Читать книгу Bob Marley - Catch a Fire - Timothy White - Страница 7

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»Tatsachen? Über Jamaika? Aha! Ich liebe es, wenn die Leute vom

Lande sagen, es gäbe keine Tatsachen auf Jamaika. Das klingt so

poetisch und geheimnisvoll, aber sie haben natürlich absolut recht.

Wenn man darüber nachdenkt, gibt es wirklich keine. Keine einzige.«

Chris Blackwell, 1982

»Tatsachen und Tatsachen, und Sachen und Sachen, das ist alles

verdammter Unsinn. Glaubt mir! Es gibt keine Wahrheit außer der

einen Wahrheit, und das ist die Wahrheit von Jah Rastafari!«

Bob Marley, 1978

»Der eine, der hat’s zu tun mit Information. Und der andere, der hat’s

zu tun mit einer Vorstellung von Wahrheit. Und dann ist da wieder

einer, der hat’s zu tun mit Magie. Information, die fließt um dich

herum, und die Wahrheit, die fließt auf dich zu. Aber Magie, die fließt

durch dich hindurch.«

Nernelly, ein jamaikanischer »bush doctor«, 1982

Es war kurz vor Mitternacht, und in den Beifall des auserwählten Publikums mischten sich die Rufe der zerlumpten Leute, die in Massen über die Mauern kletterten, von denen das Rufaro Stadion in Salisbury, der Hauptstadt von Simbabwe, umgeben ist. Plötzlich drehte sich der Wind, und Wolken von Tränengas, das die Polizei außerhalb der Arena benutzte, um die Menge im Zaum zu halten, trieben über das Gelände und reizten die Augen des Mannes, der auf der kleinen Bühne in der Mitte der Arena auftrat. Für einen Augenblick verlor er die Orientierung und lief aufgeregt hin und her, bis er schließlich durch ein Loch in dem Dunst, der so furchtbar in den Augen brennt, hervorstolperte. Soldaten, die M16-Gewehre schwenkten, führten ihn seitlich von der Bühne hinunter in einen Wohnwagen, wo er sich die Augen mit einem wassergetränkten Lappen abtupfte.

Das Konzert, das seit ungefähr zwanzig Minuten in Gang war, gehörte zu den offiziellen Feierlichkeiten am 18. April 1980, dem ersten Tag der Unabhängigkeit des neuen Nationalstaates Simbabwe. Die zahlenden Gäste und Würdenträger (unter ihnen der marxistische Premierminister Robert Mugabe und Prinz Charles von England), die sich versammelt hatten, um zu feiern, dass man endlich die Tyrannei der weißen Kolonialherrschaft abgeschüttelt hatte, wurden jetzt Zeugen einer anderen Art von Unterdrückung: Tausende von begeisterten Bauern und untersten Dienstgraden der Revolutionsarmee hatten sich vor der Arena versammelt, weil sie hofften, den Auftritt des international höchstgeschätzten Reggae-Musikers Bob Marley miterleben zu können, des Helden der schwarzen Freiheitskämpfer allerorten und des charismatischen Botschafters des modernen Pan-Afrikanismus. Von den pulsierenden Reggae-Rhythmen mitgerissen, die herausklangen, versuchten die Fans in immer neuen Angriffswellen die Tore zu stürmen. Die Polizei reagierte mit Tränengas und Gewehrsalven über die Köpfe des wogenden Mobs, aber die Leute ließen sich nicht zurückhalten und drängten über die Mauern.

Marley schob die dicken, zopfartigen Strähnen seiner Dreadlocks (lange, verfilzte Haarstränge) aus seinen geschwollenen Augen und warf einen suchenden Blick hinaus in die Dunkelheit jenseits des blendenden Bühnenlichts. Schreie und Rufe waren zu hören und das dumpfe Geräusch von Polizeiknüppeln, die auf Körper trafen. Aus der Entfernung sah es so aus, als würde eine wahre Menschenflut, die drohte, über die Brüstungen des Stadions hereinzubrechen, zurückschlagen. Sie waren zusammengeströmt, um begeistert die Befreiung von dem Joch weißer Unterdrückung zu feiern, und jetzt musste ein großer Teil der schwarzen Bevölkerung dieser Stadt für das simple Recht kämpfen, Reggae hören zu dürfen.

»Wahnsinn«, sagte Marley leise. Er spürte den festen Griff einer Soldatenhand an seinem linken Arm und wurde in Sicherheit geleitet. Fünfundvierzig Minuten später war dann die Ordnung wiederhergestellt, und Marley kehrte zurück auf die Bühne, um jenen Schlachtgesang darzubieten, den er im Jahr zuvor über den revolutionären Kampf dieses Landes geschrieben hatte.

To divide and rule

Could only tear us apart

In everyman chest

There beats a heart

So soon we’ll find out

Who is the real revolutionaries

And I don’t want my people

To be tricked by mercenaries

Natty dread it in a Zimbabwe …

Africans a liberate Zimbabwe …

Zu teilen und zu herrschen

Kann uns nur auseinanderreißen

In jedermanns Brust

Schlägt ein Herz

Und bald werden wir feststellen

Wer die wahren Revolutionäre sind

Und ich will nicht, dass mein Volk

Betrogen wird von Söldnern

Natty Dread in Simbabwe …

Afrikaner befreien Simbabwe …

Aber Marleys Gesang fehlten Biss und Schärfe. Das Schauspiel, das er zuvor hatte miterleben müssen, hatte seine Vision schwarzafrikanischer Solidarität erschüttert, mit der er nach Simbabwe gekommen war.

Vier Jahre zuvor hatte Bob Marley mit der Hand auf einen Tisch in der Küche seines Hauses in Kingston, Jamaika, geschlagen und erklärt, warum er und seine Rasta-Brüder ausziehen wollten aus Babylon – einem Land ohne Grenzen, in dem die Menschen sündigen und dafür leiden –, um zurückzukehren zu Mutter Afrika, nach Äthiopien.

»Die oberen Leute in der Regierung von Jamaika, die sollten aufräumen auf den Müllhalden und in den Slums und meinem Volk zu essen geben, meinen Kindern!«, hatte Marley gesagt. »Ich lese Zeitung und ich schäme mich. Und darum müssen wir diesen Ort verlassen und zurückkehren nach Afrika. Wenn Jamaika meine Heimat wäre, dann würde ich Jamaika lieben, und ich würde mich fühlen, wie ich fühle: dass dieser Ort nicht meine Heimat ist. Ich will nicht gegen die Polizei kämpfen, die durch ihre Grausamkeit den Aufruhr erst anstachelt, aber wenn ich nach Afrika gehen will, und sie sagen nein, dann werde ich persönlich kämpfen müssen.«

Doch als Marley schließlich zum ersten Mal im Dezember 1978 nach Afrika kam, musste er dieselben Slums und hungrigen Gesichter sehen, die er auf Jamaika hinter sich gelassen hatte, dieselben korrupten Regierungen, die, von Macht besessen, blind waren für das Elend. Dieses Afrika war der einzige Kontinent, wo noch kein politischer Führer der Neuzeit in Frieden von seinem Amt abgewählt worden war. Aus Kenia kam er in das vom Bürgerkrieg zerrissene Äthiopien und musste erfahren, dass sein geliebter Haile Selassie, der Mann, den er als Gott verehrte, in Ehrlosigkeit gestorben war und dass man ihn in einem Grab verscharrt hatte, das nicht gekennzeichnet war. Dass es keinen Gedenkstein gab für diesen Mann und dass die Äthiopier ihres ehemaligen Kaisers mit unverhüllter Verachtung gedachten, hatte Marley extrem erschüttert.

Und jetzt, in Simbabwe, wurde er auch noch seiner letzten Illusionen beraubt. Seine rechte große Zehe, ohne Nagel und von Geschwüren zerfressen, schmerzte fürchterlich. Wiederholt hatte er der Presse mitgeteilt, unter dem Verband verberge sich nur eine Fußballverletzung, aber der pulsierende Schmerz erinnerte ihn ständig an das, was die Ärzte ihm in den vergangenen beiden Jahren gesagt hatten: entweder die Zehe amputieren lassen oder seinen Frieden schließen mit dem Leben. Wenn er sich nicht einer radikalen Behandlung seines Krebses unterziehe, würde er viel früher als geplant heimfliegen müssen nach Zion, um seinen Lohn im Himmel zu empfangen.

»Rasta duldet keine Amputation!«, hatte er sie angefaucht. »I and I (ich und meine Brüder) erlauben nicht, dass man einen Menschen verstümmelt. Jah, der lebendige Gott, Seine kaiserliche Majestät Haile Selassie I., Ras Tafari, Siegreicher Löwe des Stammes von Juda, zweihundertfünfundzwanzigster Herrscher des dreitausendjährigen äthiopischen Kaiserreichs, der Lord der Lords, König der Könige, Erbe des Throns von Salamon. Er wird mich heilen mit den Meditationen meines Ganja-Kelches, meines Cutchies (Wasserpfeife aus Ton), oder Er wird mich als Seinen Sohn aufnehmen in Sein Königreich. Kein Skalpell wird mein Fleisch schneiden! Jah können sie nicht töten, Rasta können sie nicht töten! Rastamann lebt weiter!«

Zwölf Monate zuvor wäre er vielleicht noch in der Lage gewesen, sich zu retten. Hätte er aufgehört, die Ärzte ›samfei‹ zu nennen, im Jamaika-Patois die Bezeichnung für den Betrüger, der die Leichtgläubigen hinters Licht führt, indem er den Eindruck erweckt, über die Kraft des ›obeah‹ (Hexerei) zu verfügen. Hätte er sich einer Chemotherapie unterzogen oder einer Strahlenbehandlung und der unausweichlichen Tatsache gestellt, dass seine Löwenmähne aus Dreadlocks ihm in Klumpen vom Kopf gefallen wäre. Hätte er nicht den vollgekifften Speichelleckern geglaubt, die um ihn herumscharwenzelten und behaupteten, er sei der ›talawa (furchtlose und unüberwindliche) Tuff Gong‹, einer der stählernen Finger an der Hand des allmächtigen Jah. (Marley verdiente sich den Titel Tuff Gong durch seinen wilden Mut als Straßenkämpfer. Gong war zudem der Beiname des früheren Rastafari-Führers Leonard Howell. Die Bedeutung des Beinamens stützt sich auch auf die Tatsache, dass es in einigen Rasta-Siedlungen Sitte ist, dass ein neues Mitglied am Eingang einen Gong schlägt, um seinen ersten Schritt in die Obhut der Gemeinde zu verkünden. Nach Bobs Tod behauptete Bunny Wailer, der Begriff habe ursprünglich ›Tuff Gang‹ geheißen, wobei Bunny der Chef der Gang gewesen sei.)

Und jetzt liefen die bösartigen und absichtlich nicht behandelten Krebszellen Amok, suchten sich ihren Weg in Marleys spindeldürren Körper wie die gefräßigen und in Bäumen wohnenden jamaikanischen ›Stinkameisen‹, die hinaufeilen in die Zweige des Ackee und die reifen Früchte von innen heraus aufzehren. Er rechnete damit, noch ein Jahr in Qual verbringen zu müssen, vielleicht auch zwei, bevor das Ende kam. Er fragte sich, ob er vielleicht im Schoß des weißen Amerika sterben würde, wenn er sich dort auf seiner bevorstehenden Tournee befand, und er sann nach über die Ironie, die in einem solchen Schicksal lag.

Als Schallplattenkünstler hatte er seine größten kommerziellen Erfolge ebenso wie bei den Kritikern in Amerika und Europa gehabt, wo die jungen Weißen fasziniert waren von der ethno-politischen Kraft seiner bissigen Reggae-Hymnen und hypnotisiert von ihrem rhythmischen Pulsschlag, dessen Betonung gegen alle Erwartung ist. Auf Jamaika, wo er geboren war, verehrte man ihn als Rockstar und als Volkshelden, und er war ebenso berühmt dafür, dass es ihm gelang, das weiße amerikanische und europäische Publikum mit seinen Songs über die schwarze Vergeltung zu fesseln, wie dafür, dass er die Mitglieder der jamaikanischen Kreolen-Kultur veranlasste, mit Stolz zu dem Herzschlag ihres eigenen Kummers und ihrer Narretei zu tanzen. Und von den Großstadtzentren Japans bis zu den Diskotheken in Rio de Janeiro hatten Millionen von Menschen ihre ureigenen Gründe, sich von Marleys Magie verhexen zu lassen.

Später an jenem Abend in Salisbury sollte er miterleben, wie sich die rhodesischen und britischen Standarten senkten und die neue Flagge von Simbabwe aufgezogen wurde, wie einundzwanzig Kanonen kaum fünfzig Meter von ihm entfernt Salut schossen. Noch war der erste Tag der offiziellen Freiheit nicht zu Ende gegangen, und schon hatten sich die Menschen gegeneinander erhoben.

In Afrika wurde er verehrt als Apostel des Pan-Afrikanismus, als charismatischer Entertainer, dessen elementare Leidenschaft auf dem Kontinent, wo die sprechende Trommel erfunden worden war, bereitwillig ins Herz geschlossen wurde. Doch als er von der Bühne miterleben musste, wie die Menge den Kampf gegen sich selbst ausfocht, erkannte er, dass man seiner Musik und seiner Botschaft nicht zugehört hatte. Und er fühlte, dass man ihm anscheinend nirgends genügend Aufmerksamkeit schenkte, um zu hören, was immer stärker in ihm brodelte, um nachzuempfinden, welche Furcht da in jemandem wütete, der versuchte, einen religiösen Gedanken zu erklären, den er sich schon vor langer Zeit zu eigen gemacht hatte, aber in eben diesem Moment besonders intensiv erlebte: dass es keinen sicheren Ort gäbe für den sterblichen Menschen.

Der millenarisch-messianische Kult des Rastafarianismus, den Marley durch seine Musik propagiert, verdankt einen Teil seiner Ideologie den Lehren des Marcus Mosiah Garvey, eines Fürsprechers der ›Rückkehr nach Afrika‹. Am 17. August 1887 in der Stadt St. Ann’s Bay in dem jamaikanischen Pfarrbezirk St. Ann geboren, war Garvey (mit dem Beinamen ›Mose‹) eines von elf Kindern eines ehemals wohlhabenden Druckers. Er stammte ab von den Maroons, einer Gruppe von ursprünglich fünfzehnhundert afrikanischen Sklaven, die 1655 von ihren spanischen Herren freigelassen worden waren und sich in das undurchdringliche Innere der Insel zurückgezogen hatten, als Cromwells Truppen Jamaika besetzten. (Maroon ist eine verfälschte Form des spanischen Wortes ›cimarron‹, das ›aufrührerisch‹ bedeutet.) Garvey kam nach Kingston, bevor er zwanzig wurde, und sammelte während eines größeren Druckerstreiks im Jahre 1907 einige Erfahrungen als Arbeiterführer und Redner.

Nachdem der Arbeitskampf beigelegt war (zugunsten der Unternehmer, da sich die Gewerkschaft aufgelöst hatte, nachdem ihr Schatzmeister sich mit den Rücklagen davongemacht hatte), verließ Garvey Jamaika, um längere Zeit zu reisen. Finanzieren tat er das durch Gelegenheitsarbeiten. Zuerst machte er in Costa Rica Station, wo er gegen die beklagenswerten Arbeitsbedingungen für Schwarze bei dem britischen Konsul protestierte. Auf seinen Protest erfolgte keine Reaktion. Als Nächstes begab er sich nach Bocas del Toro in Panama, wo er seine nur kurzlebige Zeitung mit dem Namen La Prensa gründete. Auf seinen weiteren Reisen durch Ecuador, Nicaragua, Honduras, Kolumbien und Venezuela konnte er immer wieder beobachten und erleben, wie man die billigen Arbeitskräfte in den Minen und auf den Tabakfeldern ausbeutete. Mit ihnen diskutierte er ihr bedauernswertes Los in dem von den Weißen beherrschten Westen.

Als er sich 1912 zu einem Besuch in London aufhielt, machte er die Bekanntschaft des sudanesisch-ägyptischen Gelehrten Duse Mohammed Ali, Autor des hochgeschätzten Buches In The Land of the Pharaohs, und ihre Diskussionen vermittelten Garvey Einsichten in die historische und religiöse Bedeutung der schwarzen Diaspora. Auch beschäftigte er sich sehr intensiv mit den Schriften von Booker T. Washington, insbesondere mit Up from Slavery. Größten Einfluss auf Garvey hatte wahrscheinlich Ethiopia Unbound – Studies in Race Emancipation von Casely Hayford, das 1911 in London erschien und dort bei den Mitgliedern der kleinen schwarzen Intellektuellengemeinde auf der Stelle zu einem Klassiker wurde. Der Roman Ethiopia Unbound erzählt die Geschichte eines jungen Afrikaners, der die Goldküste verlässt, um in England zur Schule zu gehen, und der wieder nach Hause zurückkehrt, um sich dem politischen Protest zu widmen. Die Vorstellungen des Buches über die Errettung der afrikanischen Rasse hatte der Autor Casely Hayford bezogen aus dem Werk des Missionars und Professors Edward Wilmot Blyden aus Sierra Leone, des anerkannten ›modernen Propheten‹ schwarzer Emanzipation.

»Das Werk von Männern wie Booker T. Washington und W.E. Burghart Du Bois ist exklusiv und provinziell«, sagt der Protagonist des Buches in einer Szene im Hörsaal. »Das Werk von Edward Wilmot Blyden ist universell, umfasst die ganze Rasse und das ganze Problem.« Der Dozent geht gar so weit, Blyden zu beschreiben als »den größten lebenden Exponenten des wahren Geistes afrikanischer Nationalität und afrikanischen Menschentums«.

Solche heroische Ideen und die erhabenen Namen derjenigen, die sie verraten, schwirrten ihm im Kopf, als Garvey im Frühsommer 1914 in Southampton an Bord eines Dampfschiffes ging. Am 15. Juli betrat er wieder jamaikanischen Boden. Ungefähr zwei Jahre war er fort gewesen, und es dauerte weniger als einer Woche in Kingston, da gründete er die Universal Negro Improvement and Conservation Association and African Communities League, eine Organisation, deren Hauptziel es war, ein College-System nach dem Prinzip der Rassentrennung, aber Gleichberechtigung für die schwarzen Jamaikaner einzurichten, das sich an dem Tuskegee Institute von Booker T. Washington orientierte. Das Motto der Vereinigung, offensichtlich angeregt durch eine Zeile aus Ethiopia Unbound, lautete: »Ein Gott! Ein Ziel! Ein Schicksal!«

Die altehrwürdige britische Tradition, sich zu identifizieren mit den ›Höherstehenden‹, hatte die vorwiegend kreolische Bevölkerung der Insel zu Menschen gemacht, die auf naive Weise danach strebten, die soziale Stufenleiter zu erklimmen, und sich sehnten, ›als Weiß gelten zu können‹. Garvey schrieb später: »Männer und Frauen, so schwarz wie ich oder gar noch schwärzer, hatten sich unter der westindischen Gesellschaftsordnung für weiß gehalten. Es war einfach unmöglich für jemanden, offen die Bezeichnung ›negro‹ zu gebrauchen; und doch nannte ein jeder im Flüsterton den schwarzen Menschen einen ›nigger‹.«

Die Mehrzahl seines eigenen Volkes blieb Garveys Gedankengängen gegenüber feindlich gesinnt. Es liegt eine besondere Ironie darin, dass seine enthusiastischen Anhänger der Bürgermeister von Kingston und der römisch-katholische Bischof waren, beide Weiße.

1915 korrespondierte ein entmutigter Garvey mit Booker T. Washington, und sie planten eine persönliche Begegnung in Alabama, die jedoch nicht zustande kam, weil Washington vorher starb. Als er den jamaikanischen Widerstand gegen seine Idee von schwarzem Stolz satthatte, ging Garvey 1916 in die Vereinigten Staaten, um dort Anhänger zu finden. Nachdem er in ungefähr fünfunddreißig Staaten ein zugänglicheres Publikum gesucht hatte, fand er schließlich eines in Harlem, und im nächsten Jahr verkündete er die Gründung der Universal Negro Improvement Association (UNIA) als eine Bruderschaftsorganisation für ortsansässige Politiker, führende Leute aus dem Geschäftsleben und ehrgeizige, an Bürgerrechten interessierte Schwarze. Garvey war jedoch nicht zufrieden mit der Politik, und bald schon nutzte er die Vereinigung als Kanzel, von der er das schwarze Repatriierungsprogramm predigte, das er als die einzige Lösung für die Rassenspannungen zwischen Schwarz und Weiß in Amerika, ja in der ganzen Welt ansah.

Garvey war ein genialer Medienmanipulator und zeichnete verantwortlich für eine Zeitung namens The Negro World, eine Monatszeitschrift mit dem Titel The Black Man sowie für ein Schifffahrtsunternehmen, das er Black Star Line getauft hatte. Er behauptete, die UNIA habe eine Mitgliederschaft von über zwei Millionen, und organisierte spektakuläre Paraden und Versammlungen im Madison Square Garden, wo er seine Gefolgsleute mit seiner ›Äthiopien, Land unserer Väter!‹-Rhetorik zu Begeisterungsstürmen brachte. Erfindungsreich in seiner Absicht, allenthalben Respekt für schwarze Menschen zu gewinnen, entsandte er sogar eine Kommission zur Konferenz des Völkerbundes, die nach dem Ersten Weltkrieg in Genf stattfand, und ließ von ihr beantragen, dass bestimmte Territorien, die unter der Herrschaft Deutschlands standen, den amerikanischen Schwarzen als Dank dafür überlassen wurden, dass sie geholfen hatten, den Krieg zu gewinnen.

»Wir Neger glauben an den Gott von Äthiopien, den ewigen Gott – den Gott der Götter, Gott den Heiligen Geist, den einen Gott aller Zeiten!«, tönte er. »Dies ist der Gott, an den wir glauben, aber anbeten werden wir ihn, indem wir von Äthiopien auf ihn schauen« – aus dem gelobten Land, das allgemein von afrikanischen Völkern als die Wiege der Zivilisation angesehen und sowohl in der koptischen wie in der King-James-Bibel in solchen Passagen wie folgender aus dem 68. Psalm gepriesen wird: »Princes shall come out of Egypt; Ethiopia shall soon stretch out her hands unto God.« (»Die Fürsten aus Ägypten werden kommen, Mohrenland wird seine Hände ausstrecken zu Gott.«)

Garveys gewichtigste Voraussage, die er angeblich zuerst in seinen Reden vor Jamaikas Ärmsten der Armen formuliert hat (die Mulattenbevölkerung der Mittel- und Oberklassen hatte ihn schon abgewiesen), war die kühne Behauptung: »Seht nach Afrika, auf die Krönung eines schwarzen Königs; Er wird der Erlöser sein.«

Als 1930 Ras Tafari Makonnen, Urenkel von König Saheka Selassie von Shoa, zum Kaiser von Äthiopien gemacht und zum Negus Negesti (König der Könige) proklamiert wurde, sahen Jamaikas Slumbewohner und die Armen vom Lande, für die Garvey so etwas wie ein heldenhaftes Orakel gewesen war, dieses Ereignis als die Erfüllung einer Prophezeiung, in der die Erlösung versprochen war. Tatsächlich hatte schon seit 1784, als der amerikanische Baptistenprediger George Liele die Ethiopian Baptist Church auf der Insel gründete, Äthiopien für die von Sklaven abstammenden Jamaikaner ganz Afrika symbolisiert. Die ›Garveyites‹ reagierten überwältigt auf Zeitungs- und Wochenschauberichte über den Pomp bei Selassies Krönung in Addis Abeba und registrierten die Symbolik in der Wahl seines formellen Titels, denn ›Haile Selassie‹ hat die ehrende Bedeutung ›Macht der heiligen Dreieinigkeit‹. Selassie, das wussten sie, sagte von sich, er stamme in direkter Linie von König Salomon ab, und deswegen kamen sie zu der Überzeugung, er müsse der langerwartete Erretter der auf dem Planeten verstreuten afrikanischen Völker sein.

Garveys Aufforderung (»Seht nach Afrika …«) wird gewöhnlich als jener Funke zitiert, der die Garveyites dazu brachte, jene Sekte zu gründen, die später als Rastafarianusmus (so genannt, weil Selassie so hieß) bekannt werden sollte. In dem Buch Reggae Bloodlines sagt Stephen Davis kurz und bündig: »Rasta beginnt mit Marcus Garvey.« Nach den Ergebnissen neuer Forschungen von Historikern wie Robert A. Hill von der University of California in Los Angeles gibt es keinen Beweis dafür, dass Garvey je in seinem Leben eine solche Voraussage über einen göttlichen schwarzafrikanischen König gemacht hat. Hätte er es jedoch getan, wäre es eine höchst ungewöhnliche Abwendung von seiner streng politischen Haltung, denn obgleich er sich manchmal in seinen Reden kirchlicher Rhetorik bediente, gab er sich weder als Prediger noch als Prophet.

Überdies nahm er eine höchst kritische Haltung gegenüber Selassie ein und betrachtete die erfolgreiche Eroberung Äthiopiens durch Mussolini Mitte der dreißiger Jahre als den Tiefpunkt der kaiserlichen Unfähigkeit des Königs der Könige. Obwohl es Garveys UNIA-Anhängern gestattet worden war, bei einer inzwischen berühmten Straßenparade am Sonntag, dem 4. Januar 1931, zusammen mit Mitgliedern der Black Jews, Plakate von Garvey und Selassie mitzuführen, sollte Garvey selbst später zu einem offenen Widersacher derjenigen werden, die Selassies Göttlichkeit propagierten. Anfang 1933 weigerte er sich unerbittlich, dem Rasta-Führer Leonard Percival Howell die Erlaubnis zu geben, Bilder des Kaisers in Garveys Hauptquartier in Edelweiss Park in Kingston zu verteilen. Und in seinen Begrüßungsworten bei einer Sitzung während des UNIA-Kongresses 1934 »wies Mr. Garvey auch auf den Ras Tafari-Kult hin« – so die Ausgabe der Jamaica Times vom 25. August – »und sprach von ihm mit Verachtung«.

Es hat den Anschein, als sei die aufrüttelnde Mahnung, »nach Afrika zu blicken«, stattdessen von dem Rev. James Morris Webb ausgesprochen worden, einem Geistlichen/Mystiker aus Chicago, der Mitstreiter Garveys war und Autor eines Buchs, das 1919 im Mittleren Westen der USA erschien und den Titel trug: A Black Man Will Be the Coming Universal King, Proven by Biblical History. Webb sprach die schicksalshaften Worte bei einem UNIA-Kongress im September 1924. Und wenn Garvey, wie unbeabsichtigt auch immer, in der Vorstellung der meisten Gläubigen zum Vater des Rastafarianismus wurde, so war er im Grunde nur der Erbe einer Tradition messianischen schwarzen Mystizismus, der schon seit geraumer Zeit auf Jamaika und anderswo blühte.

Der spirituelle Pionier der Zurück-nach-Afrika-Bewegung war Alexander Bedward, ein jamaikanischer Wunderheiler und Kräutersammler, von dem man sagt, er habe in den ersten Jahren nach 1900 in Voraussicht auf den Tag, an dem der schwarze Mann zum Vorherrscher werde, in Spanish Town Wunder vollbracht. Wie so viele seiner umstrittenen Kollegen endete auch er in einer Heilanstalt für Geisteskranke, wo er 1921 eingeliefert wurde und 1933 starb.

Begründet ist der Rastafarianismus jedoch auf der Holy Piby, der ›Bibel des schwarzen Mannes‹, die von einem gewissen Robert Athlyi Rogers aus Anguilla zwischen 1913 und 1917 zusammengestellt wurde. Es war kein Zufall, dass sie im selben Jahr – 1924 – veröffentlicht wurde, als Rev. Webb seine Erklärung abgab. Ein Geistlicher aus Barbados mit Namen Rev. Charles F. Goodridge war in Colon, Panama, auf die geheime Bibel gestoßen. Zur gleichen Zeit wurden jedoch große Mengen des Buches in Newark, New Jersey, von anderen Gläubigen gedruckt, und von dort aus wurden Exemplare der Piby nach Kimberly in Südafrika verschifft, wo Missionare, die die schwarze Vorherrschaft predigten, für die Arbeiter aus den Diamantenfeldern eine Kirche mit dem Namen Afro-Athlican Constructive Church (AACC) gründeten. Bei seinen Bekehrungsbemühungen tat sich Goodridge mit einer Frau namens Grace Jenkins Garrison zusammen, und gemeinsam brachten sie die Doktrin der Holy Piby 1925 nach Jamaika, wo sie unter dem Namen Hamatic Church einen Ableger der AACC ins Leben riefen.

Da sie augenblicklich auf starken Widerstand der Fundamentalisten, der Revivalisten und konventioneller christlicher Kirchenführer stießen, weil sie Anhänger der okkulten Bibel waren, flohen Goodridge und Garrison vor der Verfolgung in das Buschgebiet der Gemeinde von St. Thomas im östlichen Jamaika, und dort wurde die junge Saat des Rastafarianismus gepflegt. Frühe Rasta-Führer wie Leonard P. Howell fanden ihren Weg in die verbotenen Lager, um die Holy Piby zu lesen – angeblich der ersten Bibel am nächsten kommend, von der man sagte, sie sei auf Amharisch geschrieben (jahrhundertelang die offizielle Sprache von Äthiopien, und, wie behauptet wird, die ursprüngliche Sprache der Menschheit). Goodridge und Garrison behaupteten, dass weiße Kirchengelehrte unter den ersten Päpsten die amharische Bibel durch Übersetzung und Bearbeitung entstellten, um Gott und seine Propheten zu Weißen statt Schwarzen zu machen. In der Piby gab es ein Kapitel unter der Überschrift ›Die Lebenskarte des schwarzen Mannes‹, in dem sein schwieriges, aber schließlich glorreiches Schicksal von der Schöpfung bis zum Harmageddon und darüber hinaus dargestellt wurde.

Die frühen Rasta-Songs und Gesänge einschließlich des traditionellen ›Rasta Man Chant‹, den Bob Marley Mitte der siebziger Jahre aufnehmen sollte, waren der Piby entnommen, wo sie in ›glossolalia‹, einer kaum verständlichen ›Engelssprache‹, aufgezeichnet waren, die sich als dem ritualistischen Jargon sehr ähnlich erwies, der in den dreißiger und vierziger Jahren von dem selbsternannten englischen Magier Aleister Crowley, dem sogenannten ›Great Beast‹, in seinen okkulten Golden Dawn-Zeremonien verwendet wurde.

Unter denjenigen, die in St. Thomas die Piby studierten, befand sich der Rev. Fitz Balintine Pettersburgh, der 1926 ein gleichermaßen geheiligtes Dokument bei der geheimen Bruderschaft der Piby einführte. Es handelte sich um die Royal Parchment Scroll of Black Supremacy, welche Pettersburgh als das ›oberste Buch der königlichen Gesetze für das äthiopische Zentrum im Westen‹ bezeichnete. In dieses Buch nahm Pettersburgh die Prophezeiung des Rev. James Webb auf, in der die Entstehung eines neuen äthiopischen Kaiserreichs unter der Herrschaft eines schwarzen Gottkönigs beschrieben wurde. Besonderen Anklang fand die Royal Parchment Scroll (Königliche Schriftrolle aus Pergament) bei den panafrikanischen ›Ethiopianist‹-Organisationen wie der Ethiopian Guild und der Brotherhood Mission, die auf Jamaika aufblühten. Das letzte Teil in dem theologischen Puzzle-Spiel war der Promised Key, auch die Rasta-Bibel genannt, wobei es sich um ein Plagiat der Royal Parchment Scroll durch Leonard P. Howell handelte. Scharlatan, der er bestimmt auch war, machte Howell neue Anhänger glauben, es handele sich bei dem Buch um ein uraltes Werk, das in Akkra, der Goldküste, entstanden war, aber tatsächlich hatte er selbst es 1935 auf Jamaika herausgebracht.

Während all dies auf Jamaika geschah, hatte Marcus Garvey, der herausragendste Exponent panafrikanischer Hoffnungen und Sehnsüchte, in den Vereinigten Staaten seine Schwierigkeiten mit der Mission von einer Repatriierung der schwarzen Masse. 1922 wurden er und drei Funktionäre der UNIA wegen Betrugs festgenommen. 1923 wurde Garvey wegen Betrugs und Einkommensteuerhinterziehung vor Gericht gestellt und verurteilt (er behauptete, man habe ihm eine Falle gestellt), und nachdem seine Berufungen abgeschmettert worden waren, saß er im Bundesgefängnis in Atlanta ein, bis Präsident Calvin Coolidge 1927 seine Strafe aussetzte. Im Dezember desselben Jahres wurde er über Panama nach Jamaika deportiert, und fast hätte man ihm die Einreise in sein Heimatland verweigert. Im März 1926 hatte der amtierende Gouverneur von Jamaika an den britischen Minister für die Kolonien geschrieben und gewarnt: »Meine Befürchtungen werden bestätigt von zwei gewählten Mitgliedern des Legislativrates, die darauf hinweisen, dass es schon ein geringes Ausmaß antiweißer Propaganda durch eine religiöse Gemeinschaft in zumindest einem Bezirk gibt, die durch Garvey wahrscheinlich aufgeheizt werden wird.«

Der Bezirk, auf den man sich bezog, war St. Thomas, und bei der religiösen Gemeinschaft handelte es sich um die Bruderschaft der Piby. Was die antiweiße Propaganda betraf, so war die Bruderschaft nur der Meinung, die afrikanische Rasse, einstmals die vornehmste auf Erden, jetzt jedoch die missachtetste und gequälteste, werde eines Tages wieder ihre Stellung als die von Jah bevorzugte erleben.

Am 17. Mai 1926 veröffentlichte der Daily Gleaner einen oberflächlichen Bericht über die Piby. Zwei Tage später erschien im Gleaner eine Fortsetzung: »Neue Glaubenslehren in der Holy Piby enthalten, einem bemerkenswerten Buch, das in den Vereinigten Staaten gedruckt und in Umlauf gebracht wird. Glaubhafte Religion, als deren Apostel Marcus Garvey gilt.« Der Gleaner vom 27. Mai: »Gerüchte über eine Massenveranstaltung zur Denunziation der Holy Piby.«

Am 4. Juni werden Sprecher der UNIA zitiert, die sagten, Garveys Organisation habe nicht das Geringste mit der Piby zu tun. Aber da Garveys Rückkehr nach Jamaika in Kürze bevorstand, ließ sich der Gleaner, das Sprachrohr der oberen Mittelklasse, nicht von seinem Ziel abbringen, nämlich Garvey bei dem religiösen Establishment der Schwarzen auf der Insel in Misskredit zu bringen.

Am 6. Juni erschien im Gleaner ein Leitartikel mit der Überschrift »Eine neue Religion«:

»Wir haben zwei Publikationen der neuen äthiopischen Religion erhalten, auf die wir in letzter Zeit des Öfteren angespielt haben. Diese Bücher bzw. Pamphlete ergänzen die Holy Piby, die die Heilige Schrift ersetzende Bibel der Garveyiten, die proklamiert, Elias sei der Erlöser gewesen – eine Behauptung, die den ernsthaften und kompromisslosen Hebräer entsetzt hätte. Es ist nur recht, wenn man sagt, dass diese Religion allerorts nur wenige Bekehrte gefunden hat. Einige törichte und leichtgläubige Menschen haben sich möglicherweise dazu veranlasst gesehen, ihr Geld in eine Black Star Line zu investieren, die kaum je mehr als drei Schiffe besaß und nur durch Spenden von Freunden von Hafen zu Hafen gelangen konnte. Dieselben Leute wehrten sich allerdings, als sie zu diesem Pech verfolgten kommerziellen Unternehmen auch noch eine Religion annehmen sollten. In Jamaika wird man über Dinge dieser Art jedenfalls so lange lachen, bis sie nicht mehr existieren. Dinge dieser Art sind nur unverschämt. Sie weisen eine Art von Vulgarität auf, die sogar die Vulgären ekelt.«

So wurde Garvey, der sich auf dem Heimweg befand, als krimineller Lump dargestellt, als Ketzer und unverantwortlicher, unehrlicher und blasphemischer Anführer, der nichts als heftigste Verachtung verdient habe. Bei Besuchen in den alten UNIA-Hauptquartieren auf den Westindischen Inseln und in Zentralamerika versuchte er, die Bewegung wieder zusammenzubringen, aber überall traf er auf Interesselosigkeit. 1928 sprach er in Londons riesiger Royal Albert Hall vor fast leerem Haus. Da seine Anhängerschaft sich derartig aufgelöst hatte und sein geliebtes Jamaika ihm absolut feindselig gesinnt war, ließ sich Garvey 1935 wieder in England nieder. »Führerschaft bedeutet alles – Schmerz, Blut, Tod«, so lautete sein persönliches Credo. 1940 blieb ihm dann gar nichts mehr, und man begrub ihn in britischer Erde.

Aber der Rastafari-Glaube hatte in seinem Heimatland Wurzeln gefasst und gewann hauptsächlich als eine bäuerliche Landesbesetzungs-Bewegung mit religiösem Anstrich immer mehr Bedeutung. Howell rief seine Gemeinde auf: »Jener Mann in England (zuerst George V., dann Edward VIII.) ist nicht unser König! Behaltet das Land, bezahlt keine Steuern, denn unser König, der König aller Könige, ist jetzt in Äthiopien gekrönt worden, und aller Tribut gebührt nur ihm!«

Howell und eine ganze Schar anderer Rasta- und Pseudo-Rasta-Führer machten sich an die Aufgabe, dieser kühnen neuen Religion Hand und Fuß zu geben. Unter diesen Theoretikern befanden sich H. Archibald Dunkley und Joseph Nathaniel Hibbert, beides Mitglieder des überaus geheimen ägyptischen Freimaurer-Ordens, der bekannt war unter dem Namen ›Great Ancient Brotherhood of Silence‹ (Große, uralte Bruderschaft des Schweigens), Robert Hinds, ein Schüler von Bedward; David und Annie M. Harvey, 1931 Gründer der ›Israelites‹-Sekte, und der selbsternannte Prince Edward Emanuel, der von sich behauptete, 1915 in der Kirchengemeinde von St. Elizabeth leibhaftig vom Himmel herabgestiegen zu sein und daher wie der biblische Melchisedek keine sterblichen Eltern zu besitzen. Andere frühe Rasta-Führer waren Claudius Henry, Altamont Reed, Paul Ervington und Vernal Davis.

Diese selbsternannten ›Propheten‹ formulierten eine Anzahl von Diät- und Hygiene-Gesetzen, die mit der religiösen Lehre einhergingen. Sie verlangten von ihren Anhängern, keinen Alkohol, keinen Tabak und kein Fleisch (besonders kein Schweinefleisch) zu sich zu nehmen und auch keine Schalentiere, keine schuppenlosen Fische, keine Raubfische und keine aasfressenden Meerestiere und auch nicht viele allgemein verbreitete Gewürze wie zum Beispiel Salz. Kurz, alles, was nicht ›ital‹ war, eine Rasta-Bezeichnung für ›rein‹, ›natürlich‹ oder ›sauber‹, war verboten. Außerdem verboten sie das Kämmen oder Schneiden von Haaren und zitierten dazu die heilige Anweisung im 3. Buch Mose, 21,5: »Sie sollen auch keine Glatze scheren auf ihrem Haupt noch ihren Bart stutzen und an ihrem Leibe kein Mal einschneiden.« Ihre Haarsträhnen ließen sie verfilzen und sich verflechten zu Dreadlocks, so genannt, um die Aversion der Nichtgläubigen gegenüber ihrem Aussehen zu verspotten. (Das Substantiv ›dread‹ – Schrecken, Grauen – hat sich seither ebenfalls in ein Wort des Lobs gewandelt.) Das Kraut ›ganja‹ (Marihuana) wurde von ihnen als ›wisdomweed‹ (Weisheitskraut) angesehen, und die Rasta-Führer drängten darauf, es in einem religiösen Ritus zu rauchen, denn sie sagten, es sei auf dem Grab von König Salomon gefunden worden, und sie zitierten Passagen aus der Bibel, so den Psalm 104,14, um seine sakramentalen Eigenschaften zu bestätigen: »He causeth the grass to grow for the cattle, and herb for the service of man, that he may bring forth food out of the earth.« (»Du lässest Gras wachsen für das Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, dass du Brot aus der Erde hervorbringst.«)

Der Kult verschrie die aus Afrika stammende Pukumina-Religion auf Jamaika sowie alle christlichen Kirchen als dekadent. Überdies verkündete man, die Schwarzen seien die überlegenere Rasse, und nach dem Harmageddon würden sie über alle Schöpfung herrschen, wie sie es zu Anbeginn getan hätten.

Die Rastas wiesen Vorwürfe anderer Religionen von sich, sie seien anti-weiß oder anti-braun (gegen die Mulatten), und forderten alle auf, zu bereuen und Jah (eine Kurzform für Jehova) anzuerkennen. Sie gelobten, dass zu einer geheimen Stunde, die nur einigen wenigen ganz besonders Frommen bekannt sei, die Gläubigen zurückkehren würden nach Äthiopien auf eine Weise, die nicht enthüllt sei, und damit endlich das tropische Dampfbad Jamaika verlassen könnten, das sie buchstäblich als die Hölle auf Erden betrachteten. Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch würden sich die Rastas weigern, Anteil zu nehmen an den Machenschaften des täglichen Lebens und Handelns in ›Babylon‹, dem Ort, an dem der Geist sich zeitweilig in Gefangenschaft befinde.

Die Armen folgten massenhaft dem Ruf der Rastas, da der Kult ihrem Status als Ausgestoßene der Gesellschaft ein gewisses Ansehen zusprach. Als Rastas konnten sie jetzt in Würde auf den Tag des Jüngsten Gerichts warten, an dem die Ersten die Letzten sein würden und die Letzten die Ersten. 1934 hatte es der Rastafarianismus zu einer starken Gefolgschaft besonders bei den unteren Klassen und in den Ghettos von Kingston gebracht.

Ein Ableger der Ethiopian World Federation, Inc., einer Interessengemeinschaft, die gegründet worden war, um im Ausland Sympathien und Unterstützung für den äthiopischen Kampf gegen den italienischen Faschismus zu gewinnen, wurde 1938 auf Jamaika ins Leben gerufen. Die Reaktion von Rastas und Nicht-Rastas war gleichermaßen enthusiastisch, und 1955 verkündete Selassie, der während Mussolinis Besetzung seines Kaiserreichs (1936–1941) im Exil gewesen war, fünfhundert fruchtbare Morgen seines persönlichen Landbesitzes stünden schwarzen Siedlern aus dem Westen zur Verfügung, die Äthiopiens Kampf zur Bewahrung seiner Freiheit unterstützt hatten. Jamaikas Rastas waren begeistert über dies Angebot und forderten ihre Landsleute auf, die in großer Anzahl nach England auszuwandern begannen, um dort Arbeit zu finden: »Ethiopia, yes! England, no! Let my people go!«

Mittlerweile hatte Leonard Howell seine Anhängerschar aus der Rasta-Mission in den Bergen von St. Catherine in eine abgelegene Spanish-Town-Siedlung namens Pinnacle geführt, einen verlassenen Landsitz nahe Sligoville, der 1940 erworben wurde. Dort bauten sie Ganja an, während er sich mit seinen dreizehn Ehefrauen beschäftigte. Eines Morgens verkündete er, nicht Selassie, sondern er selbst sei der Lebendige Gott, und er forderte seine Brüder auf, ihn von jetzt an Gangunguru Maragh zu nennen (eine Verbindung von Hindi-Wörtern mit der Bedeutung ›Lehrer der berühmten Weisheit, König der Könige‹). Während seine Anhänger nur etwas verwirrt waren, zeigte sich die Polizei am Ende ihrer Geduld und stürmte 1954 seine Besiedlung. Der örtliche Magistrat erklärte Howell für geistesgestört und ließ ihn in eine Einrichtung für kriminelle Geisteskranke einweisen. Seine obdachlosen Dreads wanderten hinunter nach Kingston, wo sie in größeren Gruppen herumlungerten und ganz allgemein die Bevölkerung mit ihrer ungewöhnlichen Haartracht und dem öffentlichen Rauchen des illegalen Ganja provozierten und gegen sich aufbrachten.

Bis zum Ende der fünfziger Jahre waren andere Rasta-Gemeinden in ihrer ungeduldigen Erwartung sozialer Gerechtigkeit wie auch geistlicher Erlösung immer militanter geworden. Eine Gruppe unternahm den Versuch, den Victoria Park in Kingston in ihre Gewalt zu bekommen, und eine andere besetzte das Old King’s House in Spanish Town im Namen Selassies. Diese uncharakteristisch aggressiven Aktionen wurden von den Behörden als logische Konsequenz der Rasta-Zusammenkunft denunziert, die 1958 von Prince Emanuel organisiert worden war. Hunderte von Brüdern kamen auf einem Gelände im Back-o-Wall-Stadtteil von West Kingston zusammen. Es gab große Lagerfeuer, man trommelte, religiöse Zeremonien wurden abgehalten, und – so behaupteten zumindest höhere Polizeibeamte – man drohte, Mitglieder der Polizeitruppe als Opfer für Jah zu köpfen.

Für die meisten Betrachter war dies das beunruhigendste Ereignis im Großraum Kingston seit dem Port-Royal-Erdbeben auf der anderen Seite der Bucht im Jahre 1962. Aber die Rastas versuchten eigentlich nur, eine United Church of Rastafari zu etablieren. Ihre Bemühungen waren blockiert, weil keiner der weit verstreuten Brüder sich wirklich mit den anderen darüber einigen konnte, welche Stellung Selassie im großen Plan einnahm. War er wirklich Gott? Ein naher Verwandter? Ein Prophet in der Nachfolge von Abraham, Moses und Jesus?

Unter denjenigen, die eine persönliche Einladung von Prince Emanuel zu dem exotischen Zusammentreffen in Kingston erhielten, war Rev. Claudius Henry, der sich selbst zum ›Repairer of the Breach‹ (›Heiler des Bruchs‹) erkoren hatte. Aufgewühlt von den komplexen Ritualen, deren Zeuge er geworden war, gründete Henry eilig die African Reformed Church in West Kingston und verkündete, der 5. Oktober 1959 sei der ›Tag der Befreiung‹. Von ihm herausgegebene Pamphlete wiesen darauf hin, es sei kein Pass erforderlich für diejenigen, die zurückkehren wollen nach Afrika. Eine Fahrkarte für die Überfahrt nach Äthiopien, geschmückt mit einem Bild von Selassie, kostete einen Schilling. Tausende davon wurden erworben, und an dem angekündigten Tag waren die Straßen in der Umgebung von Henrys Kirche verstopft von erwartungsfrohen Rastas und ihren Familien, von denen viele ihren gesamten Besitz verkauft hatten. Als der Tag zu Ende ging, war jedoch am Horizont noch kein Schiff zur Ozeanüberquerung aufgetaucht, und Henry wurde verhaftet.

Der gedemütigte Henry drohte nach seiner Entlassung der Regierung mit Rache. Er landete später im Gefängnis, als ein riesiges Waffenlager – Gewehre, Macheten, Dynamit und Munition – in seiner Kirche entdeckt wurden. Sein Sohn Reynold nahm den Kampf auf. 1960 wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, nachdem es in Kingstons Red-Hills-Distrikt zu einer Schießerei zwischen Rastas, die den Henrys ergeben waren, und dem Royal Hampshire Regiment gekommen war. Drei Guerillas und zwei Soldaten kamen bei dieser Auseinandersetzung ums Leben.

Die Feindseligkeiten nahmen in den folgenden beiden Jahren noch zu, als die Rastas sich als Niyaman zu bezeichnen begannen. Mit diesem Namen bezogen sie sich auf den Niyabingi-Orden, eine äußerst gewalttätige Gruppe, die angeblich von Selassie geduldet wurde und in den dreißiger Jahren in Äthiopien auftauchte. Die Regierung hatte mit Polizeieinsatz zur Auflösung der Niyabingi-Treffen reagiert, und es war zu weiteren Gewalttätigkeiten gekommen. 1963 führte ein Zusammenprall zwischen Rastas und der Polizei an der Nordküste in der Nähe von Montego Bay zu mehreren Toten auf beiden Seiten.

Trotz der ständigen Unterdrückung durch die Behörden blühte der Rastafarianismus aus Jamaika weiter und dehnte sich Ende der sechziger Jahre auch auf die Mittelklasse aus. Zahlreiche Konvertiten (hauptsächlich männlich und im Alter zwischen 13 und 20) schlossen sich dem Glauben an, nachdem Rasta-Malern, -Bildhauern, -Dichtern, -Tänzern und -Musikern immer mehr Anerkennung gezollt wurde. (Der bekannte Rasta-Poet/Politiker Samuel Brown hat kürzlich die Ansicht vertreten, sechs von zehn Jamaikanern seien Rastas.)

Am 21. April 1966 kam Haile Selassie zu einem Staatsbesuch nach Jamaika, und eine Rasta-Menge von angeblich hunderttausend soll sein Flugzeug auf der Landepiste umringt haben. Nach der Landung blieb Selassie eine halbe Stunde im Flugzeug, weil er vermutlich Angst vor diesem unerwartet überschwänglichen Empfang bekommen hatte. Erst als der Rasta-Führer Mortimo Planno (später ein Lehrmeister von Bob Marley) die Versammelten beruhigt hatte, wagte sich der Kaiser heraus.

Während seines Besuchs gab Selassie keinen offiziellen Kommentar zu der Einschätzung seiner spirituellen Stellung durch die Sekte ab, aber schnell verbreitete sich in Rasta-Kreisen ein Gerücht, dass einigen der Rasta-Älteren vom Kaiser ein geheimes Kommuniqué übergeben worden sei, in dem sie instruiert wurden, »vor der Übersiedlung nach Äthiopien Jamaika zu befreien«.

Dieses Gerücht hatte einen beruhigenden Einfluss auf die ungeduldige Rasta-Gemeinde, weil die schreckliche Verantwortung, das Datum für den endgültigen Exodus aus Babylon zu verkünden, dadurch auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Aber es wurde auch als Aufforderung angesehen, die politischen Aktivitäten zu verstärken, und bald konzentrierten sich die Rastas auf die Forderung, den Gebrauch von Ganja zu legalisieren.

In der amharischen Bibel ›kan‹ genannt, wurde das Ganja aus Indien als Canabis indica, der asiatische Hanf, von den Spaniern um 1545 herum in die Neue Welt gebracht. Großbritannien bot den Kolonialpflanzern großzügige Subventionen, um sie zu ermutigen, Hanf anzubauen und dadurch das russische Monopol auf diese Pflanze zu brechen, deren Fasern hauptsächlich für die Herstellung von Seilen verwendet wurden. Heute rauchen schätzungsweise 65 Prozent der Erwachsenen und 80 Prozent der Bevölkerung unter 21 Jahren auf Jamaika Ganja regelmäßig. Die armen und mutigen Rastas auf dem Lande bauen das Marihuana an und verkaufen es, weil es eine hervorragende Einkommensquelle bietet, denn Anbau und Ernte erfordern weit weniger mühseligen Einsatz als die Schwerarbeit in den Bauxitminen der Insel.

Die Polizei macht den Rastas weiterhin Schwierigkeiten, hauptsächlich wegen ihres schamlosen Gebrauchs von Ganja, das weiterhin auf Jamaika illegal ist, aber auch wegen ihres seltsamen Aussehens und ihrer ›subversiven‹ politischen und religiösen Ansichten. Ganz besonders richten sich die Aktionen der Behörden gegen die Reggae-Sänger unter den Rastas, deren Songs von dem Zorn Jahs künden und vom moralischen Verfall der Regierung.

Um ein Rasta zu sein, bedarf es ungeheuren Glaubens, sagen die Brüder, denn die Wahrhaftigkeit der Meditationen und Vision Jahs ist ständigen Anfechtungen ausgesetzt, sogar in Afrika. Aber die Rastas weisen darauf hin, dass die Bibel prophezeit, kurz vor dem Fall Babylons werde viel Verwirrung herrschen, und viele Schakale würden ihre Stimmen ertönen lassen und Falsches künden, um die, die nach Wahrheit suchen, in die geistige Irre zu leiten. Daher, so schließen sie, sind Hohn und Unterdrückung nichts als Bestätigungen des Rasta-Evangeliums.

Im Laufe der Zeit sollte der Rasta-Glaube weit über Jamaika hinaus verbreitet werden, und das hatte er in erster Linie der musikalischen Missionsarbeit von Bob Marley und den Wailers zu verdanken. Aber der Reggae, der diese Botschaft trug, brauchte noch einige Jahre der Entwicklung.

Was die Plattenkäufer aus Jamaika betrifft, wurde das Wort ›Reggae‹ auf einer Pyramid-Tanzsingle von 1968 von Toots and the Maytals mit dem Titel ›Do the Reggay‹ geprägt. Manche glauben, die Bezeichnung stamme her von Regga, dem Namen eines Bantu sprechenden Stammes am Tanganjika-See. Andere halten es für eine Entstellung von ›streggae‹, Straßenslang aus Kingston für eine Prostituierte. Bob Marley behauptete, das Wort stamme aus dem Spanischen und bedeute ›Musik des Königs‹. Altgediente Studiomusiker aus Jamaika haben die einfachste und wohl am meisten einleuchtende Erklärung. »Es ist eine Beschreibung des Beats selbst«, sagt Hux Brown, Leadgitarrist auf Paul Simons reggaegetöntem Hit ›Mother and Child Reunion‹ von 1972 und überdies der Mann, dem man weithin zuschreibt, Erfinder des auf einer Saite gespielten Zitter- und Trillertones zu sein, der Simons Single und viele Top-Hits der Insel in den vorangegangenen Jahren einleitet. »Es ist nur so ein Ulkwort, so zum Spaß, das den ›ragged‹ (holperigen) Rhythmus und das Körpergefühl kennzeichnet. Wenn es darüber hinaus eine Bedeutung hat, ist es auch egal!«

Jahrzehntelang, seit den zwanziger Jahren, war die beherrschende Musik in der Karibik der Calypso aus Trinidad. Musiker von der Insel sangen die fröhlichen, an aktuellen Themen orientierten und häufig anzüglichen Folksongs ursprünglich im afrikanisch-französischen Patois, aber wechselten dann langsam in die englische Sprache, als die Musik das Interesse amerikanischer Plattenlabel wie Decca und Bluebird zu wecken begann. Auf Trinidad waren die größten Calypso-Musiker, die sich jedes Jahr bei den Karnevalsfestlichkeiten in der Vorfastenzeit um den Titel des Calypso-Königs stritten, hauptsächlich Männer; King Radio, Growling Tiger, Lord Beginner, William the Conqueror, Attila the Hun, Lord Executor. Als die Musik von den Amerikanern entdeckt und als Neuhit kommerziell ausgebeutet wurde, fanden sich Caylpso-Musiker wie Attila (Raymond Quevedo) und Lord Executor (Phillip Garcia) plötzlich neben solchen Stars wie Bing Crosby und Rudy Vallee in Live-Radiosendungen aus den Staaten. Auf einer Truppenbetreuungs-Tour durch die Karibik während des Zweiten Weltkriegs hörte der Komiker Morey Amsterdam einen satirischen Song über die Kulturspuren der amerikanischen Soldaten auf Trinidad von Lord Invader (›Rum and Coca-Cola‹) und machte die Andrews Sisters damit bekannt.

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden verschieden Musikformen der Karibik, besonders die ›Steel-Pan-Musik‹ von Trinidad und Tobago, die entwickelt wurde von Ellie Mannette (dem ersten Mann, der den Deckel eines Ölfasses ›senkte‹ und ihn dann in bestimmten gewölbten Sektionen stimmte), Winston ›Spree‹ Simon und Neville Jules. Mit Steel-Pan wurden schließlich die hektischeren und kommerziellen Calypso-Stilrichtungen begleitet, die solche Künstler wie Aldwyn ›Lord‹ Kitchener Roberts und Slinger ›the Mighty Sparrow‹ Francisco populär machten. In den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren begannen jamaikanische Musiker, die Steel-Pan und Calypso-Richtungen mit einem einheimischen Mento-Folk-Beat (Harry Belafontes: ›Jamaica Farewell‹ war ursprünglich ein Mento-Song) zu kombinieren, und legten damit den Grundstock für eine aggressive Verschmelzung, in der auch südamerikanische Elemente und eine perkussive Richtung nicht unähnlich der Tanzmusik Nigerias enthalten waren.

Zu ungefähr derselben Zeit (1950–1959) wandten sich die jamaikanischen Jugendlichen ab von der amerikanischen Popmusik, die ihnen von Radio Jamaica Rediffusion (RJR) und der Jamaica Broadcasting Corporation (JBC) vorgedudelt wurde. Wenn die Wetterbedingungen es zuließen, hörten sie stattdessen die saft- und kraftvollere Musik, die von den Radiostationen in New Orleans oder von WINZ in Miami gespielt wurde, auf deren Programmlisten Platten von Amos Milburn, Roscoe Gordon und Louis Jordan standen. Sie konnten sich viel leichter mit dem Sound von Milburn, der sich über ›Bad, Bad Whiskey‹ beklagte, oder Fats Domino, der den ›Walking Blues‹ sang, identifizieren als mit Mitch Millers ›Tzena, Tzena, Tzena‹. So sehr die Jamaikaner den amerikanischen Blues mochten, brachen sie doch in Begeisterung aus, wenn Fats Domino, Smiley Lewis, Huey Smith and the Clowns, Lloyd Price oder andere Musiker aus New Orleans den Sound einen Schritt weiterbrachten und eine gehörige Portion der einzigartig rockenden Rhythmen der Crescent City beigaben. Es handelte sich um eine Annäherung an den R&B, in der das Tempo die aus New Orleans stammenden Klagelieder und die Freudenmärsche der Jazz-Beerdigungen vereinte, die lateinamerikanisch gefärbten Bass-Muster von Bordellpianisten wie Jelly Roll Morton, Rumba, Samba und Mambo von Perez Prado; den Kneipen-Boogie-Woogie von Kid Stormy Weather, Sullivan Rock, Robert Bertrand, Archibald, Champion Jack Dupree und Professor Longhair, die Freudenausbrüche der traditionellen schwarzen Mardi-Gras-Gesellschaften (bekannt als ›indianische‹ Stämme), die zum Mitsingen verlockten.

Jamaikanische Bands fingen damit an, R&B-Hits aus den USA nachzuspielen, und die wagemutigeren von ihnen nahmen das Grundgerüst des Sounds und verschmolzen es mit energiegeladenen Jazz-Ideen – besonders in der allgegenwärtigen Bläsersektion –

und kamen ungefähr 1956 mit einem Stilgemisch heraus, das ›Ska‹ getauft wurde. Ernest Ranglin, der herausragende, im Jazz verwurzelte jamaikanische Gitarrist, der die Wailers bei solchen Ska-Klassikern wie ›Love and Affection‹ und ›Cry to Me‹ begleitet hatte, sagte, das Wort sei von Musikern geprägt worden, »um jenen skat!skat!skat!-Schrammelton auf der Gitarre zu beschreiben, der im Hintergrund zu hören ist«.

Praktisch über Nacht schuf der Ska eine bedeutende jamaikanische Industrie, die man Sound System nannte. Unternehmensfreudige Besitzer von Plattengeschäften und Diskjockeys mit verlässlichen Verbindungen zu den USA, durch die sie sich 45er Singles beschafften, luden ein Paar schwere PA-Boxen auf einen kleinen Lieferwagen und fuhren über die Insel. Sie spielten die letzten Hits des Fat Man und von Joe Jones oder Songs von einheimischen Lieblingen wie Kentrick ›Lord Creator‹ Patrick und Stranger Cole. Um zusätzlichen Eindruck zu machen, gaben sich die herumreisenden DJs Pseudonyme, die an die frühen Calypso-Musiker erinnerten: King Edwards, V-Rocket, Sir Coxone Downbeat, Prince Buster. Sie pflegten bei Tanzveranstaltungen unter freiem Himmel in Goldlaméwesten aufzutauchen, in Darcual-Umhängen aus schwarzem Leder, in imitierten Hermelinroben, mit Lone-Ranger-Masken und Kronen, die mit künstlichen Steinen besetzt waren. In der einen Hand schwenkten sie einen Stapel der exklusivsten Singles der Insel, in der anderen eine verzierte Pistole oder eine Machete. Der Konkurrenzkampf unter den DJs um die neuesten US- oder Jamaika-Singles wurde so hart geführt, dass sie die Labels der 45er mit schwarzem Papier beklebten oder ganz abkratzten. Natürlich war es viel schwerer, mit den Rivalen Schritt zu halten, wenn man nicht den Namen der Platte oder des Künstlers kannte, die gerade die größte Begeisterung erweckten. Frustrierte Gegner versuchten häufig, ihre Meinungsverschiedenheiten in abgelegenen Gassen oder auf einem einsamen Buschgelände mit Pistolen oder ›ratchets‹ (rasiermesserscharfen deutschen Klappmessern) auszutragen.

In den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren erreichte die Ska-Manie auch England, wo eine sich immer mehr vergrößernde Bevölkerung aus Westindien und neugierige Briten in Massen die ›shebeens‹ (heruntergekommene Kellerclubs ohne Lizenz) und Tanzveranstaltungen der Sound-System-Leute besuchten, um Long Life Lager zu trinken, Ganja zu rauchen und sich in dem Tumult zu vergnügen, den Platten von der Insel und gastierende Musiker hervorriefen. In Großbritannien wurde der Ska nach dem Blue-Beat-Label der Firma Melodisc Records bald ›Bluebeat‹ genannt. Auf diesem Label erschienen Songs von jamaikanischen Gruppen wie Laurel Aitken and the Carib Beats, Basil Gabbidon’s Mellow Larks und Desmond Dekker and the Acs. Vom jamaikanischen Publikum ermutigt, nahm der englische Organist Georgie Fame ausgewählte Titel von den letzten Blue-Beat-Veröffentlichungen in das Repertoire auf, das er in Londons Flamingo Club spielte. Später nahm Fame mehrere auf dem Ska basierende Singles für das R&B-Disc-Label auf; die besten davon waren ›Orange Street‹ und ›JA Blues‹. Und zur gleichen Zeit fanden die jamaikanischen Musiker in London Gefallen an dem Funky-Jazz des Organisten Jimmy Smith und des Saxophonisten Lou Donaldson und nahmen diese Musik mit nach Hause zurück.

Aber all das wäre wohl kaum mehr als eine Kuriosität geblieben, hätte es nicht die Bemühungen eines weißen Anglo-Jamaikaners von aristokratischer Herkunft namens Chris Blackwell gegeben. Als Geschäftsunternehmen, das er beinahe wie ein Freizeitvergnügen betrieb, hatte er ein kleines Vertriebsnetz für ethnische Platten aufgebaut. Aber er hatte eine Zukunftsversion, was die potentielle Wirkung von Jamaikas pulsierender Antwort auf den Blues betraf.

1962 brachte Blackwell sein winziges Blue-Mountain/Island-Label mit nach England, erwarb Master-Tapes, die in Kingston produziert worden waren, und veröffentlichte sie in Großbritannien auf Black Swan, Jump Up, Sue und dem Mutter-Label Island. Unter seinen ersten Künstlern waren Jimmy Cliff, Lord Creator, Wilfred ›Jackie‹ Edwards, die Blue Busters, Derrick Morgan, der Posaunist Don Drummond and the Skatalites und Bob Marley, dessen erste Single auf Island unter dem falsch geschriebenen Namen Bob Morley erschien.

In England traf Blackwell mit seinen zukunftsweisenden jamaikanischen Rock-Platten auf Sympathie bei den modebewussten Mod- und Skinhead-Teenager-Bewegungen. Aber der große Durchbruch kam erst, als Millie Small, eine näselnde kleine Göre, die er managte, 1964 mit ›My Boy Lollipop‹ einen riesigen US-Hit landete, auf dem der Skatalite Ernest Ranglin an der Gitarre und ein unbekannter Harmonikaspieler aus der Band von Jimmy Powell and the Five Dimensions auf der Mundharmonika zu hören sind.

Auf Jamaika war der Schlachtruf des Sound System Ska: ›Stay and Ketch It Again!‹ Der Mann hinter dem Plattenspieler heizte die Menge, die im Schlurfschritt tanzte, aber mächtig mit den Hüften rotierte, mit einem Aufblitzen seiner polierten Machete und einem laut krakeelten ›Please a Lady! Jump it ip now!‹ nochmals an, und dann legte er Don Drummonds ›Jet Stream‹ oder das gewagte ›Jerk in Time‹ von den Wailers auf. Es dauerte nicht lange, da wollte jeder ›rude boy‹ (Halbstarker aus den Ghettos) und Waisenknabe vom Lande seine eigene Stimme aus einer Bassbox dröhnen hören.

Die erste Single der Wailers, ›Simmer Down‹ (Bob hatte mit einer früher aufgenommenen Solofassung einen Talentwettbewerb im Ward Theatre gewonnen), war Ende 1963 bis Anfang 1964 ein Ska-Superhit auf Jamaika; der Text rief die jungen Rowdys dazu auf, ihr Temperament zu zügeln und mitzuhelfen, die Bandenkriege und die wilde Gesetzlosigkeit einzudämmen, die epidemische Ausmaße angenommen hatten. Unglücklicherweise verliehen diese Platte und nachfolgende Veröffentlichungen wie ›Rude Boy‹ und ›Jail House‹ den Straßenlümmeln einen eher perversen Ruhm.

Die Ska-Blue-Beat-Weiterentwicklung, die bekannt werden sollte als ›Rock Steady‹, fand ungefähr 1966 statt, als die allgegenwärtigen Posaunen, Trompeten und Tenorsaxophone in den Hintergrund traten, der elektrische Bass die Vorrangstellung gewann, die Gitarre sich darauf verlegte, die nach Schluckauf klingenden Kadenzen zu akzentuieren, und immer häufiger Sologesang präsentiert wurde. Der archetypische Song dieser Ära war der Tanzhit ›Rock Steady‹ von Alton Ellis. Allgemein war jedoch der wesentliche Aspekt an der Weiterentwicklung des Ska zum Rock Steady das Auftauchen einer neuen Generation talentierter jamaikanischer Musiker.

»Die Typen, die alles unter Kontrolle hatten, raubten die älteren Musiker aus«, sagte Bob Marley in einem Interview 1975. »Die hatten’s satt und hörten zu spielen auf. Und da änderte sich die Musik, von den älteren Musikern zu den jüngeren. Leute wie ich, wir lieben James Brown und eure funky Sachen, also haben wir in die amerikanische Kiste gegriffen. Wir wollten nicht mehr rumstehen und nur den langsamen Ska-Beat spielen. De young musicians, deh had a different beat – dis was rock steady now! Eager to go! Du-du-du-du-du … Rock steady goin’ t’rough!«

Marley traf den Nagel auf den Kopf, als er James Brown mit dem musikalischen Wandel in Verbindung brachte, denn der R&B war für den Ska, was Soul für Steady bedeutete. Und als Jimi Hendrix und Sly Stone auftauchten und dem Soul eine Adrenalinspritze verpassten, waren die Wailers angetreten, dasselbe für den Rock Steady zu leisten, ihn auszustatten mit einer ungezügelten Entschlossenheit und Kraft, die ihn schließlich zum Reggae machte.

In den siebziger Jahren waren in den Top 40 der USA mehrere Rock-Steady- und frühe Reggae-Hits zu Gast – besonders auffallend die anti-kolonialistische Kampfansage ›Israelites‹ von Desmond Dekker and the Aces (1969) und Jimmy Cliffs lebensfrohes ›Wonderful World, Beautiful People‹ (1970) –, ohne dass die Plattenkäufer auch nur ahnten, wofür diese Songs standen. Aber amerikanische und britische Musiker, die sich angefreundet hatten mit dem thematischen und rhythmischen Selbstbewusstsein der Reggae-Musik in den frühen siebziger Jahren, hörten hinter dem unvergesslichen Sound auch die Kassen klingeln und begannen, mit ihren eigenen Reggae-Interpretationen Erfolge einzuheimsen. Paul Simons Ausflug 1971 in die Dynamic Studios von Byron Lee in Kingston, um ›Mother and Child Reunion‹ aufzunehmen, hatte seinen Anteil an einer lebendigen und lukrativen musikalischen Einflussnahme auf andere prominenten Exponenten des Rock, R&B, Punk, der Disco-Musik, des Funk und der New Wave, darunter Stevie Wonder, Paul McCartney, Elvis Costello, Boney M, 10cc, die Rolling Stones, Orleans, Linda Ronstadt, ABBA, die Staple Singers und The Clash, um nur einige zu nennen. 1974 erreichte Eric Clapton in den USA und in vielen Ländern Europas Platz eins mit seiner Version von Marleys Shantytown-Geständnis ›I Shot the Sheriff‹. 1979–1980 dann wurde ein eklektizistischer neuer Sound von rassengemischten englischen Gruppen wie den Specials, Madness und English Beat geschaffen, die ein Ska-Revival mit der possenhaften Energie des Punks verbanden.

Die hypnotisierenden und oft aufwieglerischen Songs von Bob Marley and the Wailers waren gemeinhin voller Metaphern für den Überlebenskampf der Dritten Welt und zudem durchsetzt von den verschwommenen Lehrmeinungen des Rasta-Glaubens sowie von Symbolen und Maximen, die der jamaikanischen und afrikanischen Folklore entstammten. Die Wailers bewiesen bald, dass sie weit mehr als ein Rock-Phänomen waren, und ihre Musik beschäftigte sich zunehmend mit gesellschaftlichen Problemen auf der Insel, sei es nun die ätzende Anklage polizeilicher Übergriffe gegen Rastas in ›Rebel Music (3 O’Clock Road Block)‹ oder ›Them Belly Full (But We Hungry)‹, in dem das demokratisch-sozialistische Regime des Premierministers Michael Manley darauf hingewiesen wurde, dass die Ghettobevölkerung, der die Bürgerrechte entzogen waren, eine unberechenbare und starke politische Kraft sei.

Aber auf Jamaika rechnete niemand mit der Wirkung, die die Musik von Marley und Begleitern einmal auf der ganzen Welt haben sollte. Während der meisten Entwicklungsphasen des Jamaika-Rock waren die Wailers in der Karibik kommerziell recht erfolgreich gewesen. Aber nachdem sie 1972 ihren Vertrag bei Island Records unterschrieben hatten, brachten die Wailers als Gruppe auf dem international vertriebenen Island-Label elf erfolgreiche Alben heraus (sowohl Peter Tosh als auch Bunny Wailer, die die Gruppe 1975 verließen, haben noch zahlreiche Soloalben veröffentlicht). Dargebracht wie inbrünstige Beschwörungsformeln im Patois, wurden die Songs der Wailers zu einer weltweiten Sensation, und Marley wurde als ein Mann von herausragendem musikalischem und gesellschaftspolitischem Einfluss gepriesen. Von 1976 an waren Konzerte der Wailers immer ausverkauft. Und sie traten in allen Teilen der Welt auf: in den USA, Kanada und Frankreich, in Großbritannien, Italien (wo sie 1980 bei einem einzigen Konzert 100.000 Besucher zählen konnten), in Westdeutschland, Spanien, Skandinavien, Irland, Belgien, der Schweiz, Japan, Australien und Neuseeland, an der Elfenbeinküste und in Gabun. Bis heute sind Alben der Wailers für 240 Millionen Dollar verkauft worden, wobei beträchtliche Verkäufe auch in Ländern erzielt wurden, in denen die Gruppe nie aufgetreten ist: Brasilien, Senegal, Ghana, Nigeria, Taiwan und den Philippinen. Marley selbst wurde zu einem Idol geradezu fantastischen Ausmaßes, und auf seinen Reisen durch Südamerika, Afrika, die USA, Europa und natürlich die Karibik wurde er immer wieder von Menschenmassen umdrängt.

Wenn man sich vergegenwärtigt, wie groß seine Befähigung gewesen ist, die Menschen mit seinen extrem engagierten Songs über die Erhebung und gesellschaftliche Revolution in der Dritten Welt in seinen Bann zu schlagen, erscheint es wie eine Ironie, dass Marleys politische Bindungen niemals klar zu identifizieren gewesen sind. Das aber war wohl der am wenigsten verblüffende Aspekt an einem Mann, der den Eindruck erweckte, als bemühe er sich absichtlich, seine schon so wenig greifbare Persönlichkeit noch undurchschaubarer zu machen. An Bob Marley bleibt so vieles rätselhaft. In ihm schienen sich die magischen Eigenschaften von ›Anancy‹ zu verkörpern, jener koboldhaften Spinne aus der afrikanischen Folklore, die über die Fähigkeit verfügt, ihre körperliche Erscheinungsform willkürlich zu verändern, und zudem listig genug ist, um manchmal sogar das höchste Wesen zu täuschen. (Die Anancy-Geschichten wurden im 17. Jahrhundert von Sklaven, Angehörigen der Akan von der Goldküste [jetzt Ghana] nach Jamaika gebracht und in den Twi-Dialekten erzählt und überliefert [Ashanti, Fanti und Akwapim], die die wichtigste Grundlage des jamaikanischen Patois bilden.) Marley wurde für sein Volk zu einer symbolischen, überlebensgroßen Figur, so wie Anancy in der Vorstellung der Sklaven zu einem Symbol des Mutes wurde, das von der Idee getragen ist, eine mutmaßlich niedrige Kreatur sei durchaus in der Lage, ihre mächtigen Widersacher zu überlisten.

Wenn man in Anwesenheit seiner Unterdrücker Anancy-Geschichten auf Patois erzählte, konnte man seine Selbstachtung steigern, da man ja die Sklavenhalter, die dieser Sprache nicht mächtig waren, verspottete. Zudem dienten diese Fabeln als ständige Auffrischung des reichen kulturellen Erbes, von dem die Sklaven so brutal abgeschnitten worden waren. In der jamaikanischen Kultur genießt die Kunst des Geschichtenerzählens ein hohes Ansehen, und der geübte Erzähler versteht es, auf geschickte Weise jedwede Unterschiede zwischen überlieferten Geschichten und seinen persönlichen Erlebnissen zu verwischen. Die besten Geschichten sind Arabesken aus übernatürlicher Bedrohung und verdrehtem Humor.

In einem Land, wo so viele Menschen so wenig besitzen, ist die persönliche Mystifikation ein hochgeschätztes gesellschaftliches Kapitel – mit dem man sich den bleibenden Respekt der anderen erkaufen kann. Eine wohlvertraute Figur, über die sich nur höchst wenig in Erfahrung bringen lässt, gewinnt so machtvolle Präsenz.

Bob Marley war so ein Mann. Besessen von seiner Privatsphäre, wendete er beträchtlich Zeit und Mühe auf, um im Laufe seines gesamten Lebens ein ausgeklügeltes Schutzsystem für die so wertvolle Mystifikation seiner eigenen Person aufzubauen. Jahrelang bestand er zum Beispiel darauf, in Afrika geboren worden zu sein wie auch seine Eltern. Niemand, der mit Marley zu tun hatte, war er auch noch so nah, vermochte sich ein vollständiges Bild des Mannes zu machen. Das Netz eingeschränkter vertraulicher Selbstdarstellung, das Marley im Laufe der Jahre knüpfte, war allumfassend und betraf Geschäftsvereinbarungen, außereheliche Affären, seinen Tagesablauf ebenso wie die Zusammenarbeit an Songs. (Um in späteren Jahren seine Verlagsinteressen zu wahren, hat er angeblich listige Vereinbarungen getroffen, durch die viele seiner Songs Freunden aus dem Ghetto oder sonstigen Randfiguren zugeschrieben wurden.)

Seine Landsleute schätzten ihn wegen seines undurchschaubaren Charakters, wegen seines unergründlichen Verhaltens. Sie bewunderten, dass es ihm gelungen war, aus der kläglichen Armut aufzusteigen und einer der berühmtesten Männer zu werden, die je aus der Karibik kamen, und sie waren wie verhext von der intensiven Darstellungskraft seiner Art, Geschichten zu erzählen, wie zum Beispiel in der furchterregenden Vision von ›Burnin’ and Lootin’‹, in der ein Mann beim Erwachen feststellt, dass er sich im Gewahrsam anonymer und bewaffneter Beamten befindet, ein unschuldiges Opfer des Kriegsrechts, während draußen der Aufruhr wütet.

Am erstaunlichsten aber ist an Marleys Aufstieg zum Ruhm, dass seine Fans auf der ganzen Welt nur sehr wenig von den thematischen Grundlagen seiner Musik wussten, von den verschiedenen Ebenen, auf denen seine Botschaft überbracht wurde, und von der Rolle, die der Rastafarianismus und die traditionelle jamaikanische Kultur in alledem spielten. Einer seiner lebendigsten Songs ist ›Small Axe‹, ein fast heiteres Stück Reggae-Scharfsinn. Was wie eine simple Allegorie erscheint, in der ein Holzfäller einen großen Baum darüber informiert, dass er bald gefällt wird, ist tatsächlich eine dreifache Aussage, die von den Jamaikanern sehr schnell verstanden wird, fast allen anderen jedoch absolut unverständlich bleiben muss. Nicht nur ist ›Small Axe‹ als Warnung an die Unterdrücker allerorten gedacht, dass eines Tages die Völker der Dritten Welt sich gegen sie erheben werden, sondern es ist auch eine Herausforderung, die ihren ganz besonderen Stellenwert in der jamaikanischen Plattenindustrie hat. Als der Song von Marley und dem bekannten Produzenten Lee Perry aus Kingston geschrieben wurde, bezog er sich auf ›the Big Tree‹, das diktatorische Triumvirat der Schallplattenfirmen auf der Insel – Dynamic, Federal und Studio One. Und das zentrale Bild des Bäumefällens, begleitet von der Entschuldigung, es geschehe nur auf den Wunsch eines Vorgesetzten hin, ist ein nüchterner Verweis auf die alte Hackordnung zu Zeiten der großen Plantagen, als man Sklaven befahl, die gigantischen Wollbäume zu fällen, die ihnen heilig waren, und sie daher etwas Rum an deren Wurzeln tropfen ließen und ein Klagelied sangen. Das taten sie, um die in dem Baum wohnenden Geister zu besänftigen und ihnen glaubhaft zu machen, dass ihre Vernichtung nicht die Idee der Sklaven war, sondern auf Befehl der Herren geschah.

Dass so viele Menschen auf der Welt Marley Platten schätzten und ihn als revolutionären Rasta-Aufwiegler verehrten, obwohl sie doch nie ganz seine komplexe Botschaft verstanden, machte ihn bei seinen Leuten nur umso beliebter. Sie wussten um das Ausmaß seiner Leistungen und betrachteten sein Werk und seine Erfindungskraft als etwas durchaus Mystisches. Er war ein Schamane, ein rechtmäßiger Apostel Jahs, der die Sündigen schalt, die Verderbenbringenden bedrohte und in einer geheimen Sprache, welche dem ungeübten Ohr niemals ganz verständlich sein konnte, den Rechtschaffenen seine Botschaft vermittelte.

Der Hinweis auf die getrockneten Maiskörner für die Hühner in dem Song ›Who the Cap Fit‹ ist für den durchschnittlichen nicht-jamaikanischen Zuhörer unverständlich, weil er nicht weiß, dass es sich bei den zentralen Zeilen tatsächlich um ein ländliches Sprichwort handelt. Es beschwört das Bild eines Farmers, der schweigend Futter ausstreut und damit sagt: »Bezeichne dich nicht selbst als ein (dummes) Huhn, nur weil du mein Futter frisst; ich habe nie gesagt, dass es meine Absicht ist, Hühner zu füttern.« Das heißt: »Du bist der, als der du dich zeigst, nicht der, der du vielleicht sagst, dass du es bist.«

In der Tradition des jamaikanischen Geschichtenerzählens liegt es, dass derartige Maximen und Sprichwörter nur selten im beiläufigen Gespräch geäußert werden. Gewöhnlich werden sie von den Eltern an ein Kind weitergegeben, von einer älteren Person an eine jüngere, von einem Lehrer an einen Schüler, von einem Geschichtenerzähler an sein Publikum. Und in diesen Äußerungen des Volksmunds ist die Saat gesellschaftlichen Protests enthalten, wie zum Beispiel in dem schlauen Rat, in den ein Sklave seine Einsicht in die ewige Feindschaft zwischen Tyrannen und ihren Sklaven kleidet: »Kick darg, him fren’ you, feed him, him bite you.« (Tritt den Hund, und er fürchtet dich, füttere ihn, und er beißt dich.) Mit anderen Worten: »Behandle einen Untergeordneten schlecht, und er wird dich fürchten, behandle ihn gut, und er wird kommen und deinen Respekt verlangen.«

Die wichtigsten Hüter von Jamaikas Volksweisheit und ihrer Überlieferung sind die Hexenmeister gewesen, bekannt unter den Namen ›obeahmen‹ (von dem Wort ›obayi‹ –

Magie oder Hexerei) und ›myalmen‹ (verwandt mit dem Haussa-Wort ›maye‹ –

Zauberer). Obeah ist die Praxis, sich die Macht der ›duppies‹, Geister der Toten, zunutze zu machen, um Menschen zu helfen oder ihnen zu schaden und um Ereignisse zu beeinflussen. Ein Myalman besitzt jedoch die Fähigkeit, das von den Duppies angezettelte Böse zu vereiteln oder zu neutralisieren. Unter der Kolonialherrschaft pflegten sich jamaikanische Sklaven in großer Zahl mit Obeahmen und Myalmen (sowie Frauen mit diesen Kräften) zu verbünden, um Zauber zu beschwören, durch die sie ihre Sklavenhalter zu besiegen hofften.

Die Zauberer wirkten auch als militärische Strategen, die hinter den Kulissen die Fäden zogen, und sie riefen den Sklaven zu den Waffen bei größeren Revolten wie zum Beispiel denen in der Kirchengemeinde St. Mary in den Jahren 1760, 1765 und 1766, bei denen Tausende von Aufständischen unerbittlich gegen die Briten kämpften. Bezeichnenderweise waren dies die ersten Sklavenaufstände, die eher darauf zielten, eine revolutionäre Zukunft zu gründen, als eine afrikanische Vergangenheit wiederherzustellen.

Überall in der Dritten Welt wurde Bob Marley als ein moderner Myalmen angesehen, der den Willen und die Macht besaß – buchstäblich wie im übertragenen Sinne –, das Böse zu vertreiben. Er war, wie er selbst von sich behauptete, ein ›duppy conqueror‹ (Überwinder der Duppies). Er nahm einen Song mit dem Titel ›Duppy Conqueror‹ in den späten sechziger Jahren auf, kurz nachdem er von der Polizei in Kingston nach einer Verhaftung wegen Besitzes von Ganja wieder freigelassen worden war. In diesem Song umschreibt er den traditionellen jamaikanischen Straßenspruch, der benutzt wird, wenn man einem Schinder (›bully‹) Trotz bietet: ›If yuh bullbucker, me duppy conqueror‹.

Das Volk der Akan, von dem die meisten schwarzen und braunen Jamaikaner abstammen, glaubte, der Mensch habe drei Seelen: die Lebensseele, bei der Geburt direkt von dem Höchsten Wesen verliehen; die Persönlichkeitsseele, die sein Schicksal bestimmt, und die Schutz-/Schattenseele, die sein Gewissen behütet und in Form eines Duppy zurückbleibt, wenn sein Körper unter der Erde gebracht und seine Lebensseele zu Gott zurückgekehrt ist. Es gibt sowohl wohlgesinnte wie böswillige Duppies, aber alle sind gefürchtet wegen ihrer unvorhersagbaren Willkür und deswegen, weil sie durch die Macht des Obeah zu unheilvollen Aufträgen ausgesandt werden können.

Wenn ein Mensch drei Tage tot ist, soll angeblich eine Rauchsäule aus seiner Grabstätte aufsteigen. Dieser Rauch verwandelt sich darauf in seinen Duppy, welcher ähnlich wie die Spinne Anancy in der Lage ist, eine Vielzahl von Gestalten anzunehmen, die von Menschen wie von Tieren. Der Duppy kann fast alle erdenkliche Art von Unheil stiften. Da er viele Fähigkeiten der Lebenden besitzt, kann er sprechen, lachen, pfeifen, singen, rauchen, kochen und sogar ein Pferd oder einen Esel reiten, wobei sein Kopf jedoch nach rückwärts gerichtet ist und er den Schwanz des Tieres als Zügel benutzt. Um einen Duppy sehen zu können, muss man etwas von der Flüssigkeit nehmen, die einem Hund aus den Augen rinnt, sie sich ins eigene Auge tröpfeln und dann über die linke Schulter blicken. Nicht nur ist ein Duppy zu allem ungehörigen Verhalten fähig, sondern er kann auch, wenn er von einem Obeahman auf eine Person ›angesetzt‹ ist, diese schlagen, sie von einer tödlichen Krankheit befallen lassen oder – was am allerschlimmsten ist – sie ihres Schattens berauben.

Es ist die Aufgabe des Rastaman, einen derart ›abscheulichen Aberglauben‹ zu vertreiben und ihn zu ersetzen durch die Offenbarung des Jah Rastafari, Seiner Kaiserlichen Majestät Haile Selassie, und die Menschen zu ermutigen, Ganja-›spliffs‹ (handgerollte Joints von Zigarrenformat) zu rauchen und die von ›herb‹ (Kraut, Marihuana) gefüllten ›chillums‹ (Wasserpfeifen), damit dies ihnen laut Marley ›behilflich sei bei ihrer Meditation über die Wahrheit‹.

Die Musik der Wailers benutzte die Sprache, die Überlieferungen und das Idiom der einfachen Landbevölkerung Jamaikas, um die Ziele von Rastafari auf Erden zu erklären – hauptsächlich das des Aufstiegs zur ›iration‹, der höchsten Form von Creation (Schöpfung), eine Ebene der Existenz, auf der kein falsches Dogma mehr herrschen kann, das Böse nicht mehr wirksam wird und es weder Duppies noch Obeahmen oder gar Screwface gibt, wie die ländliche Bevölkerung Jamaikas gemeinhin den Teufel nennt. Der Rastaman, der absolute schwarze Paria, sagt, dass der bittere Weg des mit Gewalt verpflanzten schwarzen Mannes durch die Zeit – seine Gefangenschaft, sein Erwachen mit Hilfe der angemessenen religiösen Lehren und schließlich sein Kampf um die Rückkehr nach Afrika – ein Spiegel des spirituellen Ablaufs ist, in dem alle Menschen leiden und nach Erlösung streben. Diese Reise ist ein Ebenbild der mystischen Wanderung der Lebensseele auf die Erde und zurück zu Jah.

Das Problem besteht darin, dass der Dialog zwischen dem Rastaman und seinen potentiellen Brüdern ständig durch den Aberglauben beeinflusst ist, da diese meinen, er sei verwandt mit dem ›black heart mon‹ (Mann mit dem schwarzen Herzen), dem ›Bösen Mann‹, vor dem Mütter auf Jamaika noch immer ihre Kinder warnen.

Manche Menschen auf Jamaika sind froh, dass Bob Marley seinen Lohn empfangen hat und seine Schützerseele lebendig ist auf Erden, um als Instrument des Guten zu dienen. Andere meinen, sein Dahinscheiden sei ein Zeichen für das Nahen von Harmageddon, der Zeit, da die besten unter den Menschen fortgeführt werden von der Erde und die Finsternis sich niedersenkt zum Tag des Jüngsten Gerichts, wenn Jah den Teufel und seine Vasallen verdammen wird.

In einer solchen Situation treffen viele schwache Menschen die falsche Entscheidung und folgen dem Weg der Verdammnis. Manche Leute vom Lande sagen, dass die Obeahmen zuhauf zurückgekehrt sind auf die Friedhöfe Jamaikas, wo sie Terpentin und Pfeffer ausschütten vor den Grabsteinen, um die Duppies verstorbener Verwandter herbeizulocken, damit die Geister ihnen zu Hilfe kommen bei ihren geheimen Taten von Unheil und Rache.

Aber der Rastaman lacht und tut solche Reden ab als das Gewinsel des ›bloodclot‹ (Heide, eine Schmähung, die von der Menstruation hergeleitet ist und von dem Tuch [cloth], mit dem sich die Sklaven nach schlimmen Auspeitschungen das Blut abwischen) und verweist auf die Worte von Bob Marleys ›Redemption Song‹:

Old pirates yes them rob I

Sold I to the merchant ships

Minutes after they took I from the Bottomless Pit

By the hand of the Almighty

We forward in this generation, triumphantly

All I ever had is songs of freedom …

Won’t you help me sing these songs of freedom

Cause all I ever had redemption songs …

Emancipate yourselves from mental slavery

None but ourselves can free our minds

Have no fear for atomic energy

Cause none of them can stop the time

How long shall they kill our prophets

While we stand aside and look

Yes some say it’s just a part of it

We’ve got to fulfill the book.

Die Piraten damals ja sie raubten mich

Und verkauften mich auf die Handelsschiffe

Kaum dass sie mich aus der Hölle geholt hatten

An der Hand des Allmächtigen

Schreiten wir fort in dieser Generation im Triumph

Alles was ich je hatte sind Lieder der Freiheit …

Wollt ihr mir nicht beistehen und diese Lieder der Freiheit singen

Denn alles was ich je besaß sind Lieder der Erlösung

Befreit euch aus der geistigen Versklavung

Niemand als wir selbst kann unseren Geist befreien

Habt keine Furcht vor atomarer Energie

Denn nichts kann den Lauf der Zeit aufhalten

Wie lange noch sollen sie unsere Propheten töten dürfen

Während wir dabeistehen und zusehen

Ja manche sagen es gehört dazu

Wir haben nur das zu erfüllen was geschrieben steht im Buch.

Im April 1981 wurde Bob Marley in Anerkennung seiner Verdienste um die Kultur der Nation der Verdienstorden verliehen, eine der höchsten Auszeichnungen. Einen Monat später war er tot, gestorben an Krebs des Gehirns, der Leber und der Lunge, und sein Leichnam war in einem Bronzesarg in der National Heroes Arena von Kingston aufgebahrt. Sein hageres, wächsernes Gesicht ist glattrasiert, seine Dreadlocks, die ihm während der Strahlenbehandlung ausgefallen waren, hat man zu einer Perücke vernäht und ihm wieder aufgesetzt. Eine Hand hält eine Bibel, aufgeschlagen beim 23. Psalm, die andere liegt auf seiner ramponierten hellen Gibson-E-Gitarre.

Als Marley genau ein Jahr zuvor nach Afrika gereist war, um bei jenem Konzert in Simbabwe aufzutreten, hatte er festgestellt, dass mehrere Coverversionen seiner letzten Single ›Survival‹ von Nigeria bis zum Senegal sehr gut verkauft wurden. Die bekanntesten Sänger und Musiker des Kontinents hatten sie aus Respekt, Bewunderung und mit Gespür für das Geschäft aufgenommen. Zu Tausenden überschütteten ihn die Fans mit ihrer Verehrung, und ihr Lächeln schien zu beweisen, dass er jene wahre Gemeinschaft mit Afrika erreicht hatte, nach der sich alle Rastas sehnen.

Ein ähnliches, wenn auch traurigeres Schauspiel bot sich bei der öffentlichen Totenwache in der National Arena. Zehntausende von Trauernden – Afrikaner, Amerikaner, Europäer, Westinder – defilierten an der Bahre vorüber, die von Soldaten in weißen Uniformen mit M16-Gewehren bewacht wurde, während diverse Tribute-Singles, die von den einheimischen Stars herausgebracht worden waren, in den Straßen dröhnten.

Bei einem Staatsbegräbnis unter der Leitung Seiner Eminenz Abouna Yeshaq wurden Passagen aus der Heiligen Schrift von Jamaikas Generalgouverneur Florizel Glasspole und vom Führer der Oppositionspartei, Michael Manley, verlesen. Der Ehrenwerte Edward Seaga hielt die Gedenkrede auf den Ehrenwerten Robert Nesta Marley, O.M.

Die Wailers spielten einige von Marley Kompositionen, begleitet von den I-Threes, dem weiblichen Gesangstrio, zu dem auch seine Frau Rita Marley gehört. Die Melody Makers, eine Gruppe, die aus vier von Bobs und Ritas gemeinsamen Kindern besteht (während Marley legal zehn Kinder von verschiedenen Frauen anerkannt hatte, schätzen einige Verwandte, dass er Vater von zweiundzwanzig gewesen ist), trat zu seinen Ehren auf, und seine Mutter Cedella sang einen der letzten Songs, die er geschrieben hatte: ›Coming In from the Cold‹.

Der Sarg wurde auf einen Lastwagen geladen und langsam die fünfundsiebzig Meilen zu seinem Geburtsort auf einem Berg in der Kirchengemeinde St. Ann (Jamaika ist in vierzehn solcher ›parishes‹, Kirchengemeinden, aufgeteilt) gefahren, wo Rastas aus dem Berggestein am Hang eine Gruft gehauen hatten.

Für einen Mann wie Bob Marley waren das Leben und Jah ein und dasselbe. Marley sah Jah als das Geschenk des Lebens, d.h., er glaubte, dass er, Bob Marley, auf bestimmte Weise unsterblich sei und dass er einzigartig sei. Er glaubte, die Einzigartigkeit jedes Mannes und jeder Frau sei das Geschenk Jahs. Das Bemühen, daraus etwas zu machen, ist unsere Hingabe an Jah, und er glaubte, dass dieses Bemühen eines Tages zur Wahrheit führen werde.

Die Geschichte lehrt, dass manchmal bestimmte Gestalten aus stagnierenden, hoffnungslosen und/oder sich auflösenden Kulturen erwachsen und alte Symbole und Überzeugungen neu interpretieren und mit einer neuen Bedeutung versehen. Die Entscheidung eines Individuums, eine solche Rolle zu spielen, mag völlig unbewusst vonstattengegangen sein, aber sie mag auch mit dem Bewusstsein geschehen, dass man mit der Gabe/Last der Prophezeiung ausgestattet ist. Auf diese Bewusstwerdung kann dann von seitens einer solchen Person die öffentliche Erklärung folgen, sie sei nichts als ein Instrument einer neuen Quelle der Weisheit, einer neuen Richtung und einer neuen Ordnung.

Für die Jamaikaner und schließlich auch für einen großen Teil der Dritten Welt war Bob Marley eine solche Messias-Gestalt. Er behauptete, ihm seien im Schlaf Geister als Botschafter erschienen und hätten ihm aufgetragen, als Seher zu dienen. Er habe Angst verspürt vor der Verantwortung, sagte er, aber er habe sich dennoch entschlossen, sie zu übernehmen. »By and by«, erklärte er, »Jah show every mon him hand, and Jah has shown I mine.« »Im Laufe der Zeit zeigt Jah jedem Menschen, was seine Aufgabe ist, und Jah hat mir die meine gezeigt.«

Ein Mann, der aussah wie ein magerer Löwe, sich bewegte wie eine Spinne und lebte wie ein Geist – Bob Marley starb, als er versuchte, die Duppies in ihm selbst unter Kontrolle zu bringen. Dies ist eine aufregende und beunruhigende Geschichte über das dünne Eis von Informationen und Tatsachen, den schrecklichen Ansturm von Wahrheit und die Ebbe und Flut der Magie.

Bob Marley - Catch a Fire

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