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III

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Die Neugierde hatte Malte Fittkau zu Rieders Haus getrieben. „Mensch, Dora, was machste hier schon wieder für einen Krach?“

„Kümmer dich um deinen eigenen Kram!“, raunzte sie Fittkau an.

Fittkau und Ekkehard waren ebenfalls Nachbarn. Ihre Grundstücke stießen hinter Rieders Haus aneinander. Sie verstanden sich aber nicht besonders gut. Immer wieder gab es Streit. Jetzt ging es um einen umgestürzten Baum. Ein Frühjahrssturm hatte eine Erle auf Doras Grundstück umgeknickt. Der Baum war aber auf Maltes Wiese gekracht und hatte seine Äste in die Wiese gebohrt. Wochenlang war nichts passiert. Dora hatte behauptet, keine Säge zu besitzen, um den Baum zu zerkleinern. Malte hätte eine gehabt, aber sie war zu stolz, ihn zu fragen.

Irgendwann hatte es Malte Fittkau gereicht. Er hatte den Baum zersägt und das Holz in einen seiner zahlreichen Holzschober gestapelt. Das hatte wiederum Dora auf die Palme gebracht. Sie hatte Fittkau wegen Diebstahls angezeigt. Es war Rieder äußerst peinlich gewesen, Malte Fittkau vorzuladen und zu vernehmen. Sein Nachbar hatte geltend gemacht, dass er nach altem Hiddenseer Strandrecht gehandelt hätte. Immerhin wäre der Baum auf seinem Grundstück gestrandet, wie ein Schiff am Strand, und damit sei das Holz nun sein Eigentum. Er würde es auf keinen Fall zurückgeben. Rieder unternahm nun eine Art Pendeldiplomatie zwischen den Grundstücken seiner beiden Nachbarn. Er versuchte einen Kompromiss zu finden. Aber Dora wollte das Holz zurück, und Malte wollte es behalten. Die Fronten waren verhärtet. Beide gingen sich auf der Insel aus dem Weg. Malte benutzte nicht mehr seine Gartenpforte am Wiesenweg, wenn er zum Supermarkt oder zum Strand wollte. Er nahm nun immer den zweiten Ausgang seines Grundstücks an der Sprenge, auch wenn das ein Umweg war. Dora Ekkehard tat es ihm gleich. Auch ihr Grundstück hatte einen Ausgang zum Wiesenweg und zur Sprenge. Eigentlich war es über die Sprenge kürzer, die neu ankommenden Filme bei der Insellogistik im Vitter Hafen abzuholen. Doch nun fuhr sie mit ihrem Fahrrad immer durch den Wiesenweg. Passierte es, dass sie sich an der Kreuzung Wallweg und Wiesenweg begegneten, dann schaute jeder in die entgegengesetzte Richtung. So war ihr Gespräch das erste, das beide seit Monaten miteinander führten.

Rieder kam gerade aus dem Haus, als sich die beiden angifteten. „Ich hoffe, du erstickst an deinen stinkenden Aalen!“, stichelte Dora. Fittkau nahm das Erlenholz zum Räuchern, und Rieder hatte den Verdacht, so ganz ungelegen war ihm der umgestürzte Baum nicht gekommen.

„Da kannst du lange warten. Ich warte immer noch, dass du mir den Schaden auf meiner Wiese bezahlst. Kannst ja die Kinopreise erhöhen, wenn du nicht flüssig bist.“

Rieder ging dazwischen. „Immer mit der Ruhe!“, rief er. Malte und Dora starrten ihn an.

„Können wir los?“, fragte er die Kinofrau.

Sie schwangen sich auf die Räder und fuhren den Wiesenweg hinunter Richtung Rathaus. Für ihr Alter, Anfang siebzig, legte die Kinofrau ein beachtliches Tempo vor. Rieder konnte kaum mithalten. Dora Ekkehard war eine Institution auf der Insel. Seit über vierzig Jahren betrieb sie zwischen Mai und Oktober das Zeltkino auf Hiddensee. Rieder selbst konnte sich noch erinnern, wie er Ende der sechziger Jahre als Kind mit seinen Eltern und seinen Brüdern auf der Insel Urlaub gemacht hatte. Schon damals verkaufte Dora die Karten für das Kino an dem kleinen Holzschalter vor dem großen halbrunden Zelt. Rieder wusste sogar noch den Titel des Films, den er mit seinem Bruder gesehen hatte: „Husaren in Berlin“. Mit Manfred Krug. Doras Gesicht hatte sich ihm eingeprägt. Er hatte sie deshalb sofort wiedererkannt, als er sie das erste Mal als Polizist auf der Insel wiedertraf. Einige der Urlauber in den Ferienwohnungen in der Nähe des Zeltkinos hatten sich bei der Polizei über den Lärm der Filmvorführungen bei den Spätvorstellungen beschwert. Dora war wütend geworden. „Dann sollen sie doch im Atombunker Urlaub machen. Da ist es hübsch still. Oder soll ich vielleicht Stummfilme zeigen, damit diese Typen ihre Ruhe haben?“ So war sie. Direkt und geradeheraus.

Sie bogen am Rathaus auf die Hauptstraße ein. Hier am nördlichen Ende des Ortes hieß sie Norderende. Das südliche nannten die Hiddenseer dementsprechend Süderende. An der Bernsteinwerkstatt fuhren sie nach links. Ein schmaler Pfad führte zwischen dünnen Bäumchen und Gestrüpp zum Kino. Im Dunkeln wirkte der Weg auf Rieder unheimlich. Auf dem kleinen Vorplatz standen einige Grüppchen herum. Sie diskutierten heftig miteinander. Gleichzeitig mit Rieder und Dora kam auch Damp mit dem Streifenwagen der Inselpolizei an. Das rotierende Blaulicht sorgte für neue Aufregung. Damp sprang aus dem Auto und stürmte auf Rieder zu: „Gibt’s schon was Neues?“

„Wir sind auch gerade erst angekommen.“

„Haben Sie schon Durk angerufen?“, fragte der Inselpolizist beinahe ängstlich. Michael Durk war der Inselbürgermeister.

„Noch nicht. Wir sollten erstmal die Lage klären.“ Rieder wandte sich an Dora Ekkehard. „Gehen Sie doch mal voraus zum Kino. Sie kennen sich ja aus.“

„Er liegt nicht im Kino.“ Dora zeigte in Richtung Strand. „Er liegt hinten im Dünenwäldchen.“

Gemeinsam bahnten sie sich den Weg durch die Menschen. Die ersten Gerüchte machten bereits die Runde.

„Die sollen einen erschossen haben.“

„Ich hab’ gehört, die haben ein altes Gerippe gefunden. Soll wohl noch ’ne Uniform anhaben.“

„Nee, das ist ein angetriebener Schwarzer, wahrscheinlich ein Asylant.“

„Na das hat uns gerade noch gefehlt, dass das jetzt hier so anfängt wie im Mittelmeer ...“

Vor dem Pfad zum Dünenwäldchen blockierte der Krankenwagen den Weg. Der Fahrer saß rauchend im Auto. Als er Rieder, Damp und Ekkehard kommen sah, winkte er kurz, startete das Auto, damit die drei vorbeikonnten auf den Pfad.

Damp hatte eine Taschenlampe aus dem Polizeiwagen mitgebracht, doch als er sie nun anschalten wollte, um in der Dunkelheit den Weg zu beleuchten, blieb sie dunkel. Immer wieder schob er fluchend den Schalter vor und zurück. Nichts tat sich.

„Kein Wunder, wenn Sie nachts immer so viele Bußgeldbescheide ausstellen“, meinte Rieder lakonisch Er spielte auf die Lieblingsbeschäftigung seines Kollegen an. Mit Übereifer sorgte er sich um die Verkehrssicherheit der Fahrräder. Das Hauptverkehrsmittel auf der Insel. Dazu legte er sich besonders gern nachts am Rande der Straßen zwischen Neuendorf, Vitte und Kloster auf die Lauer, um uneinsichtige Insulaner und überraschte Urlauber zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie auf ihren Rädern ohne Licht über die Insel fuhren. Rieder war zu Ohren gekommen, dass er es in einer der letzten Nächte besonders arg getrieben haben musste. Vierzig Bußgeldbescheide sollte Damp bei seiner nächtlichen Kontrolle ausgestellt haben. Wahrscheinlich war deshalb die Batterie der Taschenlampe leer. Damp widersprach: „Ach Quatsch, das mache ich doch im Auto. Die Batterie muss feucht geworden sein.“

„Dann wird auch bald die Batterie vom Steifenwagen leer sein“, prophezeite Rieder. Auch wenn Damp täglich den etwas altersschwachen Passat benutzte, um die wenigen Kilometer zwischen seiner Wohnung in Neuendorf und dem Revier in Vitte zu fahren, reichte das bestimmt nicht aus, um die Autobatterie wieder aufzuladen.

Damp begann die Taschenlampe im Dunkeln auseinanderzuschrauben. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, dass Sie hier anfangen, die Lampe zu reparieren“, empörte sich Rieder.

„Ich will mir doch nicht den Hals brechen.“

„Das ist jetzt Schicksal. Wir müssen weiter. Möselbeck wartet auf uns. Frau Ekkehard kennt hier doch jeden Stein. Oder?“

„Ich denke schon“, antwortete Dora.

Vorsichtig gingen sie Schritt für Schritt auf dem Weg weiter. Nach fünfzig Metern tauchte die leuchtend rote Jacke des zweiten Sanitäters auf. Hinter ihm standen auch schon mehrere Leute, die von der Strandseite neugierig schauten, was passiert sei. Der Sanitäter strahlte mit einer Taschenlampe die Polizisten an und wies dann mit seinem Arm ins Wäldchen. „Hier entlang. Passen Sie auf die Wurzeln auf.“ Sie folgten dem Pfad und sahen bald ein Glühen. Es war Möselbeck, der Inselarzt. Er saß auf dem umgekippten Kahn und rauchte seine Pfeife.

„Tach zusammen, oder besser: Gute Nacht!“ Er stand auf. „Dann wollen wir mal.“

In Berlin hätte die Spurensicherung mit großen Scheinwerfern den Tatort taghell erleuchtet. Hier auf Hiddensee musste das flaue Licht der alten DDR-Stabtaschenlampe, Typ „Artas“, reichen, um den Toten in Augenschein zu nehmen.

Der Mann lag neben einem Angelkahn. Rieder erschien der kahle Schädel des Toten riesig. Die Augen waren weit aufgerissen, der Mund leicht geöffnet, als sei er über etwas sehr erstaunt. Die Kleidung wirkte eher schäbig, zur Insel passend. Rieder erinnerte sich, den Mann ab und zu auf der Insel und auch im Rathaus gesehen zu haben.

„Peter Stein. Siebenundfünfzig Jahre alt, achtzig Kilo schwer, einsachtzig groß“, stellte Möselbeck den Toten vor. „Vielleicht wäre es mir gar nicht so unnormal erschienen, dass er hier liegt. In seinem Alter ist ein Herzinfarkt nicht unüblich. Und Stein war ein Arbeitstier. Bluthochdruck ist eine Erbkrankheit in der Familie.“

Möselbeck machte eine kurze Pause. „Aber?“, fragte Rieder.

„Stein hat sich gerade durchchecken lassen in der Uniklinik Greifswald. Gestern habe ich ihm den Befund mitgeteilt“, erklärte der Inselarzt. „Alles okay. Herz, Lunge, Magen. Keine stillen Infarkte. Kein Magengeschwür. Nicht mal das Cholesterin war zu hoch. Wenn, dann hatte er nur ein, aus Männersicht würde ich sagen, das kleine Problem.“ Er sah Rieder und Damp vielsagend an und krümmte seinen ausgestreckten Zeigefinger.

„Impotent!“, rief Damp laut und hielt sich gleich die Hand vor den Mund.

„Zeugungsunfähig.“

„Na und? Seine Frau ist doch auch nicht mehr die Jüngste. Wollte die etwa noch Kinder?“

Möselbecks Blick zu Damp machte, selbst im schwachen Licht der Taschenlampe deutlich, was er von Damps Bemerkung hielt. Er hockte sich hin und winkte den Polizisten, es ihm gleich zu tun.

„Dann habe ich das hier entdeckt.“ Möselbeck beleuchtete die linke Gesichtshälfte des Opfers. „Sehen Sie die kleine Blutung?“

Der Arzt hielt den Strahl der Lampe auf die Schläfe. „Dort muss er einen Schlag abbekommen haben. Ziemlich heftig. Wahrscheinlich war er nicht gleich tot, aber bald.“

Sie standen wieder auf. „Ich will jetzt hier in der Dunkelheit auch nicht groß rummachen an dem Toten, Temperatur messen und so. Aber gefühlt ist er höchstens eine Stunde tot. Wie gesagt, der Schlag muss ihn nicht gleich erledigt haben.“

„Das bedeutet, Tatzeit und Todeszeit sind nicht identisch“, wandte Rieder ein. „Können Sie vielleicht in etwa sagen, wie viel Zeit zwischen dem Schlag und seinem Tod vergangen ist?“

Möselbeck schüttelte den Kopf. „Das kann nur eine Obduktion klären.“ Er stand auf. „Also Ihr Fall, meine Herren.“

„Aber was machen wir jetzt?“, fragte Damp in die Runde. Rieder nahm sein Telefon. „Ich rufe Behm an.“

Behm war Chef der Spurensicherung bei der Polizeidirektion Stralsund. Verschlafen meldete er sich.

„Mensch, Stefan, hast du mal auf die Uhr geschaut?“

„Hallo, Holm, habe ich. Aber leider haben wir hier einen Toten, wahrscheinlich erschlagen.“

„Oh nein, sag, dass das nicht wahr ist!“, fluchte Behm. „Wie sollen wir denn jetzt auf die Insel kommen? Wo liegt er überhaupt?“

„Am Zeltkino.“

„Kann ihn nicht bei irgendeinem Thriller der Schlag getroffen haben. Die Herbsturlauber sind doch meist etwas älter. Eine Autojagd, eine Schießerei ... da kann doch so was schon mal passieren, wenn die Pumpe nicht mehr so richtig will.“

„Ich muss dich enttäuschen. Kein natürlicher Tod. Möselbeck ist sich sicher.“

„Tja, dann ... ich versuche, die Truppe zusammenzukriegen und zu euch rüberzukommen. Ich melde mich wieder.“ Damit legte Behm auf.

„Kommen sie aus Stralsund?“, fragte Damp. Rieder zuckte mit den Schultern.

Kaum zehn Minuten später rief Behm an.

„Nichts zu machen. Wir kommen nicht rüber. Ich habe mit der Wasserschutzpolizei telefoniert. Es ist dicker Nebel angesagt. Da wollen die nicht los. Ist ihnen zu gefährlich.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Rieder.

„Den Tatort sichern.“

„Toller Vorschlag. Wir haben hier nicht mal Scheinwerfer. Es gibt eine Taschenlampe. Und die gehört dem Arzt.“

„Na, wenn ihr da im Dunkeln schon hübsch rumgetrampelt seid, ist doch sowieso jede Spur zerlatscht. Da kann ich mir die Bescherung auch noch morgen früh ansehen.“

„Sollen wir den Toten hier so lange liegenlassen? Vielleicht noch Totenwache halten?“

Rieder hörte Behm durchs Telefon auflachen.

„Haste Angst, er könnte zur Geisterstunde wieder lebendig werden. Sag dir immer: ‚Wer tot ist, beißt nicht.’ Nee, im Ernst. Den könnt ihr wegtragen und morgen nach Greifswald schicken, nachdem ich ihn mir angesehen habe. Es gibt doch auf Hiddensee sicher irgendeinen Ort, wo die Toten bis zur Beerdigung aufgebahrt werden.“

„In der kleinen Kapelle auf dem Inselfriedhof in Kloster. Ich rufe den Pfarrer an.“

„Wir sehen uns dann morgen früh, wenn der Nebel weg ist. Ich melde mich, wenn wir von Stralsund losmachen.“

Behm beendete das Gespräch.

„Nebel? Ist doch gar kein Nebel“, meinte Damp.

Auch Rieder wunderte sich. Als er in Richtung Ostsee schaute, waren im hellen Mondschein nirgendwo Nebelschwaden zu entdecken. Aber was sollte er machen?

„Wenigstens müssen wir hier nicht die ganze Nacht hocken und den Toten bewachen“, meinte Damp erleichtert.

„Die Sanitäter haben einen Bodybag an Bord“, meldete sich der Inselarzt. „Ich kümmere mich darum, dass sie die Leiche verpacken.“ Damit verschwand er in der Dunkelheit und mit ihm das letzte Fünkchen Licht.

„Brauchen Sie mich noch?“, fragte Dora Ekkehard. Sie hatte die ganze Zeit schweigend abseits gestanden. Rieder hatte sie beinahe vergessen.

„Ja, schon. Wir müssen noch Ihre Aussage aufnehmen.“

„Muss das noch heute sein?“

„Ich denke schon.“

„Und die beiden jungen Leute?“

„Welche jungen Leute?“

„Die Stein gefunden haben. Die sitzen noch bei mir im Vorführraum.“

„Ach so.“ Rieder und Damp waren von dieser neuen Information überrascht. „Warum haben Sie bisher nicht gesagt, dass nicht Sie, sondern jemand anderes die Leiche gefunden hat?“

„Ich hab’s vergessen. Die Hektik ...“

„Die müssen wir auch noch vernehmen.“ Rieder überlegte kurz. „Gehen Sie doch schon vor. Wir regeln hier die Sache mit dem Toten und sind dann gleich bei Ihnen.“ Dora Ekkehard verschwand.

Die Polizisten waren allein. In der Dunkelheit konnten sie einander kaum erkennen.

„Blöde Sache“, meinte Rieder.

„Das kann man wohl sagen.“ Damp war ungewöhnlich versöhnlich gestimmt. Rieder fühlte sich unwohl in seiner Haut. Er spürte so etwas wie Platzangst. Er wollte sich nicht bewegen, um nicht auf den Toten zu treten, und gleichzeitig stand ihm Damps massiger Körper als unheimliche, dunkle Wand gegenüber.

„Was wissen Sie denn über diesen Peter Stein?“

„Nicht viel. Er baut alles auf der Insel, sitzt im Gemeinderat und ist ein dicker Kumpel von Durk. Und da sollten wir jetzt mal ran.“

„Ja, ja, aber Stein hat doch sicher auch eine Frau. Sollte die nicht vor dem Bürgermeister erfahren, dass ihr Mann tot ist?“

„Aber ich will keinen Ärger ...“

„Mit Durk sind Sie doch mittlerweile fast auf Du und Du?“ Bis vor kurzem war das Verhältnis zwischen dem Bürgermeister und Damp sehr gespannt gewesen. Damps Ordnungsliebe ging Bürgermeister Durk gewaltig auf die Nerven. Er hatte mehr als einmal dem Stralsunder Polizeichef in den Ohren gelegen, man möge Damp bitte wieder dahin versetzen, woher er, wenn auch schon vor über zehn Jahren, gekommen war – nach Rügen. Hiddenseer und Rüganer können sich von Natur aus nicht leiden.

Doch dann hatte Damp bei der Aufklärung des Mordes am Inselpfarrer sein Leben aufs Spiel gesetzt. Damit war er in der Achtung von Durk überraschend weit gestiegen. Er hatte Damps Beförderung zum Revierleiter sofort akzeptiert.

Damp traute dem Frieden nicht. Deshalb war es ihm jetzt auch wichtiger, Durk zu informieren, als sich mit dem Leid der Ehefrau zu beschäftigen. Dass sie nun Witwe war, daran ließ sich in seinen Augen sowieso nichts mehr ändern.

„Dann rufen Sie doch Durk an ...“, gab Rieder nach.

Kaum hatte er das ausgesprochen, hörte er in der Dunkelheit das Klicken der Tasten eines Mobiltelefons und dazu das hektische, aufgeregte Atmen seines Kollegen. Er selbst griff auch nach seinem Handy und suchte in dem beleuchteten Display nach der Nummer von Inselpfarrer Laube.

Wenig später hatten die beiden Sanitäter die Leiche in einem Plastiksack verstaut. Möselbeck ging mit seiner Taschenlampe vorweg, um den beiden Männern den Weg zu leuchten. Allerdings war es trotzdem schwierig, den Toten durch das unwegsame Gelände zu tragen. Ab und zu mussten die beiden Männer den Sack absetzen. Rieder beobachtete das Geschehen mit Missvergnügen. Er konnte jetzt schon Behm poltern hören, wie man hier noch eine vernünftige Spur sichern solle. Aber anders war es wohl nicht zu machen.

Als sie auf den Weg zum Zeltkino einbogen, warteten immer noch viele, um einen Blick auf den Toten zu erhaschen. Die schöne digitale Welt konnte auch zum Fluch werden.

Damp spannte gelbes Band mit der Aufschrift „Polizeieinsatz! Betreten verboten!“ zwischen den Bäumen, um den Pfad zum Tatort und den Weg zum Strand abzusperren. Allerdings würde das wohl kaum die neugierigen Touristen aufhalten, war sich Rieder sicher.

Nachdem die Leiche im Krankenwagen verladen war, fuhren die Sanitäter in Richtung Kloster ab. Die Menschen auf dem Platz machten für das Auto eine Gasse frei und bildeten eine Art Spalier. Unter den Wartenden entdeckte Rieder auch Malte Fittkau. Er nahm sogar seine Schiffermütze ab, als der Krankenwagen vorbeifuhr. Pfarrer Laube hatte versprochen, die Leiche in der kleinen Kapelle neben der Inselkirche aufzubahren und dort auch eine Leichenschau durch die Spurensicherung zuzulassen.

Kaum war das Auto verschwunden, kam Bürgermeister Durk durch die Gasse. Der sonst so dynamische Mann wirkte bedrückt. Wie von einer schweren Last niedergehalten, schleppte er sich zum Zeltkino. Er streckte den beiden Polizisten die Hand entgegen und drückte sie mit leichtem Nachdruck, als hätten sie einen gemeinsamen Angehörigen oder Freund verloren.

Rieders Verhältnis zum Bürgermeister war alles andere als spannungsfrei. Durk war der Mann aus Berlin nicht geheuer. Er fürchtete, er könnte sich in seine Angelegenheiten einmischen. Zugereisten, wie Fremde auf der Insel genannt wurden, begegnete er immer mit einer gewissen Skepsis.

Durk wandte sich an den Revierleiter. „Danke, Damp, dass Sie mich gleich angerufen haben. Haben Sie schon eine Spur?“

Statt des Revierleiters antwortete Rieder. „Wir stehen erst ganz am Anfang. Wir müssen abwarten, ob die Spurensicherung vielleicht noch etwas entdeckt. Die Kollegen können aber erst morgen kommen. Das wird also sicher schwierig ...“

„Wo ist es denn passiert?“

Rieder zeigte in Richtung Strandwald: „Da hinten, an einem alten Kahn.“

Durk schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist sein Kahn. Peters Kahn. Früher sind wir damit oft rausgefahren, haben Heringe geangelt. Eimerweise haben wir sie aus der See geholt ... Das ist alles schon so lange her ... Kann ich mir den Tatort ansehen?“

„Das ist keine gute Idee“, erwiderte Rieder vorsichtig. „Wir würden unseren Kollegen die Arbeit noch weiter erschweren.“

„Ich verstehe ... Peter und ich ... wir waren Schulkameraden, haben in der gleichen Bank gesessen, von der ersten bis zur zehnten Klasse. Hier in der Inselschule.“ Durk schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht fassen.

„Hätten Sie denn einen Verdacht? Wenn Sie ihn so gut kannten ...“, fragte Rieder.

Schulterzucken. „Keine Ahnung. Ich kann mir so etwas auf unserer Insel immer gar nicht vorstellen. So ein schönes Fleckchen Erde. Er hat die Insel sehr geliebt.“ Durk sprach mehr zu sich selbst und schaute dabei in Richtung Tatort. „Tja ... ich versteh’ es nicht ... Er hat so viel Gutes für Hiddensee getan.“

‚Da übt wohl schon einer für die Trauerrede‘, dachte Rieder im Stillen. Dafür hatte er jetzt aber keine Zeit. Es ging bereits auf Mitternacht zu. Sie mussten noch das Pärchen befragen, das die Leiche entdeckt hatte, Dora Ekkehards Aussage aufnehmen und die Ehefrau über den Tod ihres Mannes informieren.

„Verzeihen Sie, aber wir müssten noch ein paar Dinge erledigen“, unterbrach er Durk.

„Ja, ja, machen Sie Ihre Arbeit. Wenn Sie Hilfe und Unterstützung brauchen, meine Tür steht Ihnen offen.“ Dabei schlug er Rieder kumpelhaft auf die Schulter. Dann drehte er sich um und ging schweren Schrittes davon.

„Der ist ganz schön getroffen.“

„Klar. Stein war die Stütze seines Systems“, meinte Damp leise.

Norderende

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