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3 – Nach der Abfahrt

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Rudolph war guter Dinge, dass diese Reise ausgezeichnet werden würde. Er konnte zwar sowohl Reiseleiter, da ebenfalls Kunstlehrer – und pensioniert! -, - Kunstlehrer waren die Schlimmsten! -, als auch Bordpsychologe, da Psychologe, nicht leiden, aber die Aussicht auf diese ganzen netten Menschen, von denen sogar einer der beiden, Bordpsychologe oder Reiseleiter, gesprochen hatte, von denen er nun schon einen, eine, kennengelernt hatte, erfüllte ihn mit Wohlgenuss. Und was war mit dieser jungen Frau neben ihm? Sie wirkte etwas aufgelöst und hatte seine Ankunft merklich nicht gerade positiv aufgenommen.

Rudolph seufzte. Egal. Er lehnte sich zurück in seinen bequemen Ledersessel, vermutlich Kunstleder, und entspannte. Er ließ seinen Geist wandern. Was war eine Reise anderes als eine Fahrt ins Ungewisse, so wie sie, daran erinnerte er sich aus dem Studium, Columbus unternommen hatte. Man würde lange Zeit auf See sein, Stürme und Gefährdnisse auf sich nehmen müssen, und weiterhin viel Ruhe brauchen, doch die Aussicht auf die Eingeborenen, und die Kameradschaft, die auf See erlebt wurde, ließen seine Hoffnung höher steigen. Eine schlechte Metapher, dachte er, aber er neigte nunmal zur Mittelmäßigkeit.

„Sind Sie nicht auch gespannt, was es alles zu sehen geben wird?“, brachte sich die nette Frau von hinten wieder stimmlich zum Vorschein.

„Natürlich“, brummte er.

„Ich war noch nie in Venedig, es soll ganz ausgezeichnet dort sein, - und wir werden die Maskensaison mitkriegen. Karneval.“

„Karneval, ja… das interessiert mich auch…“

„Haben Sie auch an die Kunstwerke in Venedig gedacht? Tintoretto, Tiepolo, Tizian. Und dann Dürer, wussten Sie, dass Dürer in Venedig tätig war? Der neue Dürer, nicht der des 16. Jahrhunderts… Das müsste Sie als Kunstlehrer doch gerade interessieren.“

„Oh ja, das tut es“, log er. „Ich mochte Bilder immer schon. Schon als kleines Kind habe ich gerne gemalt.“

„Wirklich? Haben Sie Fotos davon? Und malen Sie heute auch? Ich bin übrigens Romilda…“

„Neinnein, heute nicht mehr. Ich bin da sozusagen herausgewachsen.“

Eine kurze Stille trat ein, während derer Romilda wohl nach einem Weg suchte, das Gespräch fortzusetzen. Rudolph dachte plötzlich an seine Frau, verdrängte den Gedanken aber sofort wieder. Sie war auch Lehrerin, anscheinend waren alle Leute, mit denen er in seinem Leben zu tun hatte, im Lehrberuf tätig. Sein Vater war auch schon Lehrer gewesen: Sportlehrer. Abends war er stets schweißüberströmt nach Hause gekommen und hatte, vorlaut, wie Rudolph es mit zunehmendem Alter und abnehmender Achtung vor den Älteren empfunden hatte, getönt: „Heute war Friedrich im Schulunterricht wieder tüchtig.“ Tüchtig war überhaupt ein Wort, das er geliebt hatte, vermutlich, ohne ihm überhaupt eine wirkliche Bedeutung beizumessen oder seine tatsächliche Bedeutung angeben zu können. Was bedeutete „tüchtig“? Fleißig, ehrlich? Auch er konnte es nicht sagen. Sein Vater hatte ihn ungeschickliches Kind dazu gezwungen, neben der Schule Sport zu betreiben, und kommentierte das stets mit dem Lateinischen „optimum“, dem vermutlich einzigen lateinischen Wort, welches er beherrschte. Rudolph fragte sich, ob nicht der alte Lateinlehrer seines Vaters, so es denn ein Lehrer gewesen war, Schuld an den Qualen seiner Kindheit trug.

„Und was halten Sie denn von Dürer?“, fragte Romilda, wohl um das Gespräch erneut in Gang zu bringen. „Claus Dürer“, fügte sie hinzu.

Er musste überlegen. Er hasste niemanden mehr als den neuen Dürer und seine Bilder der Mutter Gottes.

„Seine Trilogie des Wahnsinns ist doch beeindruckend, nicht?“

Rudolph musste an die Bilder denken. Bilder, wieder Bilder. Heute Morgen erst war er Dürers Bild wieder begegnet, in Form einer Werbung für die Ausstellung im VolkSang-Museum. Aber das war die wahnsinnige Maria gewesen und die war kein Teil der Trilogie des Wahnsinns, auch wenn die thematische Ähnlichkeit unverkennbar war. Die Trilogie des Wahnsinns, drei Ölgemälde, in kurzlebiger Strichtechnik verfasst, Anleihen bei der chinesischen Malerei nehmend. Das erste Gemälde hieß „Der König“, es zeigte einen alten Mann im ebenso alten Altersheim, wie er in seinem Bett lag und eine Topfpflanze neben sich auf dem Bett stehen hatte; das zweite hieß „Der Hund“ und zeigte einen Businessman, wie man modern wohl gesagt hätte, der auf der Straße, grinsend dreinblickend, auf einer Bananenschale ausrutschte. Das dritte Bild der Trilogie schließlich war verschollen, hieß aber, das war allgemein bekannt, „Der Vogel“ und zeigte, so hatte Dürer es später angegeben, einen Mann, der, ikarusgleich, glaubte fliegen zu können.

„Ja, sehr beeindruckend.“ Ihm war bewusst, dass er nun seine eigene Ansicht ausführen musste, um das Gespräch am Laufen zu halten.

„Man hat das dritte Werk ja nie aufgefunden“, sagte er.

„Wie wahr… eine Schande… man sollte meinen, dass die Maler, die doch Wertschätzung vor ihren Bildern haben, vorsichtiger mit ihnen umgehen.“

„Tun sie nicht, tut Heinrich auch nicht…“

„Heinrich?“

„Mein Schüler.“

„Achso, den Namen konnte ich nicht mehr zuordnen.“

Heinrich hatte viel gemalt, schon in der 6. Klasse, - und er hatte ihn 5 Jahre lang begleitet, die 7. und 8. nicht, dann aber fast bis zum Abitur; und Heinrich hatte inzwischen ein gutes Abitur abgelegt, dessen war sich Rudolph sicher. Und er hatte Claus Dürer nie gemocht, lehnte dessen Stil als „vollkommen verfremdelnd“ ab und auch die Thematik sagte ihm nicht zu. Heinrich hatte stets realistisch gemalt, im Stile des Klassizismus. Er hatte ihm davon abraten wollen, doch Heinrich blieb dabei und so hatte Rudolph einen Teil seiner Achtung vor der modernen Malerei verloren.

„Achja, das ist nicht weiter schlimm. Aber Sie müssten mal seine Bilder sehen.“

„Oh“, seufzte sie theatralisch. „Das müssen Meisterwerke sein.“

Rudolph schreckte innerlich auf. Die Frau neben ihm weinte.

Eine kleine verrückte Reise

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