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Prolog

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»Ich kann sie von hier aus sehen«, sagte mein Bruder Abdullah. Dann beschrieb er mir, seiner großen Schwester, die weit weg in Kanada in Sicherheit lebte, die Umrisse der Insel. »Sie ist gleich da drüben«, sagte er. »So nah – und doch so fern.«

Mein Bruder war aus Syrien geflohen. Jetzt stand er auf türkischem Boden und blickte auf Kos, die große, sanft abfallende griechische Insel am Horizont. Tagsüber war Kos eine Fata Morgana in mittlerer Entfernung. Nachts funkelten ihre Lichter wie Sterne. Sie schienen so lebendig, so nah, dass man glaubte, sie berühren zu können. Im Sommer 2015 war der Ort, der dort im Meer flimmerte, für Tausende syrischer Flüchtlinge ein Sprungbrett nach Europa und ihre letzte Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Abdullah schickte mir eine SMS: »Der Schleuser sagt, dass die Überfahrt morgen stattfinden wird. Hundertprozentig.«

»Sprich mit Baba, bevor ihr aufbrecht«, antwortete ich.

Doch dann zog ein heftiges Gewitter auf, mit Windgeschwindigkeiten von bis zu achtzig Stundenkilometern. Das Boot konnte nicht ablegen. Die Überfahrt verzögerte sich. Tagelang.

9. August: »Heute Nacht geht’s los.« Und wieder stürmte es.

10. August: »Wir waren am Treffpunkt; der Schleuser hat uns zurückgeschickt.« – »Was ist mit dem Geld? Ist es verloren?« – »Nein. Wir versuchen es heute Nacht noch mal. Sei unbesorgt, Schwester. Geh schlafen.«

Unbesorgt sein – das war unmöglich. Jedes Mal, wenn ich Abdullahs Nachricht las – »Heute Nacht geht’s los!« –, stockte mir der Atem. Acht Stunden Zeitverschiebung liegen zwischen der Türkei und meiner Heimat Vancouver. Ich hatte mir angewöhnt, früh ins Bett zu gehen. So wachte ich vor Tagesanbruch auf und konnte mein Handy checken. Um meinen Mann nicht zu stören, der sich nach den Arbeitszeiten richten musste, ließ ich mein Handy abends in der Küche liegen. Morgens eilte ich dann gleich dorthin, um nachzuschauen, ob mir jemand geschrieben hatte. Wann immer mein Handy eine neue Nachricht signalisierte, setzte mein Herz aus. Einen ganzen Monat lang ging das so. Jeden Tag.

Nur vier Kilometer trennten meinen Bruder und die Küste von Kos. So nah und doch so fern. Abdullah war in Bodrum, in der Türkei. Geflohen vor den Terrorgruppen, die unser Land Syrien fest im Griff hatten.

Verarmt und illegal hatten er und seine Familie es zunächst bis Istanbul geschafft, wo sie jedoch kaum genügend zu essen hatten und nur mit Mühe ein Dach über dem Kopf fanden. Immerhin: Sie waren am Leben, trotz der Gleichgültigkeit der vielen Regierungen, die ihre Grenzen dicht gemacht hatten. Die Türkei bildete nun den Korridor auf dem Weg nach Griechenland, dem einzigen Land in der Region, von dem aus die Weiterreise in die wenigen nordeuropäischen Staaten, die noch syrische Flüchtlinge aufnahmen, möglich war. Das Leben im Norden gestaltete sich generell etwas leichter. In Deutschland und Schweden konnten Geflüchtete ganz legal Asyl beantragen und sich niederlassen, eine Chance, die die Türkei und andere Nachbarländer Syriens im Nahen Osten nicht boten.

Doch wie sollte mein Bruder mit seiner Familie die griechische Insel erreichen? Dafür musste er seine Frau Rehanna und die beiden kleinen Söhne Ghalib und Alan unbemerkt über die von der griechischen Polizei und Küstenwache streng kontrollierte Ägäis bringen. Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen wurden, schickten diese zurück in die Türkei. Die Region war überdies berüchtigt für heftige Winde, die binnen Sekunden über dem Meer auffrischten, manchmal tagelang wehten und das Wasser zu einer reißenden Bestie machten. Abdullah konnte nur hoffen, dass es ihnen gelingen würde, sicher ans andere Ufer zu gelangen. Sie hatten schon etliche Gefahrenzonen durchquert, bis sie schließlich in der Türkei angelangt waren. Nun glaubten sie fest daran, dass sie die vier Kilometer, die noch vor ihnen lagen, auch noch schaffen würden, um auf der anderen Seite ein neues Leben zu beginnen.

Eine Überfahrt war nur mit der Hilfe von Schleusern möglich. Abdullah hatte keine Wahl, als ihnen zu vertrauen. Ein legaler Transit auf einer der vielen großen Mittelmeerfähren stand außer Frage. Die türkischen Behörden verlangten gültige Papiere für die Ausreise aus der Türkei und die Einreise in die meisten Staaten Europas, einschließlich Griechenlands. Ihre Bedingungen konnten nur reiche Syrer erfüllen, die in der Lage waren, Kontoauszüge, Versicherungspolicen, Passfotos und weitere Dokumente vorzulegen. Zwar hatte Abdullah einen Pass, doch dieser war, wie der der meisten Flüchtlinge, abgelaufen. Der Krieg dauerte schon viele Jahre und es war ihm bislang nicht gelungen, ihn zu verlängern. Rehanna und die Kinder hatten nie einen Pass besessen.

Für teures Geld verkauften Schleuser Plätze in Booten. Dabei war es gleichgültig, wie viel man bezahlte: Es war ihnen nie genug. In der Regel ließen sie deutlich mehr Menschen an Bord, als die zulässige Höchstlast erlaubte. Ihnen ging es nicht um Menschenleben. Ihnen ging es um maximalen Profit.

In jenem Jahr kamen fast eine Million Flüchtlinge auf dem Seeweg via Griechenland nach Europa. Die meisten von ihnen waren Syrer. Im Juni hatte die griechische Küstenwache knapp fünfzigtausend Menschen gerettet, davon ein Viertel Kinder, mehrheitlich unter zwölf Jahren. Fünf Prozent der Flüchtenden waren Babys.

Mein Neffe Ghalib war gerade vier geworden, sein kleiner Bruder Alan war erst 27 Monate alt, als die verzweifelten Eltern sich mit einem Boot auf die gefährliche Reise machten. Was bringt Menschen dazu, diese verwegene Passage zu wagen, das eigene Leben und das ihrer Kinder zu risikieren? Vermutlich kann man das nur verstehen, wenn man selbst auf der Flucht war.

Vier meiner fünf Geschwister hatten sich mit ihren Familien in die Türkei gerettet. Sie besaßen kaum das Nötigste zum Leben. Im Sommer 2015, während der Krieg in Syrien in sein fünftes Jahr ging und kein Ende in Sicht war, wurde ihre Lage immer hoffnungsloser. Wie vielen Flüchtlinge schien ihnen der riskante Seeweg die einzige Lösung. Einige meiner Lieben hatten sich bereits nach Deutschland und Schweden durchgeschlagen, wo es ihnen deutlich besser ging.

Besonders hart war es für die Flüchtlingskinder in der Türkei. Die Jüngeren durften nicht in die Schule gehen und liefen Gefahr, den Anschluss zu verpassen. Die Älteren arbeiteten in Sweatshops, damit ihre Eltern finanziell über die Runden kamen. Dieses Schicksal wollte mein Bruder Abdullah seinen beiden Söhnen ersparen. Was er für sie wünschte, war bescheiden: genug zum Essen, ein Dach über dem Kopf, Bildung und medizinische Versorgung. Diese Grundbedürfnisse konnte er in Syrien nicht befriedigen, und in der Türkei war es kaum leichter.

Ich wusste, was für ein Leben meine Schwestern und Brüder führten, seit sie und ihre Familien 2012 aus Damaskus geflohen waren. Ich hatte ihre prekäre Situation in Istanbul mit eigenen Augen gesehen, als ich sie 2014 besuchte. Damals begann ich, Geld zu sparen, um ihnen zu helfen, die Türkei zu verlassen. Ich nahm Kontakt zu den Behörden auf, um für sie in Kanada Asyl zu beantragen. Mein Mann und ich erklärten uns bereit, die Familie meines ältesten Bruders Mohammad privat zu unterstützen, und auch für Abdullah wollten wir die notwendigen Schritte einleiten. Doch alle unseren Bemühungen waren zum Scheitern verurteilt, nicht zuletzt, weil es unmöglich war, die erforderlichen Papiere aus der kriegszerstörten Heimat zu bekommen. Die Unterstützung für zwei Familien konnten wir uns auch finanziell nicht leisten. Im Sommer 2015 hatte ich jede Hoffnung aufgegeben, dass mein jüngerer Bruder und seine Familie in Kanada Zuflucht finden könnten. Ich überlegte, ihm fünftausend Dollar für einen Fluchthelfer zu schicken, damit er, seine Frau und meine beiden kleinen Neffen die Türkei verlassen könnten. Natürlich war ich unsicher, ob es der richtige Weg war. Sollte ich das wirklich tun? Andererseits war seine Lage verzweifelt und für ihn und die Familie auch gefährlich. Schließlich rang ich mich durch, ihre Reise zu bezahlen. Seitdem ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht gewünscht hätte, mich anders entschieden zu haben, kein Tag, an dem ich nicht gewünscht hätte, dass meine wunderbare Schwägerin und meine süßen Neffen noch lebten.

Ende Juli schickte Abdullah mir eine SMS aus Istanbul: »Das Geld ist da. Nette Leute, deine Freunde.« Sie hatten ihm die letzte Rate für die Schleuserkosten übergeben. Am nächsten Tag machte er sich mit Rehanna und den Kindern auf den Weg nach Izmir, eine Hafenstadt auf halber Strecke zwischen Istanbul und Bodrum, die ein beliebter Treffpunkt für Flüchtlinge und Schleuser war, die hier problemlos »Kundschaft« fanden: Tausende von Flüchtlingen übernachteten in den Parks und öffentlichen Anlagen der Stadt. Sie versorgten sich gegenseitig mit Kontakten zu den Männern, die ihnen für Geld bei der Flucht behilflich waren, und tauschten Erfahrungen aus. Auch Abdullah ließ sich berichten, und er hörte wenig Ermutigendes.

Viele erzählten von albtraumhaften Versuchen, auf winzigen Schlauchbooten das Meer zu überqueren. Mein Bruder und Rehanna waren entsetzt angesichts der Vorstellung, sie sollten in einem Schlauchboot reisen. Sie wollten ein Glasfaserschiff. Abdullah fand einen Fluchthelfer, der ihm allerdings sagte, für ein stabiles Boot würde ihr Geld nicht reichen. Sie sollten sich gute Schwimmwesten kaufen, riet er. Diese wiederum waren nicht einfach aufzutreiben. Ich hatte von Flüchtlingen gehört, die ertrunken waren, weil sich ihre Rettungswesten mit Wasser vollgesogen hatten und so schwer wurden, dass sie die im Meer Treibenden in die Tiefe zogen. Es gab jede Menge minderwertige Ware auf dem Markt. Abdullah wollte nichts falsch machen. Er rief mich von unterwegs an:

»Wie erkenne ich den Unterschied zwischen einer echten Schwimmweste und einer gefälschten?«, fragte er.

»Keine Ahnung. Besorg die teuersten. Wie geht’s den Kindern?« – »Sie sind erkältet. Und Alan bekommt Zähne. Ich habe ihm Beißkekse gekauft.«

Ich erinnere jeden Anruf, jede Nachricht, die Abdullah mir in jenen Tagen schickte. Jede SMS habe ich gespeichert. Zusammen ergeben unsere Korrespondenzen einen detaillierten Bericht über die Ereignisse im Vorfeld der Tragödie. Zugleich sind sie Zeugnis eines Menschenlebens unter extremen Druck. Sie spiegeln unsere Hoffnungen und Ängste in jenen Wochen wider, unsere nagenden Zweifel und Befürchtungen angesichts der riskanten Reise, und natürlich dokumentieren sie unsere ersten Erinnerungen und unser eigenes Leben unmittelbar nachdem das Unfassbare geschah.

11. August: »Sind geblieben.«

Die Tage vergingen, Abdullah weigerte sich beharrlich, ein Schlauchboot zu akzeptieren, und meine Besorgnis wandelte sich in Frustration. Ich drängte ihn, er solle sich entweder auf die Reise begeben oder die Sache abblasen und nach Istanbul zurückkehren. Später, als ich meine eigenen Textnachrichten noch einmal las, hörte ich die nörgelnde Stimme der großen Schwester, die ihren kleinen Bruder bedrängte: Warte, kehr um, pass auf, na los, trau dich, nun mach schon!

Ich übte so viel Druck auf Abdullah aus, dass er mir schließlich ein Video von den gewaltigen Wellen schickte, die ihn und seine Familie immer wieder von der Überfahrt abhielten. Sie machten mir Angst.

21. August: »Schwerer Seegang. Nicht mitgefahren.«

Meine Antwort am nächsten Morgen: »Wo seid ihr? Was ist los?«

»Unterwegs. Gestern Nacht waren die Wellen zu hoch. Wenn der Oberschleuser seinen Männern sagt, sie sollen nicht raus, dann war’s das. Dann fährt keiner.«

25. August: »Heute Nacht!« Das Wetter war perfekt. Sie waren am vereinbarten Ort. Der Schleuser kam, und mindestens vierzig weitere Flüchtlinge, die sich ins Boot zwängen sollten. Abdullah weigerte sich, an Bord zu gehen.

27. August: »Heute ruhige See. Aber der Schleuser hatte nur ein Schlauchboot. Ich nehme kein Schlauchboot.«

Textnachricht am Abend desselben Tages: »Das Meer ist friedlich. Rehannas und mein Herz sagt: Morgen.« Ich rief ihn sofort an. In der Türkei war es bereits der Vormittag des 28. August. Alan lachte im Hintergrund. Der Junge war immer fröhlich. Ghalib aber war nervös. »Tante«, sagte er, »ich habe gerade Opa Shikho angerufen.« Er hatte Rehannas Vater gebeten, ihn abzuholen: »Ich habe gesagt, ich will zurück in mein Zimmer mit den Spielsachen. Opa sagt, sie sind noch da. Ich habe ihn gefragt, ob er nicht kommen und mich nach Hause bringen kann.«

Ein solches Telefongespräch mit dem eigenen Enkel bricht einem das Herz! Wie erklärt man zwei Kindern, dass es ihr Zuhause nicht mehr gibt, dass es nie wieder so sein wird, wie es war? Alan war noch sehr klein. Er sprach noch keine ganzen Sätze. Wenn er etwas haben wollte – eine Banane, ein Stofftier, ein Segelboot am Horizont – zeigte er darauf. Seine Wünsche und Träume konnte er nicht einmal mit Worten ausdrücken. Um die Aufmerksamkeit seines Papas zu wecken, nahm er dessen Gesicht in seine Händchen und blickte ihm tief in die Augen. Dann lachte er oder steckte die Zunge raus. In diesen unsagbar anstrengenden Tagen war das so, als wollte er sagen: »Lächle, Papa. Alles wird gut.«

Oft klangen Abdullahs Textnachrichten geradezu tröstlich. Rückblickend frage ich mich, ob er sich vielleicht selbst Mut machen wollte, dass Freiheit, Rechte und ein würdiges Leben in Reichweite wären, dass auch er eine Heimat finden könnte, und sei es auch nur eine provisorische.

Am nächsten Morgen las ich eine weitere kurze SMS von ihm: »Nicht losgefahren.«

Als Abdullah das nächste Mal schrieb – »Inschallah geht es heute Nacht los« – erwartete ich am Folgetag wieder eine Absage: »Nicht gefahren.«

31. August: Kein Wort von Abdullah. Eine lange Serie von SMS endet mit mindestens einem halben Dutzend Fragen von mir: »Wo bist du?«, »Wo seid ihr?«, »Was ist los?«, und der Bitte: »Melde dich!«

Meine Fragen, mein Flehen, meine Textnachrichten blieben ohne Antwort. Sie landeten auf dem Meeresgrund.


Am 2. September 2015 fanden Rehanna, Ghalib und Alan Kurdi im Mittelmeer den Tod. Seit jenem Tag habe ich mich tausendfach gefragt: »Warum sie? Warum wir?« Ich marterte mich ab dem ersten Moment, in dem ich es wusste. Unablässig. Ich war verzweifelt und tieftraurig. Dann wieder teilte ich aus, in alle Richtungen. Ich wütete gegen die Regierungen, die unzähligen Menschen einen sicheren Hafen versagen oder sich weigern, die Papiere auszustellen, die ihnen ermöglichen, ihr Recht auf die Erfüllung ihrer überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse geltend zu machen. Ich konfrontierte die Soldaten, die Rebellen und die IS-Terroristen, die unsere Heimat in Damaskus und Kobane in Blut baden, mit Fragen: »Warum? Wofür kämpft ihr? Öl? Politische Ideologien? Religion? Macht? Vergeltung?« Ich appellierte an die Behörden der Welt, im Nahen Osten, Westeuropa, Amerika und Kanada. »Wir sind keine Tiere. Wir sind Menschen wie ihr. Warum hört ihr nicht auf eure Herzen? Hört auf eure Vernunft und bereitet diesem Krieg ein Ende!« Ich nahm mir die Schlepper und Menschenhändler vor, die von all diesem Elend profitieren: »Warum ist euch Geld wichtiger als ein Menschenleben?«

Immer wieder stellte ich mir die Insel Kos vor, die schroffen Felsen Griechenlands, die Wiege der westlichen Zivilisation, die meine Brüder und Schwestern von der Küste bei Bodrum aus sehen konnten. Eine kurze Reise nur. Vier Kilometer. Hätte die Insel nicht ein wenig näher sein können? Ich fragte das Meer, ich fragte den Wind: »Warum habt ihr uns unsere Liebsten genommen?« Die Medien fragte ich: »Warum habt ihr das Leid der Flüchtlinge so lange ignoriert? Bis jede Rettung für meine Neffen und meine Schwägerin zu spät kam. Und warum redeten einige von euch auch noch schlecht über Abdullah, nachdem er alles verloren hatte?« Ich rief zu Gott: »Warum?« Manchmal antwortete er nicht. Manchmal stellte er eine Gegenfrage. Manchmal konnte ich antworten. Manchmal blieb ich stumm.

Die heftigste Kritik aber richtete ich gegen mich selbst, gegen eine einfache Frau mittleren Alters, die trotz allem weiterlebte: die Lebensmittel einkaufte, für die Familie kochte und am Ende des Tages ihren Kopf auf das Kissen bettete. Doch nur mein Körper agierte. Mein Kopf war anderswo. In einem grell erleuchteten Verhörzimmer saß ich mir selbst gegenüber. Ich starrte mich an und forderte Antworten: »Warum hast du Abdullah das Geld für den Schleuser geschickt? Warum gabst du ihm nicht mehr, damit er ein sicheres, seetüchtiges Boot hätte nehmen können? Warum bist du nicht nach Bodrum gefahren und hast als Touristin oder Urlauberin ein Motorboot gemietet, um deine Familie übers Meer zu bringen? Warum hast du dich nicht gleich, als der Krieg in Syrien begann, darum bemüht, sie nach Kanada zu holen? Warum warst du so dumm und naiv? So egoistisch?« Verloren trieb ich auf dem Meer. Oder ich sank wie ein Stein – und ertrank.

Irgendwann vor der Tragödie begann meine Familie, von geborgter Zeit zu leben. Wann fing das an? Wie lange ist das her? Als der IS kam und die Heimat meiner Vorfahren in den Würgegriff nahm? Viele Jahre früher, als Rehanna mit Ghalib schwanger war, und die ersten Proteste gegen die Regierung laut wurden? Jahrzehnte zuvor, nachdem ich als junge Frau das Land verlassen und nach Kanada ausgewandert war? Bevor ich geboren wurde?

Wenn du aus einem Alptraum erwachst, streckst du die Hand aus nach deinen Liebsten, suchst Trost, Wärme, Sicherheit. In der Familie diskutieren wir oft über unseren Wachtraum-Alptraum, und die Gespräche führen uns zurück in die Vergangenheit, zu den Erinnerungen, zu unserem früheren Leben als Familie, als Volk. Wir sprechen darüber, wie das Leben vorher war. Vielleicht suchen wir einen Ort, der uns ein Zuhause sein könnte, gleichgültig, ob wir dort oder anderswo schon einmal gelebt haben. Eine menschgemachte Katastrophe zwang uns, die Heimat zu verlassen. Einen kleinen Trost fanden wir im Wissen, dass wir unsere Geschichte tief in uns drinnen mitnahmen.

Ich begann dieses Buch im August 2016, einen Monat vor dem Jahrestag der Tragödie. Abdullah lag auf der Intensivstation eines türkischen Krankenhauses, sein Leben hing am seidenen Faden. Oft fiel er ins Delirium, rief seine Frau und seine Söhne. »Ich muss Kleidung für sie besorgen, Wasser, Lebensmittel«, als würde er immer noch die Überfahrt vorbereiten. Die Ärzte sagten mir, er benötige eine Herz-OP. Die Wahrscheinlichkeit, dass er sterben würde, betrug achtzig Prozent. Als unser Vater das hörte, sagte er: »Wie gern würde ich meinem Sohn mein Herz geben.«

Dann wurde auch unser Vater ins Hospital von Damaskus eingeliefert. Er wollte nicht, dass ich mir Sorgen mache. Ich wusste nicht genau, was ihm fehlte, aber ich bin fest davon überzeugt, dass er krank wurde, weil sein Herz gebrochen war.

Selbst in den Augenblicken tiefster Verzweiflung spürte ich, dass wir, die Lebenden, Glück gehabt hatten, dass wir noch einmal davongekommen waren. Wir hatten viele geliebte Menschen verloren, viel zu viele, und nichts würde sie zurückbringen, doch wir waren am Leben. Uns blieb die Erinnerung, uns blieben zahlreiche zauberhafte Kinder und Enkel, denen wir unsere Geschichte erzählen würden. Es war und ist uns eine Ehre und Pflicht, diese Erinnerungen an die nächste Generation weiterzugeben, sie aufzuschreiben, sie zu teilen – mit unseren Verwandten und mit der ganzen Welt. Ich schreibe dieses Buch, um die Geschichte von Abdullahs Familie zu dokumentieren, ihren Fortbestand zu sichern, damit sie nicht vergessen wird.

»Millionen Flüchtlinge sind in der gleichen verzweifelten Lage wie wir«, sagte mir Abdullah jedes Mal, wenn ich ihn drängte, mehr zu erzählen. Seine Geschichte ist ein Zeugnis. Sie belegt die Erfahrungen von Millionen Flüchtlingen und von den zahlreichen Opfern der Kriege und Genozide überall in der Welt.

Als Sie das Foto des kleinen Jungen sahen, das Bild meines lieben Neffen Alan, gestorben an einem Strand in der Ferne, wurden Sie Teil unserer Familie. Jetzt teilen Sie unseren Schrecken, unseren Herzschmerz, unseren Schock, unsere Wut. Sie wollen das Kind retten – und wissen, dass es zu spät ist. In Ihrer Trauer strecken Sie die Hand aus. Sie nehmen meine Hand und ziehen mich an sich. Gemeinsam mit meiner Familie stimmen Sie ein in den Trauergesang. Sie retten mich vor dem Ertrinken.

Ich hoffe, dass meine Worte dazu beitragen, uns einander näher zu bringen. Ich hoffe, dass meine Geschichte, so tragisch sie auch ist, die Saat der Hoffnung in Ihr Herz und Ihren Kopf pflanzen kann. Ich wünsche mir, dass meine Geschichte Sie aufweckt, damit Sie gemeinsam mit mir für all jene Menschen die Stimme erheben, die nicht gehört werden. Und für alle Kinder, die uns genommen wurden, bevor sie sprechen konnten.

In Syrien und anderen arabischen Ländern sagen wir zu den Älteren »Tante« und »Onkel«. Das gilt für Fremde wie für Freunde und Familie. Wenn Sie älter sind als ich, dann sind Sie meine Tante, mein Onkel. Sind Sie jünger, bin ich Ihre Tante. Jetzt sind unsere Schicksale miteinander verwoben. Jetzt sind wir alle eine Familie.

Der Junge am Strand

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