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Die Grenzstürmer

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Der junge Imruʾ al-Qais, der Freigeist, der von seinem strengen Vater fortgejagt wurde, versammelte eine Schar von suʿlūks, „Räubern“ oder „Vagabunden“, um sich.44 Es ist lohnenswert, sich diese Gruppe einmal genauer anzuschauen. Viele von ihnen waren Dichter wie Imruʾ al-Qais selbst. Auch sie verkörpern ein ruheloses, zersplittertes Zeitalter und geben ein eindrucksvolles Zeugnis von der Individualität und Pluralität, die, zumindest theoretisch, der Kommunalismus und Monismus des Islam dann auslöschte. Es ist verlockend und unter modernen arabischen Intellektuellen beliebt, die „Vagabunden“ zu romantisieren, denn in zweifacher Hinsicht scheinen sie geradezu den Inbegriff der Freiheit zu symbolisieren, sowohl als Dichter – in der Dichtung, so schrieb Adonis, ist der arabische Geist frei von Ideologie45 – als auch als Ausgestoßene ihrer Stämme. Sie gehören zu den „auffälligsten arabischen Beispielen von Antinomismus im Dienste der Entdeckung der Wahrheit“ (das andere Beispiel ist Sufismus, die spirituelle Strömung im Islam).46 Und tatsächlich umgibt sie in ihrem Individualismus, ihren starken Gefühlen, ihrer Nähe zur Natur ein Hauch von Romantik, wenn sie auch eher die hartgesotten-zähe Variante des Tramps und Landstreichers darstellen. Auf die Gefahr hin, noch anachronistischer zu werden: der amerikanische Journalist Hunter S. Thompson mag an die suʿlūks gedacht haben, als er seinen Bewunderern riet: „Gehe aufrecht, sei cool, lerne Arabisch, liebe Musik und vergiss nie, dass du aus einer langen Linie von Wahrheitssuchern, Liebhabern und Kriegern kommst.“

Das Arabische, das die suʿlūks lernten, war die Hochsprache der Rhetorik und Dichtung. Die meisten Araber, die dieses hohe Register verwendeten, waren Worteiner, Sprachrohr und Anführer ihres Stammes. Die suʿlūks waren die Refuseniks, die als Ausgestoßene betrachtet wurden, weil sie Verbrechen gegen die Ehre und somit gegen die ʿasabiyya, die verbindliche Stammessolidarität, begangen hatten. Manche von ihnen waren extrem in ihrer Ablehnung der Norm. Als Taʾabbata Scharran, der Räuberdichter aus dem frühen 6. Jahrhundert, im Kampf getötet wurde, ritten seine Verwandte zu dem

Platz, wo sein Körper lag, um ihn zum Begräbnis mitzunehmen. Als sie den Ort erreichten, fanden sie den Körper umringt von den Kadavern wilder Tiere, Raubvögel und Ungeziefer, die an seinem Fleisch genagt hatten.47

Sein ganzer Körper, so hieß es, war von der toxischen Diät von Vipern und Kolokynthe giftig geworden. Die berühmteste und wortgewandteste Ablehnung von Stammeswerten findet sich in der klangvollen Ode von Taʾabbata Scharrans Zeitgenossen al-Schanfarā, den Ersterer umschrieb als

ein Sager von Worten

stark und gesund, der an die entferntesten Grenzen prescht …48

Al-Schanfarās Ode beginnt wie folgt:

Söhne meiner Mutter, erhebt die Brust eurer Reittiere!

Denn ich wähle eine andere Begleitung als euch.

Ich habe nähere Verwandte als euch: schneller Wolf,

glattfelliger Leopard, langhaariger Schakal …49

Er fährt in dem gleichen kräftigen Ton der Ablehnung fort. Der Arabist Gifford Palgrave schrieb im 19. Jahrhundert, das Gedicht stelle „den absoluten Individualismus eines Geistes, der seiner Zeit und allem um ihn herum trotzt“, dar.50

Viele suʿlūks lebten und raubten jedoch in Banden oder, wie wir im Fall des Urwa ibn al-Ward gesehen haben,51 versammelten benachteiligte Individuen von den Rändern der Stammesgesellschaft um sich und nahmen sie mit auf Raubzüge, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Sie lehnten den eigenen Stamm ab, bildeten aber häufig eigene alternative, nichttribale Gruppen. Wenn wir der Stimmung seiner Gedichte Glauben schenken dürfen, war Urwas alternative Gesellschaft auf sozialer Gerechtigkeit gegründet:

All jene reichen Anführer können nie nur mit Reichtum regieren: Ihre Herrschaft beruht nur auf Taten.

Wenn mein Freund genug hat, eifre ich nicht mit ihm in Reichtum, noch weise ich ihn zurück, wenn sein Schicksal sich wendet.

Wenn ich reich bin, ist mein Gewinn der des Nachbarn, mein Glück ist seines, dafür bürge ich.

Und wenn ich arm bin, wirst du mich nie die Gunst meines Bruders erbitten sehen – denn ich halte sie in der Hand, bevor ich fragen kann.52

Die suʿlūks bildeten die Ausnahme, die den arabischen Stammeskodex bestätigte – und waren insofern gewissermaßen Vorläufer der alternativen, nichttribalen und nach sozialer Gerechtigkeit strebenden Gemeinschaft, die der Prophet Mohammed bald gründen sollte.

Allerdings wirklich nur gewissermaßen. Der absolute Individualismus der suʿlūks, ihr an Don Quichotte oder Walt Whitman erinnerndes Beharren auf dem, was meist als moderne Form von Selbstsein betrachtet wird, stand im Widerspruch zu dem letztendlich sowohl theologisch als auch politisch-totalitären Charakter jener kommenden Gesellschaft. Es widersprach darüber hinaus der Idee der sunna in ihrer islamischen Form – der Auffassung, dass es ein perfektes Individuum gibt, dem alle anderen nachzueifern haben. Im 6. Jahrhundert boten die suʿlūks aber noch eine Alternative zu Stammeskonventionen und religiösen Normen, soweit vorhanden. Sie waren die Seher und Vorsteher eines anthropozentrischen Universums. Wie Whitman sahen sie „Ewigkeit in Mann und Weib“.53

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