adalbert folgte!
„Trau dich bitte zu mir, ich möchte mir deine Verletzungen gerne einmal ansehen. Ich habe eine Salbe dabei, die ich meinem Freund Merthurillh auf seine Wunden geschmiert habe. Sie hat ihm gut geholfen, also warum sollten wir es bei dir nicht auch versuchen?“ lockte der Junge den Ijsvarg.
Er wusste natürlich, dass ihn dieser nicht wirklich verstehen konnte, hoffte aber, dass die leise gesprochenen Worte eine nächste Annäherung herbeiführen würden. Doch der Wolf blieb auf Abstand, bis Adalbert schließlich einschlief.