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Kapitel 1 Ein großer Schreck

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Das weite Drachenland war noch in eine besonders ruhige und dunkle Nacht gehüllt, als Adalbert von Tronte schweißgebadet aus einem Alptraum erwachte. In seinen schlimmen Träumen durchlebte er wieder und wieder die grässlichen Erlebnisse und Qualen seiner Gefangenschaft im düsteren Ostland. Nur mit viel Glück und durch die Heldentat des Zwergenkönigs Zarvodd, der sein eigenes Leben gegeben hatte, um Adalbert und seine Gefährten zu retten, war ihnen die Flucht vor den Peinigern des bösartigen Druiden Snordas gelungen.

Noch immer mit den schrecklichen Erinnerungen seines Albtraums beschäftigt stand Adalbert verschlafen auf und suchte die Nähe zu seinem Drachenfreund Merthurillh. Plötzlich hatte er den Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmte. Zuerst konnte er sich nicht erklären, woher dieses beklemmende Gefühl kam, doch es sollte nicht lange dauern, bis er erschreckt feststellte, dass er weder das tiefe Schnarchen des Drachen noch sonst irgendein Atemgeräusch hören konnte. Merthurillh lag völlig regungslos da.

„Merthurillh!“, schrie Adalbert verzweifelt. Besorgt legte er sein Ohr an die mächtige Brust des goldenen Drachen, doch er konnte keinen Herzschlag wahrnehmen.

„Merthurillh, wach doch bitte auf!“, flehte er seinen leblosen Freund erneut an. Vor lauter Sorge schrie er dieselben Worte noch lauter, doch der goldene Drache regte sich nicht. Weder die Schreie noch das kräftige Schütteln des Jungen konnten daran etwas ändern.

„Beim großen Axtschwinger, was ist denn hier los?“, knurrte Kronglogg verschlafen. Seit er wieder an der Drachenschule war, teilten sie sich die Höhle zu dritt, wobei sich der Zwerg vorbildlich um die zahlreichen Verwundungen und um die teils recht übelriechenden Zahnzwischenräume seines alten Drachenfreundes kümmerte.

„Merthurillh ist tot!“, schluchzte Adalbert mit Tränen in den Augen.

„Nun mal ganz langsam, mein junger Freund. So schnell stirbt ein halbwegs gesunder Drache nicht. Ich werde ihn mir mal etwas genauer ansehen.“

Kronglogg trat an den leblosen Körper Merthurillhs heran und untersuchte ihn ausgiebig. Doch auch er wurde zunehmend nervöser und Adalbert erkannte voller Entsetzen, dass der Zwerg zu dem gleichen Ergebnis kam wie er. Kronglogg schüttelte betrübt den Kopf und wischte sich verlegen ein paar Tränen aus den Augen. Nun konnte sich der Junge nicht mehr zurückhalten, er warf sich dem toten Drachen, der inzwischen wie ein Vater für ihn geworden war, an die Brust und weinte.

„Du kannst mich doch nicht alleine lassen! Wir müssen doch nach Rorgath suchen, um deinen Sohn zu retten!“, flehte er seinen Freund verzweifelt an.

Von Adalberts Schreien angelockt, eilten die drei Elfenbrüder Trulljah, Maradill und Jordill herbei. Maradill erkannte die Situation am schnellsten und untersuchte den leblosen Drachenkörper.

„Nicht auch noch du, mein lieber Freund!“, murmelte Jordill erschüttert, als er neben Adalbert auf die Knie sank. „Es können doch nicht all meine Helden sterben! Zuerst Antharill, dann der Zwergenkönig Zarvodd und jetzt auch noch du! Das geht doch nicht!“

„Ich fühle keinen Puls mehr! Ich befürchte, unser Freund ist für immer von uns gegangen und zu seinen Ahnen am nächtlichen Himmelszelt aufgestiegen!“, teilte Maradill den anderen traurig mit, nachdem er Merthurillh gründlich untersucht hatte.

Trulljah reagierte am schnellsten und wandte sich an seinen Bruder: „Jordill, hol Lady Sintarillh! Ich wüsste nicht, wer Merthurillh sonst noch helfen könnte.“

Nur wenige Augenblicke später stürmte die schöne Drachenlady in die Höhle und stupste Merthurillh mehrfach prüfend mit der Schnauze an. Dann ging sie zu seinem Kopf. Wie schon damals am Krähenpass presste sie nun ihre Stirn gegen die von Merthurillh. Zwischen ihnen kniete Adalbert, der seinen Freund nicht so einfach gehen lassen wollte. Plötzlich vernahmen alle ein tiefes und befreiendes Durchatmen der lindgrünen Drachin.

„Ich habe eine gute Nachricht. Unser lieber Freund ist nicht tot! Die Aufregungen der letzten Tage und Wochen waren einfach zu viel für ihn. Wenn wir Drachen durch intensive körperliche oder seelische Schmerzen zu sehr gequält werden, fallen wir manchmal in einen besonders tiefen Schlaf. Diesen Heilschlaf kann man sehr leicht mit dem Tod verwechseln, denn dabei verfällt der ganze Körper in eine heilende Starre.“

„Aber sein Herz schlägt doch nicht mehr!“, unterbrach sie Adalbert mit einem vagen Hoffnungsschimmer in der Stimme.

„Auch das kommt dir nur so vor, mein Junge. Sein Herz schlägt noch, aber in sehr großen Abständen. Sein Unterbewusstsein steuert die Herzfrequenz so, dass ein Mindestmaß an Blut durch seinen Körper gepumpt wird und er nicht stirbt.“

„Dann ist Merthurillh also nicht tot?“, fragten Adalbert und Jordill gleichzeitig.

„Ich kann euch alle beruhigen. Merthurillh ist auf dem besten Wege, möglichst schnell wieder richtig gesund und stark zu werden. In zwei bis drei Tagen wird er völlig erholt erwachen. Aber ihr könnt euch gerne selbst davon überzeugen, dass er noch lebt.“

Sie forderte Maradill auf, mit seinem Messer vorsichtig eine der stark durchbluteten Flügeladern Merthurillhs zu öffnen. Der Elf sah sie nur fragend an.

„Mach ruhig. Ihr werdet sehen, dass das Blut noch langsam fließt und die Wunde sich sofort schließt.“

„Aber das tut Merthurillh doch weh!“, protestierte Adalbert.

„Nein. Er wird davon bestimmt nichts spüren und ihr werdet die Gewissheit haben, dass es eurem Freund gut geht.“

„Wenn mein dicker Drache schon aufgeschlitzt werden muss, dann aber bitte nur durch mich! Schließlich habe ich mit dem Draggen ja noch eine alte Rechnung offen!“, sagte Kronglogg bestimmt. Er nahm es Merthurillh und Adalbert immer noch übel, dass die beiden ihn vor einiger Zeit mit seinem eigenen Kochtopf betäubt und dann, auf dem Rücken des Drachen festgebunden, zum Elfenwald gebracht hatten, um sein Leben zu retten. Allein bei der Erinnerung an dieses unrühmliche Erlebnis musste sich Kronglogg angewidert schütteln. Er blickte kurz zu Adalbert, der ja schließlich der Topfschwinger gewesen war, und versuchte dabei möglichst streng zu schauen, was ihm aber nicht wirklich gelang. Anschließend bemühte er sich, auf den Zehenspitzen stehend, an den Flügel des Drachen heranzukommen. Doch ganz gleich, wie sehr er sich auch reckte und streckte, er war einfach zu klein. Trulljah schob ihm lächelnd eine Kiste zu.

„Was gibt es denn da zu grinsen?“, knurrte der Zwerg in der ihm typischen mürrischen Art. Unter stillem Protest stieg er dann auf die Kiste und öffnete sehr behutsam eine deutlich hervortretende Ader, die Maradill ihm vorgeschlagen hatte.

„Die hätte ich auch genommen!“, murmelte Kronglogg dabei.

Tatsächlich, ein kaum erwähnenswertes, schwaches Rinnsal des warmen Drachenblutes floss aus dem winzigen Schnitt, der sich gleich darauf wieder schloss. Adalbert streichelte liebevoll die Wunde, wischte das wenige Blut seines Freundes behutsam ab und ging danach zu Merthurillhs Kopf. Er packte den Drachen bei den Hörnern und hätte ihm am liebsten einen dicken Kuss auf die Nüstern gedrückt, wenn er sich dabei nicht selbst zu kindisch vorgekommen wäre.

Nachdem sich nun die Aufregung etwas gelegt hatte, forderte Sintarillh alle auf, gemeinsam frühstücken zu gehen und dem goldenen Drachen seine wohlverdiente Ruhe zu gönnen.

In der großen Speisehalle herrschte bereits reges Treiben. Es hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass Merthurillh in den Heilschlaf gefallen war. Der weiße Lorhdrache Okoriath forderte Adalbert mit einer einladenden Geste auf, direkt neben ihm an seinem Tisch Platz zu nehmen.

„Guten Morgen, mein Jungritter Adalbert von Tronte. Ich vermute, die heutigen Ereignisse haben dich ganz schön aus der Bahn geworfen.“

Adalbert nickte zustimmend und stellte fest, dass ihm die Anrede als Jungritter sehr gut gefiel.

„Wie fühlst du dich denn?“

„Der Schreck war groß, aber jetzt geht es mir schon deutlich besser und ich bin einfach nur noch froh. Eure Tochter Sintarillh hat uns erklärt, dass Merthurillh nicht tot ist, sondern nur in den Heilschlaf gefallen ist.“

„Ich wusste gleich, dass meinem dicken Herumtreiber nichts passiert sein konnte!“, mischte sich Kronglogg in das Gespräch ein und setzte sich mit den Elfenbrüdern zu ihnen.

Der Junge versuchte krampfhaft, sich nicht anmerken zu lassen, dass er bei diesen Worten am liebsten laut losgelacht hätte. Er hatte den Zwerg längst durchschaut, aber das wollte er ihm nicht zeigen. Kronglogg war mindestens genauso um Merthurillh besorgt gewesen wie Adalbert. Warum sonst hatte er den heilkundigen Elfen Maradill daran gehindert, die Ader zu öffnen, und dann selbst äußerst behutsam den Beweis dafür erbracht, dass der Erste Drachenritter des Rates noch am Leben war?

„Gleich nach dem Frühstück werden wir uns alle zu einer Ratsbesprechung zurückziehen, denn der ehrenwerte König Erithjull muss uns leider noch heute Abend verlassen“, sagte der Lorhdrache in die Frühstücksrunde.

„Aber Euer Erster Ritter Merthurillh schläft doch noch“, wandte Adalbert ein.

„Glaube mir, ich würde gerne auf Merthurillh warten, aber Erithjulls bevorstehende Abreise und interessante neue Erkenntnisse unseres Historikers Olstaff lassen mir keine andere Wahl. Wir müssen noch heute darüber sprechen. Das wäre auch in Merthurillhs Interesse.“

„Kann ich irgendetwas dazu beitragen, dass Merthurillh etwas schneller gesund wird und wieder aufwacht?“

Adalbert hatte die Frage zwar an den Lorhdrachen Okoriath gerichtet, bekam die Antwort aber von der ersten Drachenlady Coralljah, die den Jungen schon die ganze Zeit mit seltsamen Blicken gemustert hatte.

„Weißt du, mein lieber Adalbert, du bist für unsere Schule zu einer echten Bereicherung geworden. Du zeichnest dich nicht nur durch deine ehrlichen Worte, sondern noch mehr durch deine guten Taten aus. So hast du es geschafft, die äußerst gefährliche Aufgabe erfolgreich zu meistern, das verlorengegangene Horn von Fantigorth zurückzubringen. Und du hast dabei unbewusst dafür gesorgt, dass dich jeder hier an der Drachenschule in sein Herz geschlossen hat. Deine Liebe zu Merthurillh ist etwas ganz Besonderes. Vertrau mir, wir werden uns bestens um seine Pflege kümmern. Gerade in diesem Moment ist die heilkundige Sintarillh bei ihm und kümmert sich um sein Wohl. Du hast doch schon zuvor am Krähenpass gesehen, dass sie eine wirkliche Könnerin ist, die eine Menge von ihrem schweren und geheimnisvollen Fach versteht.

Nach unserer Ratsbesprechung möchte ich mit dir endlich zu der Stelle gehen, an der sich dir die alten Runen offenbart haben. Es muss doch einen Grund dafür geben, warum du sie sehen konntest. Ich glaube nicht an einen puren Zufall, sondern bin davon überzeugt, dass es einen ganz besonderen Grund dafür gab. Nennen wir es eine Vorbestimmung, die mich ahnen lässt, warum das Horn genau an dieser Stelle so seltsam reagiert hat, den Stollen in dieses unheimliche grüne Licht gehüllt hat und gleichzeitig dein Geistdrache genau dort den Kontakt zu dir gesucht hat. Diesem Mysterium sollten wir unbedingt auf den Grund gehen! Ich kann es dir zwar nicht erklären, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es irgendwie mit deiner Suche nach deinem Geistdrachen zusammenhängt. Aber selbst wenn das nicht so sein sollte, muss ich unbedingt erfahren, welches Geheimnis diese alten Drachenrunen seit so langer Zeit unbemerkt verborgen halten.“

„Lady Coralljah, ich weiß doch gar nicht, ob ich die genaue Stelle wiederfinden werde und ob das Horn dort auch wieder sein grünes Licht freigeben wird. Vielleicht reagiert es gar nicht und wir werden nichts erkennen können.“

„Wir werden sehen, was geschehen wird. Sei doch etwas zuversichtlicher, mein junger Adalbert. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass du die Stelle wiederfinden wirst. Wenn wir im Stollen sind, werden wir die genaue Situation nachstellen, die zu diesem besonderen Ereignis geführt hat. Also sollten wir die drei Elfenbrüder und das Horn mitnehmen.“

Adalbert hoffte, dass die Drachenlady Recht behalten würde. Bei dem Gedanken, an der bevorstehenden Ratsrunde ohne seinen Drachenfreund teilzunehmen, fühlte er sich unwohl, denn er konnte sich nicht vorstellen, ganz alleine in Merthurillhs Loge zu sitzen.

Mach dir keine Gedanken, Adalbert. Es ist bestimmt in Merthurillhs Sinne, dass wir unter diesen Gegebenheiten den Rat einberufen, ohne dass er anwesend ist. Außerdem wird es sicherlich noch genügend Möglichkeiten geben, ihn über das Besprochene zu informieren.

Die Stimme des Lorhdrachen erklang direkt in Adalberts Kopf. Schon wieder hatte er seine Gedanken gelesen. Doch der Junge war ihm nicht wirklich böse, da seine Worte ihn tatsächlich etwas beruhigt hatten. Er schmunzelte nur leise lächelnd und schüttelte ungläubig den Kopf. Okoriath konnte es einfach nicht lassen, in die Gedanken anderer einzudringen.

Entschuldige bitte, ich weiß, du magst es nicht, wenn ich auf diese Weise Kontakt mit dir aufnehme. Aber glaube mir, ich arbeite schon an mir, kam die Antwort auf Adalberts Kopfschütteln in seinen Gedanken. Dem Jungen war völlig klar, dass der Lorhdrache niemals der lockenden Versuchung würde widerstehen können, in die Köpfe anderer einzutauchen.

Völlig unerwartet hielt jemand Adalbert von hinten die Augen zu. Sofort wurde er an seinen Elfenfreund Antharill erinnert, wie dieser ihn damals davor bewahrt hatte, blind vor Wut in die Arme der Trolle zu laufen. Als er so die Hände auf seinen Augen fühlte, stiegen schöne und gleichzeitig auch sehr traurige Erinnerungen in ihm hoch. Trotzdem wusste er, dass jemand jetzt und hier darauf wartete, von ihm erraten zu werden.

„Das kann nur die kleine, freche und süße Biggi sein!“

„Ich bin nicht klein!“, antwortete das Mädchen kess, als es seine Hände von Adalberts Augen nahm.

„Das stimmt, du bist schon richtig groß“, stimmte er ihr zu.

„Birgit ist schon beinahe so groß wie Kronglogg. Im nächsten Jahr wird sie ihn bestimmt schon überholt haben!“, fügte Jordill lächelnd hinzu.

„Auf die körperliche Größe kommt es doch überhaupt nicht an!“, brummte Kronglogg. „Dass ihr Elfen und Menschen euch immer so viel auf eure Länge einbildet. Ein prächtiger Zwerg kann viel größer sein, als beispielsweise der längste Mensch!“

Als Kronglogg keine Widerworte hörte, nickte er zufrieden.

„Komm, setz dich zu mir und frühstücke mit uns“, forderte Adalbert Biggi liebevoll auf und zog ihr einen Stuhl heran. Das ließ sich das Mädchen natürlich nicht zweimal sagen.

Dracheneid

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