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Kapitel 2 Heimweh

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Unsere Familie wuchs, unser Haus wurde größer. Meine Eltern stockten das Gebäude um eine weitere Etage und eine Dachterrasse auf, von der wir einen noch besseren Blick auf die Stadt hatten. Wir waren gern dort oben, spielten oder saßen mit Freunden und Bekannten zusammen. Im Sommer, wenn es im Haus zu warm wurde oder viele Verwandte zu Besuch waren, schliefen wir bei frischer Luft unter dem Sternenhimmel. Tagsüber hingen wir unsere Kleidung und die Bettlaken auf der Terrasse zum Trocknen auf oder klopften Teppiche aus. Im Radio wurden Songs der libanesischen Sängerin Fairuz gesendet. Abends lauschten wir den Klängen von Umm Kulthum aus Ägypten.

Die beiden zusätzlichen Etagen sollten später Mohammad und Abdullah als Wohnraum dienen. Nach ihrer Hochzeit würden sie mit ihren Familien dort leben. Das ist in Syrien und im Nahen Osten so üblich: Die Töchter ziehen, wenn sie verheiratet sind, in der Regel zur Familie des Mannes. Die Söhne wiederum kümmern sich – meist mit Hilfe ihrer Eltern – um eine Wohnung für ihre Frau und Kinder.

Nach wie vor werden Ehen in vielen muslimischen Familien arrangiert. Dabei schließt der Mullah die Ehe nur, wenn die Frau einverstanden ist. Manche Mädchen werden bereits mit vierzehn Jahren verheiratet. In der Regel haben sie dann die neunte Klasse vollendet und ihren Schulabschluss gemacht. Für mich meldete sich kein heiratswilliger Verehrer. Ich galt als das hässliche Entlein der Familie. Im Gegensatz zu meinen Schwestern, die blond und hellhäutig waren und mit haselnussfarbenen beziehungsweise grünen Augen die attraktivsten Schönheitsattribute im Orient aufwiesen, war ich dunkel. Als Jugendliche hatte ich es nicht leicht. Die Jugend ist ja grundsätzlich und in allen Kulturen eine schwierige Lebensphase. In meinem Fall kam hinzu, dass ich nicht einmal hübsch war. Nicht wenige meiner eher traditionell denkenden Verwandten machten sich gnadenlos über mich lustig.

Meine Idole waren damals die Stars aus dem Westen: Ich schwärmte vor allem für Madonna und Prinzessin Diana. Und dann gab es diese elegante Flugbegleiterin in unserer Nachbarschaft, von der ich ebenfalls begeistert war. Mit Mitte zwanzig lebte sie allein und unabhängig und erzählte immer tolle Geschichten über ihre Reisen zu fernen Orten überall in der Welt, von denen sie mir Jeans und andere angesagte Geschenke mitbrachte.

Syrien war in jener Zeit ein säkulares Land. Nur wenige Frauen verschleierten ihr Gesicht, trugen den Niqab oder die Abaya, ein locker fallendes, den ganzen Körper bedeckendes Gewand. In den kleineren Städten sah man generell mehr konservativ gekleidete Frauen, während viele meiner Freundinnen in Sham sogar ohne Hidschab aus dem Haus gingen. Auch ich trug ihn nicht. Mein Vater forderte mich erst auf, den Hidschab zu tragen, als ich in die Pubertät kam und einige unserer Nachbarn ihn darauf ansprachen. Nun sei es an der Zeit, sagte er. Ich aber beklagte mich bei meiner Mutter. »Ich bin noch jung«, argumentierte ich. »Keine meiner Freundinnen trägt den Hidschab. Warum soll ich mir dieses Teil anziehen? Reicht es nicht, ein guter Mensch zu sein?« Mama war eine liberale Frau. »Du musst nicht, wenn du nicht willst«, sagte sie.

Der Besuch der Oberschule war in Syrien in den 1980er-Jahren nicht verpflichtend, und mit dem Abschluss der neunten Klasse konnte man in Damaskus durchaus einen guten Job finden. Viele Jugendliche begnügten sich daher mit dem nationalen Examen am Ende der Pflichtschulzeit. Angesichts der Bedeutung der Prüfung schränkten die Familien der Schulabgänger ihre gesellschaftlichen Aktivitäten während der einmonatigen Prüfungsphase drastisch ein. Gemeinsam sorgte man dafür, dass der künftige Absolvent oder die Absolventin wirklich lernte. So war das jedenfalls normalerweise. Bei uns allerdings nicht. In unserem Haus herrschte weiterhin ein ständiges Kommen und Gehen, sodass ich kaum zum Lernen kam. Gewiss, ich schaute in die Bücher, aber es blieb nicht viel hängen. Meinen Tagträumen widmete ich dagegen viel Zeit: Ich sah mich darin als freie Frau, die durch die Welt reist.

Kein Wunder, dass ich die Abschlussprüfung nicht bestand und das Schuljahr auf der Realschule wiederholen musste. Das machte die Sache nicht leichter, denn dort ging es strenger zu als in der Hauptschule. Mit ihrer hohen Betonmauer, die uns den Blick auf die Welt draußen gänzlich versperrte, erschien sie mir als wahrhaftiges Gefängnis. Auch im zweiten Anlauf scheiterte ich und fand mich zum dritten Mal als Schülerin der neunten Klasse wieder. Meine Eltern waren enttäuscht, doch mir war das damals nicht wichtig. Mama sorgte sich, dass ich nie einen Ehemann fände. Ich dagegen dachte an Mohammad, der die Schule schon nach der achten Klasse verlassen hatte. Er war Friseur geworden und hatte in Dubai und Saudi-Arabien gearbeitet, wo er gut verdiente. Während seiner Zeit am Golf lebte er überdies bescheiden und konnte so eine größere Summe Geld ansparen. Mir schwebte für mich ein ähnliches Leben vor. Könnte ich es nicht genauso machen wie mein großer Bruder? Ich drängelte und quengelte, und schließlich gelang es mir mit Hilfe von Onkel Mahmoud, meine Eltern zu überzeugen: Sie erlaubten mir, als zertifizierte Friseurin teilzeit im Geschäft einer Nachbarin tätig zu werden.

Es war eine fantastische Erfahrung. Ich lernte, meine Haare aufzudrehen und trug nun einen modischen Chelsea Cut. Mit Lockenwicklern zu schlafen war zwar unbequem, doch diese tollen Wellen waren es allemal wert. Im März wurde ich sechzehn und gab eine große Party bei uns im Haus. Ich trug eine Seidenbluse, die je nach Licht in unterschiedlichen Farben schimmerte, einen bunten Bauernrock und einen breiten, gelben Gürtel. Ich sah aus wie Wonder Woman. Nachmittags kamen meine sechs besten Freundinnen, wir legten unsere Lieblingskassetten in den Stereo-Recorder und tanzten im Wohnzimmer. Mein Lieblingssong war »Rasputin« von Boney M. Für meine Freundinnen und mich war es der neueste Hit, obwohl das Stück schon 1978 erschienen war. Es dauerte immer Jahre, bis populäre Popsongs bei uns ankamen. Wir standen auf den Mix aus Disco und folkinspirierten arabischen Beats. Und natürlich auf den coolen Chor. Immer wieder spielten wir das Stück und gröhlten »Rah rah rah …«, bis wir heiser waren. Nicht, dass wir gewusst hätten, was wir da sangen …

Ich fühlte mich super: gerade mal sechzehn Jahre alt und schon Friseurin. Bald darauf wechselte ich in den Haarsalon meiner guten Freundin Lina. Wir nannten ihn »Sandra«, Linas Lieblingsname aus dem Westen. Tatsächlich war unser Laden ein kleines Zimmer im Erdgeschoss des Hauses ihrer Familie, in das wir einen Stuhl stellten und einen Spiegel hingen. Was fehlte, war das professionelle Waschbecken. Wenn wir unseren Kundinnen die Haare wuschen, gab es daher immer ein ziemliches Fußbad.

Unsere ersten »Versuchskaninchen« werde ich nie vergessen. Da war zum Beispiel eine Frau, die blonde Highlights in ihre sehr langen, sehr dunklen Haare wollte. »Aber gerne doch, gnädige Frau«, sagten wir, obwohl wir kein richtiges Rezept für den Aufheller hatten. Wir rührten ein Bleichmittel an, setzten ihr eine Kappe auf und färbten die Strähnen. Während der Aufheller einwirkte, bereiteten wir uns einen Mate-Tee mit Zucker, setzten uns zu unserer Kundin und plauderten mit ihr. Offenbar war es ein anregendes Gespräch, denn ihren Haaren schenkten wir kaum noch Beachtung. Irgendwann führten wir sie zum Waschbecken und nahmen die Kappe ab. Zu unserem Entsetzen lösten sich die gebleichten Strähnen von der Kopfhaut. Die Dame sah in den Spiegel und sagte: »Ich sehe kein Blond?« – »Wahrscheinlich war der Aufheller nicht stark genug«, antworteten wir. »Wir versuchen es noch einmal.« Beim zweiten Mal mischten wir deutlich weniger Bleiche in die Farbe, achteten auf die Zeit, und die Highlights waren perfekt. Wie gut, dass sie sehr dichtes Haar hatte. Die Frau verließ unseren Laden als zufriedene Kundin. Kaum war sie außer Reichweite, prusteten Lina und ich los. Unsere angestaute Panik löste sich in Gelächter auf.

Dass ich arbeitete, bedeutete nicht, dass ich mich der Aufsicht meiner Familie hätte entziehen können. Meine Lieben achteten streng auf alles, was ich tat. Vor allem Hivron gerierte sich als Aufpasserin und Spionin. Eines Nachmittags war ich in Linas Salon und wir gaben uns unserer neusten Gewohnheit hin: Wir rauchten Zigaretten, die besonders gut schmeckten, weil wir sie heimlich konsumierten. An jenem Tag war es sehr heiß im Salon, und ich stand auf, um die Tür zu öffnen. Draußen im Schatten lungerte Hivron herum, ihre Augen tellergroß. Sie drohte mir mit dem Finger und sagte: »Erwischt! Du rauchst. Das sage ich Mama.« Dann rannte sie fort. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich in nervöser Anspannung. Ich fürchtete, dass meine Mutter mir verbieten würde, bei Lina zu arbeiten, wenn Hivron mich verpetzte. Ich hätte sie umbringen können!

Als ich nach Hause kam, rief Mama mich in die Küche. »Rauchst du?«, fragte sie mich. – »Natürlich nicht«, antwortete ich mit zitternden Knien. – »Warum lügst du?«. Ich weiß nicht, warum ich nicht die Wahrheit sagte. Sie gab mir eine Zigarette aus Babas Schachtel und forderte mich auf, sie anzuzünden. »Ich rauche nicht«, wiederholte ich. – »Du rauchst«, entgegnete sie. »Ich will nicht, dass du es vor mir verbirgst, und dann erfahre ich es von Hivron oder von den Nachbarinnen. Ich will nicht, dass du etwas hinter meinem Rücken tust, was du sehr wohl vor meinen Augen tun kannst.« Ich gestand alles, und von dem Tag an verheimlichte ich ihr nicht mehr, wenn ich rauchte.

Kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag änderte sich mein Leben grundlegend. Meine kleine Schwester Maha bekam einen Heiratsantrag. Sie nahm ihn an und zog nach Kobane, eine Zweitagesreise von Sham entfernt. Bald darauf wurde sie schwanger. Gelegentlich besuchte sie uns zu Hause. Ich vermisste sie sehr. Ihr ganzes Leben lang hatten wir ein Zimmer und ein Bett geteilt. Jetzt erschien mir dieses viel zu groß. Meine Situation war ohnehin verwirrend. Einerseits träumte ich davon, als unabhängige Frau eine grandiose Karriere als Friseurin zu machen. Andererseits wollte ich mich verlieben, wollte heiraten und irgendwann Kinder haben. Mit knapp siebzehn saß ich quasi zwischen allen Stühlen. Ich nahm eine Teilzeitstelle in einem eleganten Damensalon an. Er lag strategisch günstig im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, in dem mehrere syrische TV- und Soap-Stars wohnten. Wenn sie von ihren Touren erzählten, hing ich an ihren Lippen. Die Welt gehörte ihnen, schien mir, und genau das wollte ich auch für mich.

Ich war zwanzig, als meine Chance kam. Eines Tages stand eine junge Frau in Linas Friseursalon und musterte mich von oben bis unten. »Sind Sie die Tochter von Abu Mohammad Kurdi?«, fragte sie. Ich nickte. »Ich wohne hier in der Nähe«, fuhr sie fort. »Meine Schwester kennt einen Kurden aus dem Irak, der jetzt in Kanada lebt. Er heißt Sirwan. Er ist für einen Monat hier, und er sucht eine kurdische Braut. Er möchte Ihre Eltern besuchen.« Gemeint war, dass er um meine Hand anhalten wollte. Ich war nicht sicher, was ich davon halten sollte, aber dieser geheimnisvolle Mann, der auf der anderen Seite der Erde lebte, reizte mich durchaus. Ich dachte an meinen Traum: Ein Leben im Westen hatte ich mir immer gewünscht. Wir vereinbarten einen Termin für den Besuch Sirwans.

Ein paar Tage später stand er vor unserer Tür. Wir folgten dem traditionellen muslimischen Protokoll, das vorsieht, dass die zukünftige Braut erst auftaucht, nachdem sich der Heiratswillige und andere Gäste mit den Eltern im Wohnzimmer niedergelassen haben. Sie kommt auch nur dazu, um arabischen Kaffee zu servieren.

Ich betrat das Zimmer mit einem silbernen Tablett, auf dem ich Kaffee und Gläser mit Wasser servierte, hoffend, dass meine zitternden Hände nicht meine Nervosität verraten würden. Ich versuchte, so viel wie möglich mitzubekommen. Schnell und diskret gelang es mir, einen Blick auf Sirwan zu werfen, bevor ich den Raum wieder verließ. Er war wesentlich älter als ich. Tatsächlich trennen uns elf Jahre. Kaum draußen lauschte ich an der Tür, um zu hören, was drinnen gesagt wurde. Doch mein Herz klopfte so heftig, dass ich kaum etwas verstand. Zum Glück spionierte Hivron an diesem Nachmittag für mich. Immer wieder ging sie ins Wohnzimmer und wenn sie rauskam versorgte sie mich mit Lageberichten.

Baba befragte Sirwan. »Was für eine Ausbildung haben Sie?«, wollte er zum Beispiel wissen. – »Ich habe im Irak Jura studiert, konnte mein Studium aber nicht beenden, bevor wir nach Kanada gingen.«

»Wie wollen Sie für meine älteste Tochter sorgen?« – »Zurzeit bin ich Koch in einem Restaurant. Ich werde uns eine schöne Wohnung suchen. Ich kann ihr ein gutes Leben in Kanada bieten.«

Ehrlich gesagt waren mir die finanziellen Arrangements ziemlich gleichgültig. Es war mir auch egal, ob ich mich unsterblich in meinen künftigen Mann verlieben könnte. Mir ging es um den Traum vom Leben im Westen, der endlich wahr werden würde. Mein Vater bestand darauf, dass wir die Ehe in Damaskus schlössen, und das auch erst, wenn die Einwanderungspapiere vollständig vorlägen. Man hörte nämlich immer wieder Geschichten von Männern, die aus dem Ausland nach Syrien kamen, um eine Syrerin zu heiraten, von der sie sich gleich nach der Hochzeit wieder scheiden ließen, und zwar noch bevor die Frauen ein Recht auf Einbürgerung in ihrer neuen Heimat hatten. Diese Frauen wurden dann wie eine Kiste voller Scherben zurück zu ihren Eltern geschickt. Mein Vater wollte alles tun, um mir dieses Schicksal zu ersparen.

Nachdem Sirwan gegangen war, setzte sich meine Mutter zu mir, nahm meine Hand und sagte: »Er scheint ein guter Kerl zu sein. Was hältst du von einem Umzug nach Kanada?« – »Es ist aufregend. Ich möchte unbedingt dorthin«, antwortete ich.

»Es ist sehr weit weg«, sagte Mama. Doch sie lächelte und drückte meine Hand, damit ich ihre Besorgnis nicht sähe.

Mein Vater kehrte ins Zimmer zurück. »Du bist ein Teil meines Herzens. Du bist etwas Besonderes für mich«, sagte er. »Ich weiß nicht, was die Zukunft dir bringen wird. Dieser Mann kann sich als guter oder schlechter Mann entpuppen. Doch du entscheidest.«

Damit begann eine höchst spannende Zeit in meinem Leben. Wenige Tage später holte Sirwan mich ab, und wir gingen ins jüdische Viertel, um Goldringe zu kaufen. In der Woche darauf feierten wir unsere Verlobung. Ich trug ein pinkfarbenes Prinzessinnenkleid mit glitzernden Perlen, und ich sorgte dafür, dass meine Haare einen schicken Fransenschnitt hatten. Dann folgte das bürokratische Prozedere für mein kanadisches Visum. Das Büro in der kanadischen Botschaft wurde mir bestens vertraut. Die Beamten dort waren ausgesprochen freundlich und nett. »Vancouver ist sehr schön«, machten sie mir Mut.

Nachdem wir die Behördengänge erledigt hatten, kehrte Sirwan für die Hochzeit zurück nach Syrien. Die Trauung organisierten wir auf unserer Dachterrasse. Mein Hochzeitskleid hatte ich selbst entworfen: Eigentlich sollte es wie eine Blüte wirken, aber am Ende sah ich eher aus wie ein Marshmallow. Unsere Hochzeitsnacht verbrachten wir im Sheraton. Wir blieben dort zwei Tage. Am Vorabend unserer Abreise nach Kanada verabschiedeten sich meine Familie und meine Freundinnen von mir mit einer Party bei uns zu Hause.

Die Reise nach Kanada war mein erster Flug. Für diesen Anlass wollte ich bestens gekleidet sein: Ich trug ein elegantes weißes Kostüm, mit maßgeschneidertem Rock und einer Schößchen-Jacke mit Rüschen. Ich fühlte mich ungemein stylisch und erwachsen. Die ganze Familie kam zum Flughafen, um Abschied zu nehmen, und mir wurde langsam klar, dass ich tatsächlich dabei war, meine Familie zu verlassen, ohne zu wissen, wann ich sie wiedersehen würde.

»Ich werde euch unendlich vermissen«, rief ich meinen Geschwistern und vor allem Mama und Baba zu, die ich vermutlich hundert Mal küsste und umarmte, bis wir aufgerufen wurden, an Bord zu gehen.

»Melde dich, sobald du angekommen bist«, sagte Mama, ihr Gesicht tränenüberströmt.

»Komm wieder und besuch uns so bald und so oft du kannst«, sagte Baba und kämpfte mit den Tränen.

Im Flugzeug weinte ich. Stundenlang und wenig zur Eleganz meines weißen Kostüms passend. Vor der Landung ging ich mich frischmachen. Ich legte neues Makeup auf und dann – ich erröte noch heute bei der Erinnerung an das, was ich tat – setzte ich mir mein Hochzeitsdiadem auf. Als ich aus der Flugzeugtoilette trat, mit dem Diadem im Haar, applaudierten die anderen Passagiere. Anmutig schritt ich durch den Gang. Ich kam mir vor wie eine Prinzessin, auf deren Weg man Rosen gestreut hat.

Nach der Landung wurden wir von Sirwans zahlreichen Freunden begrüßt. Sie hatten uns am Flughafen erwartet, in traditioneller kurdischer Tracht, damit ich mich willkommen fühlen würde. Allerdings sprachen die meisten von ihnen kein Arabisch, sondern nur irakisches Kurdisch, was sich vom syrisch-kurdischen Dialekt unterscheidet. Eine wirkliche Unterhaltung war daher leider nicht möglich.

Mein Mann hatte ein schönes Apartment für uns gemietet. Es befand sich in North Vancouver, einem in den Bergen gelegenen Vorort, gegenüber vom Hafen und dem Stadtzentrum. Ich fand es wundervoll. Die Stadt glitzerte und glänzte, mit ihren Hochhäusern, umgeben von Wasser und grünen Hügeln. Anders als unser Domizil auf dem Berg in Syrien lag mein neues Zuhause am Fuß eines Berges. Es war eine Erdgeschosswohnung mit einem kleinen Hof, von dem aus man ein Stück der Lions Gate Bridge sehen konnte.

Am nächsten Morgen – mein erster in Kanada – sprang ich aus dem Bett, um meine neue Welt zu erkunden. Ich rief meine Eltern an, um ihnen zu sagen, dass ich gut angekommen war. Kaum hörte ich die Stimme meiner Mutter, kamen mir die Tränen. »Versprich mir, dass du jedes Jahr zu Besuch kommst«, bat sie. Ich versprach es. »Ich komme jedes Jahr. Nichts wird mich davon abhalten.« Ich sagte ihr auch, dass ich es nicht abwarten könnte, Mutter zu werden.

Ich verbrachte viel Zeit im Haus einer kurdischen Freundin von Sirwan, die am Rand des Stadtzentrums lebte. Sie war freundlich und gab mir das Gefühl, willkommen zu sein, doch sie sprach nur wenig Arabisch. Sie und ihr Mann hatten sechs Kinder zwischen zwei und dreizehn Jahren. Bald waren sie meine Ersatzfamilie. Jeden Tag war ich bei ihnen, und manchmal übernachtete ich sogar dort. Mein Mann arbeitete lange Schichten im Restaurant, und nach Feierabend ging er oft mit seinen kurdischen Freunden aus.

Tatsächlich waren die ersten Jahre in Vancouver nicht einfach. Es fiel mir schwer, Englisch zu lernen, und ich konnte anfangs mit kaum jemandem kommunizieren. Ich hatte Sehnsucht nach meiner Familie: nach dem Kaffee am frühen Morgen mit meiner Mutter, nach meinem Vater, seinen Kräutermischungen und seinen weisen Worten, nach den großen Familienmahlzeiten und dem köstlichen Essen, nach den wöchentlichen Tanzpartys mit meinen Tanten, Schwestern und Cousinen. Ich vermisste Abdullahs Scherze und Geschichten, die uns zum Lachen brachten. Mir blieben nur die kurzen wöchentlichen und immer gehetzten Telefonate. Ich hatte ungeheures Heimweh. Ghorbah ist das arabische Wort für dieses Gefühl der Entfremdung, das Gefühl, man hat dir die Wurzeln gekappt, das Gefühl, du hättest ein riesiges Loch im Herzen, das nie mehr gefüllt oder geflickt werden kann.

Bald nach meiner Ankunft in Kanada wurde ich schwanger, was meine ghorbah noch steigerte. In den ersten Schwangerschaftsmonaten war mir häufig übel. Obwohl ich hätte zunehmen sollen, verlor ich an Gewicht. Ich aß kaum noch, bis ich die Pommes Frites bei McDonald’s entdeckte, die erstaunlicherweise das Einzige waren, was ich bei mir behielt. Vermutlich übertrieb ich nun, denn in den letzten drei Schwangerschaftsmonaten wurde ich richtig dick. Ich hatte auch kaum noch Bewegung – kein tägliches Treppensteigen oder Erklimmen steiler Berge auf dem Heimweg mehr.

Der Herbst kam, und es regnete viel. Ich verbrachte die meiste Zeit im Haus. Das feuchte Wetter Vancouvers zog mir in die Knochen, und die Wolken wie der endlos graue Himmel schlugen mir aufs Gemüt. Der Frühling war eine höchst willkommene Abwechslung. Die mächtigen Ahornbäume und Eichen schmückten sich mit leuchtend grünen Blättern, der Rhododendron und die Tulpen erwachten aus langem Schlaf und explodierten in bunter Farbe. In meinem leuchtend gelben Regenmantel wirkte ich so schwanger, dass es aussah, als würde ich ebenfalls jeden Moment platzen.

Mein Sohn Alan wurde im April 1993 geboren. Wir nannten ihn Alan nach dem Alana-Tal, der alten Heimat meines Mannes im irakischen Kurdistan. Ich fand es wundervoll, Mutter zu sein. Gleichzeitig sehnte ich mich noch mehr nach meiner Familie. Ich wollte meine Mama sehen. Jetzt, wo ich ein eigenes Baby hatte, meinen Sohn, fühlte ich mich ihr noch näher. Meine schönste Erinnerung aus dieser Zeit ist meine erste Heimreise nach Damaskus. Im Sommer 1994 machte ich mich auf den Weg. Meine Lieben in Syrien sollten endlich meinen Sohn Alan kennenlernen.

Der Junge am Strand

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