Читать книгу Eine kleine verrückte Reise - Timo Matys - Страница 5

2 – Die Abfahrt

Оглавление

Claudia saß hinten im Bus. Sie war schon ganz ungeduldig, denn der Bus hatte bereits vor einigen Minuten abfahren sollen. Wartezeiten machten sie nervös, auch wenn sie sonst immer planlos war, so fühlte sie sich zumindest. Sie dachte an ihre Mutter zuhause und was sie wohl sagen würde, wenn sie ihr von dieser Reise erzählt hätte, - hatte sie nicht. Sie beruhigte ihre immer wechselnde Sorge, ob sie alles richtig gemacht hatte, doch ganz wollte der Gedanke nicht verschwinden. Ganz so wie ihre Gedanken ohnehin nicht verschwanden. Sie blieben einfach, drängten sich auf, die Psychiaterin hatte sie 'drängende Gedanken' genannt. Schöner als 'Zwangsgedanken', dachte sie. Was für eine Idee auch diese Fahrt, wer kam auf solche Ideen? Und doch fühlte sie sich unter ihresgleichen und eigentümlich sicher.

Sie blickte aus dem Fenster, um vielleicht dort den Grund für die verspätete Abreise zu finden. Aber dort war nur die Werbung für irgendeinen Film oder so etwas. VolkSang hieß er wohl, und es ging um das Waschen oder das Taufen von Kindern. Merkwürdiges Bild, war es überhaupt ein Bild? Sie wusste es nicht. Wie immer ahnungslos, dachte sie.

Vorne bewegte sich etwas. Ein hässlicher alter Mann hastete herein, schwer bepackt mit Koffer und Taschen. Ein Nachzügler also. Sie schenkte ihm keine weitere Beachtung, sondern zog den Reisekatalog hervor, der ihnen beim Einsteigen gereicht worden war.

Insane Travels - Eine Möglichkeit, inneren Frieden zu finden

Willkommen zu unserem Reiseprogramm. Sie werden in den nächsten Tagen allesamt eine Reise in ein unbekanntes und aufregendes Land Ihrer Wahl unternehmen. Sie werden neue Städte kennenlernen, neue Gesichter und alte Statuen. Doch das Wichtigste sind Ihre Mitpatienten, sie werden...

"Ist hier noch frei?" Eine Stimme ließ sie aufschrecken. Es war der dicke alte Mann, der zuletzt vorne eingestiegen war. Etwas angewidert zwang sie sich zu einem Lächeln:

"Natürlich, bitte sehr."

Der Mann setzte sich schwerfällig neben sie und zog direkt sein Handy aus seiner Tasche. Sie konnte verstohlen erkennen, dass er vermutlich eine Nachricht suchte, wo keine Nachricht war. Unglücklich verheiratet, schloss sie. Sie suchte nach einem Ehering am Finger, fand aber keinen. Typ unromantisch, dachte sie. Sie hörte, wie der Mann sich zurücklehnte und schwerfällig ausatmete, es roch nach Gebratenem. Angeekelt drückte sie ihr Gesicht an die Fensterscheibe, doch der Geruch verblieb.

"Ich bin Rudolph", sagte der Mann.

"Claudia", murmelte sie.

"Und was haben Sie, darf ich fragen?"

Sie tat so, als hätte sie ihn nicht gehört.

"Ich bin übrigens Lehrer von Beruf... aber ausgebrannt, wenn man das so sagen kann..."

"Ich bin auch Lehrerin", kam eine Stimme von hinten, eine ältere Frauenstimme, so nahm Claudia es wahr.

"Ah." Rudolph schien erleichtert, eine Leidensgenossin gefunden zu haben, und sogleich entwickelte sich ein Gespräch, so fürchtete Claudia.

"Was unterrichten Sie denn?"

Es war dies wohl die Standardfrage im Lehrerzimmer. Claudia hatte das Lehrerzimmer immer gehasst, ein Ort von geistigen pseudotischen - das Wort hatte sie sich damals selbst ausgedacht - Höhenflügen und arrogantem Standesdünkel, sie hasste das Lehrerzimmer; sie hasste die feinen Anzüge, in die sich diese Leute hüllten, sie hasste ihre stocksteif angelegten Frisuren, ihre holzarmen Schuhe - wie konnte man nur Tiere töten? -, sie hasste sie vielleicht auch einfach so.

"Geschichte und Englisch", sagte die Stimme von hinten.

Vergangenheitsalternde, und auch noch fremdsprachig. Sie beherrschte keine Fremdsprache. Fremdsprachen waren unnütz.

"Ah, Geschichte und Englisch..., mein Zweitfach ist Religion, katholisch…“

Nun redeten sie über ihre Zweitfächer… Lehrer, es war typisch, dass diese Pseudogebildeten ihre Überlegenheit zur Schau stellen mussten, typisch, dass sie neben dem ach so tollen Erstfach auch ihr Zweitfach in die Welt hinausposaunen mussten. Claudia versuchte, sich auf das Fenster zu konzentrieren, doch draußen prangte nur die Werbung für diesen Film. Wieder so etwas Spießiges, hoffentlich wurde die ganze Reise nicht so.

„Und mögen Sie Ihre Schüler?“

„Aber natürlich.“

„Und darf ich den Namen Ihres Lieblingsschülers erfahren?“

Oh Gott…

„Heinrich“, sagte der Mann. „Er hieß tatsächlich Heinrich, sehr altmodisch…“

„Das ist aber ganz reizend, ich meine, weniger reizend, dass Sie hieß sagen.“

„Ach so, nein…“

„Nein?“

„Hieß, weil ich nicht mehr im Dienst bin, er ist nicht mehr mein Schüler.“

„Nicht mehr Dienst? Nun ja, ich bin zurzeit auch vom Unterricht freigestellt, anders wäre das hier ja gar nicht möglich. Sagen Sie, was hat denn Ihr Heinrich so Brillantes angestellt?“

„Oh, er hat gemalt, gemalt wie ein Künstler, und seine Interpretationsgabe…, wir nahmen ein Bild und er hat es sofort richtig gedeutet, wie aus dem Lehrbuch.“

„Daran verzweifelt ja selbst unser einer oft, haha…“

„In der Tat…“

Es war nicht mehr zu ertragen, sie hätte vielleicht aufgeschrien, wenn nicht von vorne im Bus eine Stimme ertönt wäre.

„Ich darf Sie alle begrüßen auf dieser Kult-Tour, Kulturreise, Kultur- und Genesungsreise. Wir werden Sie wieder gesund machen, das verspreche ich. Nichts geht über eine schöne Reise ins beschauliche Italien, gar nicht so beschaulich, sollte ich sagen. Wir haben alles an Bord, was wir brauchen. Backboards eine kleine Küche, steuerbords eine Schachtel mit Medikamenten. Ich stelle mich vor: Manuel Zurst, Psychiater und Psychotherapeut, Ihr treuer Begleiter und, vielleicht bald, Freund…

Ich gebe Ihnen nun einen Überblick über die Reise. Sie führt uns von hier über Duisburg nach Köln, wo wir uns die beschaulichen kleinen drei Königsgräber ansehen werden. Dort stoßen dann auch die letzten Mitreisenden zu uns, die uns auf diesem unserem großartigen Abenteuer begleiten werden. Umgeben von diesen freundlichen, aber leider kranken, Menschen werden wir nach München fahren, wo wir übernachten, 3-Sterne-Hotel, die Krankenkasse muss es sich ja schließlich leisten können. Und dann kommen wir ins eigentliche Land der Träume, Italien, wo uns Wunder und Menschen erwarten. Doch nun, genug geredet, hier ist Ihr Reiseleiter, der noch mehr redet: Roland, du darfst“, ertönte eine recht helle Stimme, deren Sprecher wohl in den Dreißigern sein musste, von vorne im Bus.

„Meine Damen und Herren“, hier kam eine ältere Stimme. „Mein Name ist Roland Grossfuss, ich bin Ihr Reiseleiter. Mein Leben zeichneten viele Irrungen und Wirrungen aus. Aus einem gutbürgerlichen Elternhause stammend, gelangte ich alsdann aufs Gymnasium und studierte Kunst und Latein, ja, Latein.“ Er lachte und erwartete wohl auch ein Lachen vonseiten der Reisenden. „Und als mir die Latte dann auf den Kopf fiel, beschloss ich, diesen Job zu übernehmen. Macht mehr Spaß als Lehrer…“ Noch ein Lehrer… „…und wir haben es ja eh lieber mit Erwachsenen zu tun als mit unreifen Jugendlichen, nicht?“ Er lachte wieder. „Nun denn, auf ans Werk, wir fahren los. Ich setze mich ans Steuer und fahre Sie, wohin Sie wollen, nämlich nach Duisburg. Wir treffen in etwa einer Stunde ein.“

Claudia kroch die Angst hoch. Bildungsreise, Lehrer? Ihre Vorstellung von Italien entsprach einem Land mit Sonne, braunen Menschen, - von der Sonne braungebräunt – und weißen Stränden, an denen man Cocktails schlürfte. Etwas spießiger zwar als das Camp der Baumliebenden... Ach, das Camp der Baumliebenden, CdB. Vor 10 Jahren war sie eine unbedarfte junge Frau gewesen, naiv im Glauben daran, eine Ausbildung zur Sozialhelferin sei ein erstrebenswerter Beruf, da man ja Menschen helfen konnte, doch sie wurde bitterst von der Realität enttäuscht. Die ersten Drogensüchtigen, mit denen sie zu tun gehabt hatte, hatten sich ständig mit Nadeln die Haut aufgeritzt. Wo sie doch kein Blut sehen konnte. Sie hatte den Job anderthalb Jahre durchgehalten und war dann zusammengebrochen. Die anschließende Ausbildung zur Ergotherapeutin hatte sie in der Klinik begonnen, begonnen, sagte sie, weil die Ergotherapeutin in der Klinik sie darauf gebracht hatte. Aber das CdB hatte ihr Hoffnung gegeben, direkt nach dem Klinikaufenthalt. Sie waren in den Süden Deutschlands gefahren, an einen der Seen. Dort hatte es grünes Wasser gegeben, weiche, angenehme Luft und gleichzeitig, am wichtigsten, freundliche Menschen, normale Menschen. Damals hatte sie ihren Hang zum Gras gefunden. Grünes Gras, nicht jenes, welches man rauchte. Das hatten die anderen gemacht. Sie hatte einen Mann kennengelernt, Thomas, damals 32, mit langen, braunen Haaren, muskulösen Oberarmen. Er hatte Gitarre gespielt, abends, am Lagerfeuer, und sie hatten zusammen gesungen. Das war vor 10 Jahren gewesen. Nach ihrer Rückkehr aus Süddeutschland war sie erneut zusammengebrochen, als die Ausbildung wieder anfing. Der anschließende Klinikaufenthalt zählte zu den düstersten Kapiteln ihres Lebens. Dunkelheit. Trauer, um sich selbst. Paroxetin – sie war gegen die Wand gerannt vor Unruhe, Mirtazapin – sie hatte nur noch geschlafen, schließlich Mirtazapin und viel Trinken. Sie war immer noch müde, müde von einem Leben, das, so fühlte sie, ihr nichts bot und nichts mehr bieten konnte, so dachte sie manchmal. Aber diese Reise war eine gute Idee gewesen, eine gute Idee bis gerade eben, bis sie von diesen Bildungsmenschen gehört hatte. Sie griff nach ihrer Tasche und wollte die letzten Reste des ihr vor drei Monaten verschriebenen Beruhigungsmittels hervorholen, aber sie befürchtete, dass man sie dabei beobachten könnte. Sie war zwar unter Kranken, aber nichts würde sie dazu bringen, sich vor ihnen innerlich zu entblößen, dachte sie.

Der Bus setzte an.

Eine kleine verrückte Reise

Подняться наверх