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XI

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Auf dem Weg zum Polizeiwagen machte Damp seinem Unmut Luft. „Ich muss Sie bitten, die Insel nicht zu verlassen“, äffte er seinen Kollegen nach. „Melden Sie sich bitte, bitte, bitte, morgen um neun Uhr im Revier ... Und wie sollen wir verhindern, dass die Seige nicht doch abhaut? Wollen Sie sich an jede Fähre stellen, Herr Rieder? Schwachsinn! Wir hätten sie einbuchten sollen! Und nach Bergen bringen, ins Untersuchungsgefängnis.“

„Auf welcher Grundlage bitte?“, raunzte Rieder zurück. „Haben wir einen Beweis, dass sie Stein erschlagen hat?“

Damp blieb stehen. Sein mächtiger Körper pumpte. Offenbar wollte er einen Wutausbruch verhindern und sich zur Ruhe zwingen. Es gelang ihm halbwegs. „Und welchen Beweis haben wir, dass Frau Seige es nicht getan hat?“

Ohne ein weiteres Wort marschierten die beiden zum Polizeiauto. Beim Einsteigen ließen sie die Türen knallen.

„Wohin jetzt?“, fragte Damp.

Keine Antwort. Rieder starrte durchs Seitenfenster. Damp durch die Windschutzscheibe. Mehr als der heftige Atem der beiden Männer war nicht zu hören.

Gut zwei Minuten vergingen, dann ließ Damp den Wagen an und fuhr los. Sie rollten im Schritttempo durch Süderende. Rieder fiel jetzt zum ersten Mal auf, wie viel auf der Insel gebaut wurde. Gleich links stand der Rohbau eines Hauses. Die Baustelle wirkte allerdings verlassen. Die einst weißen Bausteine waren schon angegraut. Vielleicht war dem Bauherren das Geld ausgegangen. Etwas weiter, an der Wegkreuzung zur Gaststätte „Feuerstübchen“, wurden mehrere neue Häuser gebaut. Ein Schild warb um Käufer für Ferienwohnungen. Bauleute waren nicht zu sehen, aber zwischen den Häusern entdeckte Rieder einen blauen Bauwagen. Schräg zog sich der Schriftzug „Inselbau Stein“ über die Seitenfläche. Statt eines i-Punktes war über dem Namen eine Möwe gemalt. Kurz vor der Kreuzung am alten Ostseehotel gab es linkerhand ein eingestürztes Haus. Oben am Giebel war noch das Wort „Papierwaren“ zu erkennen. Die alten Schaufenster waren gesprungen. Auch da stand ein Bauwagen von Steins Firma, daneben ein riesiger Container, in dem sich Mauerstücke und zerborstene Balken türmten. Auch dort war niemand.

„Lassen Sie uns mal am Schuppen der Firma ‚Inselbau‘ im Hafen vorbeifahren.“

Damp bog nach rechts in den Wallweg ab und fuhr zum Hafen. Oben auf der Deichkrone blieb er stehen und deutete nach links: „Da ist es.“

Ein verwitterter alter Holzschuppen stand dort zwischen einem Wust aus Plastiktonnen, Stapeln von Holzbrettern, Abfallbergen aus Schutt.

„Früher gehörte das Gebäude der Fischereigenossenschaft. Aber nachdem es mit der Fischerei bergab ging, hat es Stein übernommen.“

Rieder stieg aus dem Wagen. Er wollte sich die Sache näher ansehen.

Damp leierte sein Seitenfenster runter. „Da ist jetzt keiner. Mittagspause. Von zwölf bis drei darf kein Krach gemacht werden. Steht übrigens auch in der Inselordnung.“

Rieder ließ sich nicht aufhalten. Er lief zum Eingang des Schuppens im Hafen, rüttelte an der Tür. Er schaute durch die verstaubten Fenster, konnte aber keine Menschenseele entdecken. Damp war ihm gefolgt.

„Was ich gesagt habe. Mittagspause.“

Rieder merkte, wie schon wieder der Ärger in ihm aufstieg, weil Damp nun noch Recht behalten sollte.

„Was gibt’s?“, rief jemand.

Rieder und Damp drehten sich um, sahen aber niemanden.

Sie gingen um den Schuppen herum. Dort war der Imbiss und Verkauf der Fischereigenossenschaft. Mehrere Männer saßen dort auf Kisten. Alle trugen beigefarbene Latzhosen mit dem Logo der „Inselbau“, dazu blaue Fischerhemden. Individuell waren nur die Kopfbedeckungen: ausgeblichene Basecaps, zerknautschte Fischermützen und gestrickte Kappen. Alle hatten eine Flasche Bier in der Hand. Der beißende, würzige Rauch aus dem Räucherofen schien sie nicht zu stören.

Die Polizisten gingen auf die Männer zu. Einer mit einer blauen Kapitänsmütze erhob sich.

„Oh, der frisch gebackene Revierleiter und der Columbo aus Berlin“, witzelte einer. Wie im Chor lachten die Männer kurz auf. „Was führt euch denn hierher?“

„Wer sind Sie?“, fragte Rieder den Wortführer.

„Hans Claasen. Ich bin der Vorarbeiter. Also – was wollen Sie? Dass unser Chef tot ist, wissen wir schon.“

„Von wem?“

Statt einer Antwort erwiderte der Vorarbeiter: „Wie heißen Sie? Rieder, nicht wahr?“

„Hauptkommissar Rieder.“

„Hauptkommissar!“, wiederholte Claasen ironisch. „Habt ihr gehört, Leute? Ein Hauptkommissar.“

Diese typische Bauarbeiter-Arroganz war Rieder schon immer auf die Nerven gegangen. Da half erstmal nur schweigen und abwarten, wer als Erster die Nerven verlor. Es war Claasen. „Sie sind doch schon eine Weile auf der Insel. Da müssten Sie doch wissen, dass hier nichts geheim bleibt. Aber wie auch immer. Erstens pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Zweitens war die Chefin da.“

„Die Chefin?“

„Mensch, Frau Stein“, rief Claasen und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, um zu betonen, wie begriffsstutzig er Rieder fand.

„Ich dachte, sie hätte mit dem Geschäft nichts mehr zu tun.“

Schulterzucken von Claasen. „Für uns ist sie immer noch die Chefin. Oder?“, rief er in die Runde. Synchrones Nicken der Männer.

„Dann wissen Sie ja sicher auch, dass Herr Stein ermordet wurde.“ Leichtes Grummeln im Kistenrund.

„Was du nicht sagst, Herr Polizist“, grummelte Claasen weiter.

„Hatte Herr Stein vielleicht Probleme mit jemandem? Gab es Anfeindungen? Zum Beispiel durch verärgerte oder unzufriedene Auftraggeber oder ehemalige Mitarbeiter.“ Claasen verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mit einem Blick in die Runde der Bauarbeiter, der bei jedem schon nur den Gedanken an eine Antwort abtöten sollte. Es gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen der Insel, dass man mit der Polizei nicht redete. Jedenfalls nicht in aller Öffentlichkeit. Konflikte wurden untereinander gelöst. Die Polizei sah man eher als lästiges Beiwerk der Inselobrigkeit.

Alle schwiegen. Vorarbeiter Claasen quittierte es mit einem wohlgefälligen Lächeln und schaute dann auf die Uhr. Er klatschte in die Hand. „Fünfzehn Uhr, Männer. An die Arbeit! Marsch! Marsch!“ Die Bauarbeiter erhoben sich. Sie schenkten Rieder und Damp keine weitere Beachtung. Grußlos gingen sie an ihnen vorbei, schwangen sich auf ihre Räder, die an der Schuppenwand gelehnt standen, und radelten betont gemütlich davon. Damp machte kehrt und lief zurück zum Polizeiwagen. Rieder versuchte es noch mal bei Claasen, als die Männer außer Hörweite waren. „Was war nun mit diesem Dachdecker?“

Claasen baute sich vor Rieder auf. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Griese zwei faselt viel, wenn er genug Fusel intus hat. Verstanden?“

Es hatte keinen Zweck. Rieder folgte seinem Kollegen. Wahrscheinlich wäre es das Beste, diesen Ahrens direkt zu fragen, obwohl er sich nicht viele Hoffnungen machte, dass der Dachdecker gesprächiger wäre.

„Hallo, Herr Rieder!“ Der Polizist drehte sich um. Ulrike Stein, ganz in Schwarz, kam auf ihn zu. Der Rollkragenpullover und die Jeans betonten ihre sportliche Figur. „Gut, dass ich Sie treffe. Ich müsste in Peters Haus. Ich brauche dringend einige Geschäftsunterlagen. Als ich vorhin dort war, klebte ein Siegel der Polizei an der Tür.“

„Haben Sie denn einen Schlüssel?“

„Ja. Peter hatte mir einen gegeben, falls ihm etwas passieren sollte. Ich war seine nächste Angehörige hier auf der Insel.“

„Nein, nein“, beschwichtigte Rieder die Frau. „Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen. Polizistenangewohnheit. Verstehen Sie denn was vom Baugeschäft?“

Ulrike Stein nestelte an ihrer Tasche. „Nicht so viel wie Peter. Aber wenn man mit einem Bauunternehmer so lange zusammengelebt hat wie ich, dann schaut man sich einiges ab. Früher habe ich für ihn auch mal Schriftkram erledigt.“

„Sagt Ihnen der Name Nemzov etwas?“

„Nemzov, Nemzov ...“ Sie schüttelte den Kopf, hielt dann aber ein. „Doch! Der verrückte Russe, der Peters Firma auf Rügen gekauft hat. Der hieß, glaub’ ich, Nemzov.“

„Genau. Wieso verrückt?“, fragte Rieder zurück.

„Ich kriege es nicht mehr zusammen. Aber aus irgendeinem Grund kam er nicht zurück nach Moskau. Ich weiß noch, dass er Offizier gewesen war. Er überwachte irgendwie die Truppentransporte, als die abgezogen sind ... ich krieg’ es nicht mehr zusammen.“

„Wussten Sie, dass Ihr Mann noch 25 Prozent an seiner alten Firma auf Rügen hielt?“

„Nein“, erklärte Ulrike Stein. Rieder hielt das für unglaubwürdig.

„Das soll Ihnen nie aufgefallen sein, wenn Sie, wie Sie sagen, seinen Schriftkram erledigt haben?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Aber das Geld, was Herr Nemzov Ihrem Mann für seinen Anteil überwiesen hat, das muss doch auf dem Geschäftskonto aufgetaucht sein.“

„Mit Geldsachen hatte ich nichts zu tun! Da hatte mein Mann immer die Hand drauf. Ich vertraute ihm. Außerdem sind wir bei den meisten Häusern, die er hier auf Hiddensee gekauft hat, zusammen als Eigentümer im Grundbuch eingetragen.“

„Auch bei dem Grundstück, auf dem das Zeltkino steht?“

„Davon weiß ich nichts. Wieso? Gehört das auch Peter?“ Rieder ließ die Antwort offen.

„Was wird nun aus den Unterlagen? Ich brauche einige Sachen für die laufenden Geschäfte ...“

„Wir brauchen noch etwas Zeit, um alles durchzusehen. Das wird noch etwas dauern. Außerdem muss sich danach vielleicht die Spurensicherung noch das Haus ansehen, wenn uns etwas ungewöhnlich erscheinen sollte. Es haben sich auch einige neue Dinge ergeben, die wir im Haus noch überprüfen müssen.“

„Darf ich erfahren, was Sie damit meinen?“, fragte Ulrike Stein vorsichtig.

Rieder überlegte, wie er sich verhalten sollte. Konnte er Ulrike Stein von Birte Seige erzählen? Der Verdacht könnte sich schnell auf der Insel verbreiten und die junge Frau womöglich gefährden. Mit den Bauleuten von Steins Firma war sicher nicht zu spaßen. „Ich möchte darüber noch nicht sprechen.“

Sie zuckte mit den Schultern und ging ein paar Schritte. Dann drehte sie sich noch einmal um. „Herr Rieder, es wäre schön, wenn es mit den Unterlagen nicht so lange dauern würde. Da hängt einfach Peters Firma dran, und ich fühle mich auch den Leuten verpflichtet. Verstehen Sie?“

Rieder überlegte. „Wie wäre es, wenn uns Ihr Vorarbeiter, Herr Claasen, einfach eine Aufstellung der wichtigsten Projekte macht, an denen die Firma, Inselbau‘ gerade arbeitet. Wir werden dann diese Unterlagen schnell durchsehen, und wenn es keine Probleme gibt, sie ihm oder Ihnen übergeben. So kommen die laufenden Geschäfte nicht ins Stocken.“

„Eigentlich würde ich das lieber selbst tun“, meinte Ulrike Stein, „aber wenn es nicht anders geht. Sie haben auch Ihre Vorschriften. Nicht wahr? Ich werde mit Claasen reden.“

Rieder sah Ulrike Stein nachdenklich hinterher, wie sie im Schuppen der „Inselbau“ im Vitter Hafen verschwand, wahrscheinlich, um Claasen um die Liste der aktuellen Bauprojekte zu bitten.

„Was halten Sie von der Frau?“, fragte er Damp, der die Szene aus einiger Entfernung beobachtet hatte.

„Was soll ich von ihr halten?“

Rieder öffnete die Beifahrertür des Polizeiautos, stieg aber nicht ein.

„Wohin jetzt?“, fragte Damp ungeduldig, der schon eingestiegen war.

„Überprüfen Sie doch bitte erstmal das Alibi von Ulrike Stein. Ich habe noch was zu erledigen.“ Dann schlug er die Autotür zu und ging über den Deich davon.

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