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Politik und Poetik

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Das Jahrhundert vor dem Islam erscheint oft gigantisch: große Krieger, große Dichter, archaische Helden, die auf der riesigen Bühne des Subkontinents schreiten und streiten, in Kriegsgewalt und gewaltigen Versen aufeinandertreffen, spendable Schänder. Teilweise trügt der Schein, denn es handelte sich um Giganten im Wasserglas. In den heroischen Auseinandersetzungen drehte es sich meist um Kamele, und für die namenlose Mehrheit hinter den Kulissen war das Leben eine Frage des Überlebens: Wie finden wir das Stück Weideland, wo der erste Regen seit Jahren gefallen ist, wie bleiben Besitz und Töchter sicher vor aksumitischen oder sassanidischen Truppen, wie verhindern wir einen Überfall oder eine Schändung durch den Nachbarstamm, was können wir tun, um nicht unter großen Qualen zu sterben? Dennoch entbehrt das heroische Kriegsethos jener Zeit nicht einer gewissen Realität. Überfall (und der daraus resultierende Kampf) war eine Lebensweise, eine zentrale Wirtschaftsaktivität, und Dichtung, in der diese Lebensweise gefeiert wurde, hatte nichts von der Exklusivität und Besonderheit, die sie für uns heute angenommen hat. Die berühmteste Ode des Amr ibn Kulthūm (Großneffe des Kulaib, dessen Ermordung den Krieg von al-Basūs ausgelöst hatte) „wurde vom Stamm der Taghlib so sehr bewundert, dass alle, ob groß oder klein, sie aus dem Gedächtnis rezitieren konnten“54 – eine beeindruckende Leistung, wenn man bedenkt, dass das Gedicht mehr als 100 Verse zählt.

Für Araber lag die Idee einer politischen Vereinigung jenseits ihrer kühnsten Vorstellungen. Aber poetisch wurden sie in diesem 6. Jahrhundert untrennbar vereint in einer kulturellen Koalition, die alle „Tage“, die unzähligen Kriege, die seitdem stattgefunden haben, überlebte. Es ist die Zeit, in der Imruʾ al-Qais die Frauen, denen er nachstellt, bereits als „Araberinnen“ bezeichnen kann. In diesem Sinne wird auch der Koran Mohammed als „Araber“ bezeichnen – nicht als einen durch sein Nomadentum definierten aʿrābī, der Mohammed ganz bestimmt nicht war –, sondern als Mitglied einer subkontinentalen Kultur, deren Mitglieder alle vereint waren durch dieselbe übergeordnete Hochsprache. Bei Weitem nicht alle konnten diese Sprache selbst verwenden oder gar in ihrer Komplexität vollkommen verstehen. Aber alle bewunderten sie, erstrebten sie als Ideal und antworteten auf sie. Es war diese gemeinsame Antwort, die sie zu Arabern machte.

Heute noch verbindet diese gemeinsame Antwort Araber überall: Sie sind Teil ein und derselben vereinten Kulturnation, sie lieben ihre Sprache, selbst wenn sie es hassen, ihre Grammatik erlernen zu müssen. Politische Einheit ist nach wie vor undenkbar, wie T. E. Lawrence bereits zu Robert Graves sagte: „Nur ein Wahnsinniger kann sich arabische Einheit vorstellen – für dieses [20.] Jahrhundert oder auch für das nächste. Englischsprachige Einheit wäre eine passende Parallele.“55 Doch im Bereich der Rhetorik, ob nun nationalistisch oder islamisch, bleiben Araber ein Volk, auch wenn zwischen der Politik und der Poetik ein Abgrund der Enttäuschung klafft.

Natürlich verzerrt die Bedeutung, die wir der Dichtung beimessen, unsere Betrachtungsweise: Sie ist nahezu das einzige arabische Artefakt überhaupt, das aus der Zeit vor dem Islam auf uns gekommen ist (im Gegensatz zu all den Artefakten der sesshaften südarabischen Kultur – Dämmen, Idolen, Steinbockfriesen, Inschriften und so weiter). Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass Historiker hier im Nachteil sind. In vielen anderen Kulturen, die nur wenige oder gar keine Schriftzeugnisse hinterlassen haben, hilft uns die Archäologie, die Vergangenheit zu verstehen, indem wir Gebäude ausgraben und die Überreste der Lebensspuren darin untersuchen. Im Arabien der ʿarab sind physische Gebäude selten; arabische Gedichte jedoch sind metaphorische Strukturen, Bauwerke aus metrischen Einheiten, die asbāb („Zeltleinen“) und autād („Zeltpflöcke“) genannt werden, die wiederum Halbverse bilden, die einfach als schutūr („Hälften“) oder masāriʿ („Türflügel“) bezeichnet werden, von denen zwei zusammen einen Vers bilden, ein bait („Zelt, Raum, Haus“).56 Zusammen bilden die altarabischen Gedichte also das Knossos, das Pompeji des vorislamischen Arabiens. Dies war Arabern auch selbst bereits früh bewusst: In ihren Gebäuden, so heißt es bei al-Dschāhiz, hinterlassen die Perser ein dauerhaftes Archiv ihrer Vergangenheit. Araber hinterlassen ihr Archiv in Gedichten, die sich am Ende als dauerhafter herausstellen könnten, da folgende Generationen häufig die physischen Monumente derjenigen, die vor ihnen kamen, zerstören.57 Mehr noch: In poetischen Bauwerken wird auch der Widerklang vieler Stimmen aus ihrer Entstehungszeit hörbar. „Ein Vers ist wie ein Gebäude“, sagt der Lehrer der Dichtkunst Ibn Raschīq aus dem 11. Jahrhundert und erweitert die Haus-Metapher: „Sein Fundament ist ein naturgegebenes Talent, sein Dach die Fähigkeit, Dichtung [von früheren Dichtern] zu überliefern, seine Säulen sind Wissen, seine Tür ist Praxis, und sein Bewohner ist Bedeutung. Ein ‚Haus‘, das unbewohnt ist, ist zu nichts nütze.“58

In Hinblick auf die Launen des Gedächtnisses und die Fälschungen späterer Überlieferer ist es natürlich denkbar, dass kaum etwas von der alten Dichtung in ihrem ursprünglichen Zustand überlebt hat. Einige Literaturwissenschaftler, darunter Taha Hussein, verwerfen bis auf wenige Verse alles als späteren Schwindel: Sie sprengen sozusagen den gesamten Kanon.59 Das geht zu weit. Die Lektüre der vorislamischen Dichtung mag tatsächlich eher wie das Betrachten einer viktorianischen gotischen Kirche sein, die mit großem Eifer und Können restauriert wurde: Manches an ihr ist weiterhin ohne Zweifel original, manches ein cleveres abbasidisches Pastiche, und die Verbundstellen sind kaum zu erkennen. Deswegen aber alles pauschal zu verwerfen, die Gebäude aus Worten zu zerstören, ist eben solcher Vandalismus wie Steine zu zertrümmern. Die Archäologie der Dichtung ist vielmehr – neben dem ältesten arabischen Buch, dem Koran, und ein paar Einblicken nichtarabischer Beobachter – das einzige und beste Bild des Lebens, Glaubens und der Ereignisse vor dem Islam.

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