Читать книгу Bob Marley - Catch a Fire - Timothy White - Страница 9
ОглавлениеDie Titelseite des Daily Gleaner vom Dienstag, dem 6. Februar 1945, war beherrscht von Kriegsnachrichten. Die Rote Armee unter Marschall Schukow stand fünfzig Kilometer vor der Reichshauptstadt, und Pattons Panzer hatten den Westwall durchstoßen, während auf der anderen Seite des Planeten Flugzeuge vom britischen Flugzeugträger ›Indefatigable‹ japanische Stellungen auf Sumatra bombardierten und General Douglas McArthurs Truppen nach Manila zurückgekehrt waren.
ln den Lokalnachrichten fanden sich erneut Berichte über einen Rückgang der Gewinne aus der jamaikanischen Zitrusernte (zugeschrieben den Gefahren, denen die Frachtschiffe auf dem Weg nach Großbritannien ausgesetzt waren) sowie über den Mangel an Rindfleisch, Benzin und Streichhölzern. Farmarbeiter waren gerade über eine Luftbrücke von Montego Bay nach Florida gebracht worden, um dort bei der Ernte zu helfen. Am Tag zuvor hatte der Bischof von Kingston die jährliche anglikanische Synode mit einem Cricketspiel zwischen der Geistlichkeit und der Polizei eröffnet. Am Spätnachmittag war Lady Huggins im nahegelegenen Jamaica Turf Club geehrt worden, und Mrs. McWhinnie hatte eine Teegesellschaft veranstaltet.
Ein Ereignis jedoch, das in den frühen Morgenstunden im ländlichen Pfarrbezirk von St. Ann stattgefunden hatte, war im Gleaner nicht erwähnt. Die neunzehnjährige Cedella Marley hatte ihr erstes Kind geboren. Die mondgesichtige Cedella – oder Ciddy, wie sie genannt wurde – hatte eine schwierige Schwangerschaft hinter sich gebracht, und ihr war morgens oft übel gewesen. Als sie am Sonntagabend in die Wehen gekommen war, hatte man sie in das Haus ihres Vaters, Omeriah Malcolm, gebracht, eines Schwarzen. Den gesamten Montag hatte sie in den Wehen gelegen, und am Dienstag um zwei Uhr dreißig in der Frühe war sie von Robert Nesta entbunden worden, einem rehfarbenen Jungen mit dünnen Lippen und der schlanken, spitzen Nase seines Vaters, Captain Norval Sinclair Marley, eines Weißen.
Kurz nach Sonnenaufgang war die Nachgeburt sorgfältig in eine Seite des Gleaner eingewickelt worden, auf der die Geschichte von der Verhaftung eines jungen Rowdys zu lesen stand, der am Tag zuvor in Kingston einem Chinesen 35 Pfund gestohlen hatte. Der Beiname des Räubers war ›Pearl Harbor‹.
Die Nachgeburt wurde am Fuße eines jungen Mangoschösslings begraben, der von dem Tag an der ›Freund-Baum‹ von Robert Nesta Marley sein würde. Er würde so groß und so stark werden, wie der Junge es sich wünschte. Seine Gesundheit und seine Größe würden bezeugen, wie er sich um ihn gekümmert hatte, und er würde sich im Laufe der Zeit in dieselbe Richtung beugen wie der, der ihn gepflegt hatte.
Ciddy gab man Minztee zu trinken und Pfeilwurz, während Omeriah das Kind auf eine rostige Gemüsewaage von seinem Verkaufsstand am Straßenrand legte: Robert wog genau sechseinhalb Pfund. Gewickelt in ein blau-weißes Hemd, von Ciddy aus dem Musselinstoff genäht, den Omeriah bei einem Großhändler in Kingston bestellt hatte, wurde er dann in eine Wiege neben dem Bett seiner Mutter gelegt, die ausgepolstert war mit einem Krokusbeutel.
Während Ciddy und das Kind unter Omeriahs Dach fest schliefen, spielte draußen eine Gruppe kleiner ›kidren‹, und sie sangen einen ›ring song‹ (ein traditionelles Lied, das bei Kreisspielen gesungen wurde), der in den Hügeln widerhallte:
Dere’s a black boy in de ring, tra la la la la
Dere’s a black boy in de ring, tra la la la la
Him like sugar, I like plum, tra la la la la
Him cyan’t be my lover nuh, tra la la la la …
Ist ein schwarzer Junge in dem Kreis, tra la …
Er mag Zucker, ich mag Pflaumen, tra la …
Er wird nicht mein Liebster nein, tra la …
»Der Teufel, der will den kleinen Jungen.« Omeriah Malcolm zitterte, als er sich selbst diese gräuliche Vermutung flüstern hörte, und er war nicht überrascht über die Furcht und die Schwäche in seiner Stimme. »Jemand hat ihn verhext«, murmelte er bei sich, »put duppy on ’im bwai.«. (»Hat einen Duppy auf diesen Jungen losgelassen.«)
Sein vier Monate alter Enkel war krank geworden, und Omeriah war überzeugt, dass böse Kräfte dafür verantwortlich waren. Ciddy hatte sich um ihren Sohn gekümmert, wie es normal ist, hatte ihn gestillt und ihn dann auf ein Gummilaken in ihrer Hütte auf dem Hügel gelegt, die nur aus einem Zimmer bestand. Dann hatte sie für die Familie genäht – die Kleidung ihrer fünf Brüder und drei Schwestern geflickt. Im Gefühl, dass alles in Ordnung sei, hatte sie das Kind um die Mittagszeit noch einmal genau betrachtet und war dann den Hügel hinuntergeeilt, um sich unten im Laden etwas Süßes zu kaufen, denn sie war ein wenig hungrig. Als sie knapp zehn Minuten später zurückkam, fand sie ihn wimmernd auf dem Bauch liegend, und aus seiner Nase tropfte es. Er gab kurze Hustentöne von sich.
Sie hob ihn auf und streichelte seine Stirn, vermutete, er habe die Milch nicht verdaut. Sein Magen verkrampfte sich, und er übergab sich. Dann wurde sein Hals schlaff, und seine Augen verdrehten sich.
Ciddy rief um Hilfe, und ihre Schwester Enid, die draußen Wäsche gewaschen hatte, lief, um Omeriah und Yaya, die Großmutter der jungen Mädchen, zu holen, die beide in der Nähe wohnten.
Ernst untersuchte Omeriah das Kind und kam zu der Überzeugung, ein böser Geist habe es während Ciddys Abwesenheit berührt. Yaya schloss sich ihm an, und Vater und Großmutter diskutierten mögliche Gegenmittel. Schließlich wurde entschieden, er werde einen Heiltrunk mischen aus Susumba Bush, Bitterkraut, Baumwollblättern, Black Joint, Babygripe, Hug-me-Close und Sweetcup, während sie ein Amulett holte, um das Kind vor weiteren Angriffen der Dämonen zu schützen. Als das getan war, wurde der Junge der Obhut von Ciddy, Enid und Tante Beatrice Wilby, der älteren Cousine, die als Ciddys Hebamme geholfen hatte, anvertraut, die es rund um die Uhr bewachen sollten. Es blieb kaum etwas zu tun, als zu warten und zu beten, dass der Schatten von ihm weichen möge.
Als sich der Abend senkte, begann der Junge freier zu atmen, und seine Hüterinnen reagierten mit Ausrufen der Erleichterung.
»Yahso! Wie er wieder lebendig wird!«, sagte Enid.
»Der Trank und das Amulett waren gut für meinen Kleinen!«, sagte Cedella, deren Augen feucht und geschwollen waren.
»Die Kraft des Allmächtigen ist nicht zu besiegen«, sagte Beatrice. »Dank und Ehre dem Allerheiligsten, dessen Name Güte ist und Liebe, für das hilflose Kind und die junge Mutter.«
Aber Omeriah, der die Rufe von der Anhöhe hörte, mochte nicht so schnell in Jubel ausbrechen oder die Bedeutsamkeit des Ereignisses abtun. Jede Krankheit, das wusste er, war eine Heimsuchung entweder vom Satan oder von dem Allmächtigen. Aus welchem Grunde, so fragte er sich, konnte ein Säugling zum Ziel eines Duppys werden? »So sicher, wie Gott das Wasser kühl gemacht hat und das Feuer heiß«, dachte er, »ist jener Junge ergriffen worden von Nookoo, Mutter Tod persönlich. Dank sei und man beuge das Haupt, denn es war nur die schnelle Vergeltung, die den Dämon vertrieben hat.«
Omeriah stand allein auf der Veranda des einstöckigen Hauses, das ›Big House‹ hieß und im Dorf Nine Miles lag. Es war ein schönes, wenn auch stetig mehr verfallendes Gebäude, vor fünfzig Jahren von der Matriarchin der Malcolm-Familie, Yaya (Katherine Malcolm), im Stil des Wohnsitzes eines englischen Pflanzers erbaut. Finanziert hatte sie es mit dem Gewinn aus dem Farmland, von dem sie reichlich besaß. Mit zwei großen Schlafzimmern (gewöhnlich für Untermieter reserviert), einem Esszimmer, einem Wohnzimmer, einer großen Küche und einem richtigen Salon sowie mehreren Hütten, die in der Nähe des Haupthauses errichtet worden waren, war es das beeindruckendste Anwesen, so weit man sehen konnte. Ganz allein nahe dem Gipfel über einer abgestuften Schlucht gelegen, die das natürliche Wahrzeichen von Nine Miles bildete, war Big House für alle, die in seiner Sichtweite lebten, immer von neuem Quelle des Stolzes.
Omeriah nahm seine schweißbefleckte Mütze ab und rieb sich die rauen Handflächen auf den Knien der schweren grauen Arbeitshosen, die aus Baumwolle waren und in Großbritannien hergestellt (allgemein als ›ol’ ironcloth‹ bezeichnet). Er nahm einen kleinen Schluck aus einer langhalsigen Flasche Appleton-Rum und sprenkelte dann genauso viel, wie er getrunken hatte, auf den Boden, im Gedenken an die wohlgesinnten und wachsamen Geister seiner Ahnen. In das bernsteinfarbene Glühen, das durch den Palmenwald auf den westlichen Bergen schimmerte, krähte ein Hahn, den Sonnenuntergang ankündigend. Malcolm neigte seinen Kopf in den Nacken, um einen großzügigeren Schluck Rum zu trinken, stellte dann die Flasche auf einer klapprigen Bank ab und setzte sich auf das hölzerne Geländer, das sich schon durchbog. Er sah hinaus über das Familienland und das Dorf Nine Miles.
Vor ihm erstreckte sich eine undurchdringliche und üppige Landschaft aus großen und kleinen Hügeln, spitz zulaufenden Bergen, immer wieder durchschnitten von Senken. Sie waren dicht bewachsen von Palmen, Bambus, Mangobäumen, Wasserbrot und Ackee, dazwischen Zedern, Mahoe und Mahagoni. An den Hängen kauerten sich die Hütten der Bevölkerung, aus Weidenzweigen geflochten und strohgedeckt oder, und das waren die massiveren unter ihnen, mit ›Spanish walling‹ gebaut (Mauerwerk in einem Holzrahmen) und gedeckt mit einem Flickwerk aus gewelltem Zinkblech. Sie waren ohne Fußbodenbelag und hatten nicht mehr als zwei winzige Räume –
eine Kammer, um Gerätschaften und Nahrungsmittel zu verstauen, und den anderen als Schlafraum. Jede Hütte besaß vor der Tür eine niedrige Feuerstelle und ein kleines Gehege für junges Vieh. Vor der Hütte erstreckte sich ein Stück steinharten Bodens, festgetrampelt von den Füßen der Cousins und Cousins von Cousins. Fettbäuchige Ziegen, grau mit schwarzen Bäuchen, kauten auf Unrat und Resten vom Tisch und waren umschwärmt von mückenähnlichem Tropenungeziefer, genannt ›sour flies‹. Sie waren angebunden im Labyrinth der rindenlosen Baumstämme in der Umgebung der Hütte.
Dies war der Lebensraum der Malcolms, Willoughbys, Lemoniouses, Lewises, Davises und eines Dutzends anderer, eng miteinander verwandter Familien, die in dieser Region schon seit zweihundert Jahren vor der Abschaffung der Sklaverei 1838 Ackerbau betrieben. Während der Zeit der großen Plantagen, die im frühen achtzehnten Jahrhundert begann, machte das Zuckerrohr, in einem breiten Gürtel von St. Ann’s Bay über Montego Bay bis Savanna-la-Mar angepflanzt, die im Ausland lebenden Grundbesitzer immens reich. Während das flache Land, das sich bis zum Meer erstreckte, für den Zuckerrohranbau genutzt wurde, durften die Pachtsklaven auf dem Land in den Bergen das anbauen, was sie zum Leben brauchten, und was von den Gutsbesitzern nicht beansprucht wurde, konnten sie in den Städten auf dem Markt tauschen oder verkaufen.
Die Malcolms zählten zu den wohlhabenden unter den Nachfahren jener Sklaven, und Omeriah war zum am meisten respektierten Bürger von Nine Miles geworden, dem Custos. (Custos war ursprünglich ein jamaikanischer Titel für Kolonialbeamte, aber im Laufe der Jahre hatte sich seine Bedeutung verändert und umfasste jetzt auch Landbesitzer und einheimische Persönlichkeiten, die wegen ihres außergewöhnlichen Reichtums, ihrer Klugheit oder ihres diplomatischen Geschicks hoch geschätzt wurden.)
Ein sehr kräftig gebauter Mann Mitte fünfzig mit einem runden Kopf, starkem, kantigem Kinn, einer breiten Nase und karamellfarbenen Augen, hatte Omeriah eine sanfte, ewig junge Art, die ihn besonders bei Kindern und Frauen beliebt machte. Außer den neun Kindern mit seiner Frau Alberta hatte er noch ein weiteres Dutzend mit verschiedenen Damen im Distrikt. Die meisten Verbindungen war er jedoch nach dem Tode seiner rechtmäßigen Frau im Jahre 1935 eingegangen, als auch seine Schwester Rittenella gestorben war. Dennoch, Alberta hatte die frühen Seitensprünge ihres Mannes hingenommen, ohne sich zu beklagen, ja, sie zeigte sogar einen Anflug von Stolz. Schließlich war ihr bewusst, dass er kein reiner Hallodri war, denn er hatte auf anständige und diskrete Weise dafür Sorge getragen, dass für alle seine unehelichen Nachfahren gesorgt war.
Ebenso ehrgeizig und fleißig wie liebesbedürftig, hatte Omeriah klug ein beträchtliches Stück allerbesten Ackerlandes in einem Bezirk namens Smith bestellt, einem fruchtbaren Tal zwischen Eight Miles und dem Dorf Rhoden Hall im Distrikt Stepney. Außerdem betrieb er eine Bäckerei, einen Gemischtwarenladen und ein lose geführtes Unternehmen, das nicht nur englische Stoffe für Kleider, Anzüge und Hosen verkaufte, sondern auch noch Dienstleistungen wie die Reparatur von Schuhen und allen erdenklichen Maschinen anbot. Zudem gehörte ihm eine bescheidene, aber gewinnbringende Kaffeerösterei. Seine Frau, ehemals Alberta Willoughby, war ebenfalls, an ländlichen Maßstäben gemessen, ziemlich wohlhabend, denn ihre Eltern konnten ein ziemlich ausgedehntes Gelände bewirtschaften, das dicht bepflanzt war mit Kaffee, Bananen, Orangen und Tangerinen.
Der Respekt, den Omeriah bei seinen Nachbarn besaß, gründete sich jedoch nicht nur auf seine materiellen Besitztümer (und auch nicht auf seine Vielzahl von Kindern), sondern eher noch auf den Ruf als kenntnisreicher Kräuterfachmann und Myalman –
eine Person, die das Wissen und die Macht besaß, die Machenschaften des Obeah abzuwenden oder einzudämmen und Menschen zu heilen.
Omeriah hatte die althergebrachten Künste des Myalman von seinem Vater, Robert ›Uncle Day‹ Malcolm gelernt, der von den Kromanti-Sklaven abstammte, die auf Schiffen Ende des siebzehnten und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts von der Goldküste nach Jamaika gebracht worden waren. Die Kromanti waren ein besonders wilder Stamm der Akan und hatten weder von den Sklavenbesitzern noch den Kolonialherrschern unterdrückt werden können. Die Kromanti-Führer Tackey und Cudjoe hatten zwei der blutigsten Sklavenaufstände zur Zeit der großen Plantagen angestachelt. Nicht einmal die unbezähmbaren Maroons, die früh in das undurchdringliche Cockpit Country im Inneren Jamaikas entkommen waren und auf Grund eines Abkommens mit den Briten, das sie vor Verfolgung schützte, bei der Unterdrückung anderer Aufständischer helfen mussten, vermochten den Freiheitswillen der Kromanti einzudämmen. Ja, die Maroons bedienten sich schließlich sogar des Kromanti-Dialekts als ihrer Geheimsprache und lernten die Heilkräfte solcher Inselkräuter wie Kema Weed, Lion’s Tail und Hunderter anderer kennen.
Auf Jamaika wachsen mehr Sträucher, Obstbäume, sonderbare Gemüsesorten und eigenartige Kräuter und Gewürze und Wurzelknollen als in den meisten Ländern, die um ein Vielfaches größer sind, und es ist eine treffende Ironie, dass viele verschiedene Arten, die inzwischen zu noch größerer Vielfalt gekreuzt sind, ursprünglich von der Royal Navy für die britische Pflanzeraristokratie an diese Gestade gebracht worden sind, damit man die Sklaven ernähren konnte, ohne auf zusätzliche Importe angewiesen zu sein. Aber die Afrikaner sortierten Schösslinge und Setzlinge aus und entkamen dann mit ihren Brüdern in entfernte Winkel des Urwalds, wo sie unabhängige Siedlungen gründeten.
Die entlaufenen Sklaven wurden immer listiger und rachedurstiger, weit mehr noch als die Maroons, die den Kromanti noch eine Huldigung erwiesen, indem sie mit schauriger Regelmäßigkeit den uralten Kromanti-Fluch, den sie von ihnen gelernt hatten, auch in Anwendung brachten. Durch ihn wendet sich die Hand des Unterdrückers gegen ihren Besitzer. Die Akan waren nicht von der Ansicht abzubringen, dass es Hexerei gewesen war, die sie nach Westindien gebracht hatte, und daher erschien es ihnen nur gerecht, mit denselben Waffen zurückzuschlagen: So mancher grausame Sklavenhalter beging Selbstmord, kaum dass der Fluch über ihn ausgesprochen worden war.
Obwohl er seit seiner Jugend in den myalistischen Kromanti-Künsten unterwiesen worden war, hatte Omeriah weder Gelegenheit gehabt noch die Neigung verspürt, irgendeinen Menschen mit dem Fluch zu belegen. Im Gegenteil, er verabscheute solche Praktiken und tat alles, um zu vereiteln, was er als Missbrauch der spiritistischen Kräfte ansah. Und doch war sich Omeriah auch bewusst, dass der Medizinmann und der Wahrsager wissen müssen, wie man etwas geschehen lassen kann, um es wieder ungeschehen zu machen, und daher hatte sich Omeriah vertraut machen müssen mit Obeah, den Dunklen Wissenschaften, Guzu-Guzu und mit der Hierarchie der Verbündeten des Magiers, die aus einer anderen Welt kamen, und hauptsächlich mit den sogenannten Gefallenen Engeln unter ihnen: Luzifer, dem verruchten Schacherer; Rutibel, sonst bekannt als Gabriel, der Racheengel, der in seiner Rechten ein gezogenes Schwert trägt; den friedfertigeren Zanz und Zangiel, von denen man sagt, dass sie an Jesu Haupt gestanden hätten in seinem Grab, als er von den Toten auferstand; und schließlich den launischen Heiligen Michael, Saschael und Raphael, ebenfalls Angehörige der Ehrengarde aus Engeln, die bei Christi Wiederauferstehung anwesend waren.
Aber sei auf der Hut, so wurde Omeriah von seinem Vater gewarnt, denn die Geister, die von den Obeahmen auf Jamaika beschworen werden, sind keine göttlichen Boten, sondern himmlische Aasfresser. Und in diesen Letzten Tagen bieten sie Wissen an der Schwelle zur Hölle, und man solle eher für sie beten und mit ihnen Mitgefühl haben, als sie zu beschwören.
Uncle Day erklärte Omeriah, dass diejenigen, die der Berufung folgen, ›aufzustehen, um zu heilen‹, nach einem Verständnis streben sollten, das sich gründet auf den Glauben, und dass sie den Herrn ersuchen sollten, ihnen Übereinkunft zu gewähren mit dem Reichtum der Erde und mit den heilbringenden Pflanzen, Kräutern und Gewürzen, so dass sie jene Befähigung erlangen können, die notwendig ist, um das ›positive‹ Werk der Linderung, Heilung, Gesundung und Wiederherstellung des Menschen zu tun, wie es zurückzuführen ist auf die Schriftgelehrten im Haus des Lebens, auf Jakob und Moses, auf Johannes den Täufer und Jesus von Nazareth selbst, den vom Wort erschaffenen Menschen.
In Afrika, so hatte Omeriahs Vater erklärt, war die Benutzung von Magie eine alltägliche Praxis im Dienst von Beistand und Schutz, und die sie ausübten, waren Priester und Philosophen. Auf Jamaika jedoch hatte sie sich schrittweise von einem Prellbock gegen die Ungerechtigkeit der Sklaventage entwickelt zu einer weiteren Waffe in dem nicht enden wollenden modernen Guerillakampf der Nekromantie. In einer solchen Umgebung konnte kein Mensch ahnen, was das Schicksal für ihn bereithielt. Und wenige konnten ein Leben erwarten, das unberührt blieb von den Eskapaden des Voodoo und der Hexenkunst.
»When de Lawd summon me, ago deh yah« (»Wenn der Herr mich ruft, werde ich ihm folgen«), sagte Omeriah leise, als er sich auf dem Geländer der Veranda neu zurechtsetzte, und der Rum verstärkte noch die Ehrfurcht, mit der er bei sich die jamaikanische Variation des afrikanischen Gebets der Anerkennung von Gottes Willen intonierte. Die düsteren Gedanken Omeriahs wurden unterbrochen von einem plötzlichen Wolkenbruch, und der herabstürzende Regen fand seinen Weg in alle Nischen und Winkel der Siedlung Nine Miles.
Für Omeriah und die normale jamaikanische Landbevölkerung brachten die unberechenbaren Wolkenbrüche viele angenehme Begleiterscheinungen mit sich. Ein Platzregen besänftigte die Gereiztheit, die die ansonsten unaufhörliche Hitze erzeugte, senkte vorübergehend die Temperatur und verwandelte den klebrigen, betäubenden Wind in schweißkühlenden Balsam. Darüber hinaus diente der Regen als botanischer Katalysator und setzte die bis dahin untätigen oder sonstwie von der Sonne unterdrückten Wohlgerüche der rundum wuchernden tropischen Pflanzen, Blumen, Früchte und Büsche frei.
Doch die jamaikanischen Regengüsse konnten auch beunruhigend wirken: Der feine Dunst hing wie ein Schleier in der unbewegten Luft und hüllte die Szenerie in eine beiläufige Feierlichkeit, die die Grausamkeit und Launenhaftigkeit der Elemente tarnte. Für einen Jamaikaner wie Omeriah vermochten die Schauer ein leeres Feld in einen Duppy-Tanzboden, einen kahlen Hohlweg in einen von Dämonen wimmelnden Steinbruch und die freundliche ländliche Umgebung in eine unheimliche Wildnis zu verwandeln. Zudem brachte der Regen auch eine Botschaft: Jamaika ist als Land nur schwer erfassbar, mit seinen ewig währenden Rhythmen und verborgenen Tendenzen, die seine menschlichen Gäste ständig und unaufhörlich umgeben und bestimmen.
Doch mehr als alles andere brachten die gespenstischen Nachwirkungen ländlicher Wolkenbrüche Männer wie Omeriah Malcolm dazu, ihre Heimat als ›Land of Look Behind‹ zu sehen: als Sammelsurium von Magie, Zaubersprüchen, Geistern und Geheimnissen, in dem niemand – weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn – aufgrund der zahllosen eigenartigen, unsichtbaren Hindernisse, die zwischen einem Menschen und der Ausführung eines weltlichen Vorhabens standen, sein Grundstück geradeaus durchqueren konnte. Omeriah glaubte, unter bestimmten Umständen sei der beste Weg ein beiläufiger Zickzackkurs, der die Duppies, die einem auflauerten, in die Irre führte. Jenen, die das Pech hatten, von einem Duppy verfolgt zu werden, riet Omeriah, schnell ein X in den Boden zu kratzen. Da Duppies nämlich nur bis neun zählen können, werden sie an dieser Stelle verharren und sich so lange erfolglos bemühen, bis zehn zu zählen, bis Regen oder Wind das X verwehen.
Man stelle sich nur vor! Sogar ein kleines Kind, das hilflos in einer Hütte liegt, kann nicht einem namenlosen Unglück entgehen! Das dachte Omeriah, als er hinaussah auf die regenfeuchte Landschaft, noch immer im Bann des Wolkenbruchs.
Und doch, so frühe Einwirkungen auf die Lebensseele von Ciddys Kind hätten möglicherweise verhindert werden können. Die Mutter des Jungen war nicht einmal getauft gewesen, bevor sie schwanger wurde. Das dumme, jämmerliche Mädchen hatte hinuntergebracht werden müssen in die Shiloh Church ot the Lord Jesus Christ of the Apostolic Faith im Dorf Alva, um, verfolgt von ›susu‹ (Klatsch), im Taufbecken unter der eilig vollzogenen Leitung durch Elder Thomas getauft zu werden.
»Auf was für ein dummes und unschickliches Treiben hat sich meine Tochter da eingelassen, die jetzt ein kleines Balg zur Welt gebracht hat!« Omeriah bellte mit tiefer und rauer Stimme, bevor er sich noch einen Schluck Rum genehmigte. Sie war verfuhrt worden von diesem alten ›bockra busha‹ (weißhäutigen Aufseher) in seiner roten Uniformjacke, den Leinenhosen und Schaftstiefeln, Captain Marley vom British West India Regiment. Marley war ein Pfeife paffender Oberaufseher für die Ländereien der Krone, der vor fast zwei Jahren auf einem schönen Pferd, das die Regierung bezahlt hatte, nach Nine Miles hineingeritten kam und versuchte, die armen Leute zu bewegen, Getreide anzubauen oder gar in den abgelegensten Teilen des ›John Williams‹-Dschungels zu siedeln, den fast unbewohnten ›bridal lands‹ jenseits der Stelle, an der die unwegsamsten Straßen aufhörten.
Mit dergleichen war er tagsüber beschäftigt. Und des Nachts, als Untermieter im Big House, hatte der kleine leise Mann es mit Malcolms siebzehnjähriger Tochter Ciddy getrieben! Das alberne Mädchen, sich ins Bett zu legen mit einem weißen Mann, der zwei oder drei Jahre älter war als ihr Vater! Wenigstens hatte Marley den Anstand besessen, sie Monate später zu heiraten, aber es war von Anfang an Teufelsspiel gewesen. Ein dummes ›bungo-bessy‹ (Adjektiv für unziemliches Verhalten eines Mädchens vom Lande)-Verhältnis in plumper Heimlichkeit, unterhalten bei unerlaubten Verabredungen, angestiftet von einem Britisch-Jamaikaner mit Geld und Stellung, der ein unschuldiges schwarzes Mädchen mit einer Unverfrorenheit in sein Bett gelockt hatte, die an die Ausschweifungen gemahnte, denen die Plantagenbesitzer in der Sklavenzeit frönten.
Und dann kommt so ein Kreolen-›pickney‹ (Kleinkind) auf die Welt, Robert genannt nach Marleys Bruder – nicht nach Omeriahs Vater –, aber nichtsdestoweniger immer noch ein ›Sklavenname‹. (Nach Ansicht der Familie war Robert Malcolm ursprünglich der Name eines Plantagenbesitzers, den er dann Uncle Day gab.) Und wo ist Captain Marley jetzt, da sein Sohn leidet? Nach Kingston hat er sich getrollt, weil seine Familie es für eine Schande hält, so idiotisch zu sein und ein ›foo-foo‹ (foolish, dumm) Mädchen vom Lande rechtmäßig zu heiraten, das naiv genug ist, seine ›fuck-a-bush‹ (hinterwäldlerische Verführung) Liebesworte für bare Münze zu nehmen!
Zumindest hätte der Junge, dies Ergebnis einer bedauernswerten Verbindung, einen Namen aus der Bibel erhalten können, der eine Beziehung zu Afrika und der Kultur seines Volkes hatte, so wie Omeriah und seine Brüder, Joseph, Nemiah, Ramses und Isaac. »Ya mon! Wenigstens ein bisschen Vorsicht bei den Namen«, knurrte Omeriah voller Ingrimm, nahm den letzten Schluck Rum aus der Flasche und warf sie dann in den Ascheneimer neben der Eingangstür. Jetzt war da ein Baby, Opfer seiner Abstammung, ausgesetzt allen kulturellen Widerwärtigkeiten, nirgends hin gehörig, mitten zwischen den Fronten. Auf Jamaika sind die afrikanischen Traditionen der Sklaven und ihrer Nachkommen ständig in Auseinandersetzung mit den europäischen Traditionen der weißen Herrscher. Aber sogar unter den Schwarzen werden die Werte der Weißen und Mulatten ganz offen ihrem eigenen, eigentlich natürlichen Akan-Westindien-Ethos vorgezogen. Omeriah jedoch teilte nicht die weitverbreitete Meinung, dass es besser sei, braun zu sein als schwarz, hell als braun. Und dass die statusbewussten jamaikanischen Schwarzen dahergingen und schwere englische Stiefel und die dunklen Anzüge aus Manchester-Serge in der heißen tropischen Sonne trugen und zudem noch versuchten, so zu sprechen, als hätten sie in Oxford die Universität besucht, das kam ihm vor wie der reine Wahnsinn.
Der Junge wird viel Zeit haben, die Kümmernisse seines Erbes herauszufinden, dachte Omeriah. Und was machte es schon aus? Je schlimmer die Dinge wurden, je besser die Dinge wurden, desto mehr blieben sie doch gleich. Omeriah erinnerte sich daran, was sein Vater immer zu sagen pflegte: »Changey for changey, black daag fe monkey.« Eine Weisheit, die von Hass auf sich selbst und Resignation getränkt war. Der Affe stand für den farbigen Mann und der Hund für den vollblütigen Schwarzen. Die Aussage: Es war überhaupt nichts zu gewinnen durch den Tausch: Man ist hinterher genauso schlecht dran wie zuvor.
Durch und durch missmutig und besorgt, weil böse Kräfte unter ihnen aufgetaucht waren im Verlaufe des Tages, ging Omeriah hinter den Schweinekoben, um sich in der zunehmenden Dunkelheit zu erleichtern. Die letzten Spuren der Dämmerung hingen über den Baumwipfeln, als er ins Bett ging, und er schlief unruhig. Am Abend zuvor hatte er vom Tod geträumt, ein sicheres Zeichen dafür, dass in der Familie eine Geburt bevorstand. In dieser Nacht träumte er von Kupfer und von tierischen Exkrementen, beides gute Omen. Und dann, tief in der Nacht, träumte er von Feuer, was Verwirrung bedeutet, und von Schlangen, ein Zeichen, dass die Feinde auf die Zerstörung einer geliebten Person sannen.
Er stand um drei Uhr früh auf und machte sich auf den Weg hinüber zu Grandma Yaya. Es war ihre Angewohnheit, sich jeden Abend gegen sechs oder sieben zur Ruhe zu begeben, wenn es kühl war, und dann um Mitternacht aufzustehen, um in der Küche des Big House zu kochen. Wie viele Jamaikaner vom Lande fürchtete auch Omeriah die Nacht und mochte allein nach Sonnenuntergang auch nicht die kürzesten Entfernungen zurücklegen, aber der Ziegenpfad rüber zu Yaya war deutlich auszumachen und oft genug gegangen. Meistens erwartete sie ihn schon und bot ihm stolz ein herzhaftes ›wash-mouth‹ (Frühstück), das aus Ackee-Suppe bestand, frittiertem Kabeljau, genannt ›stamp-and-go‹, gebackener Papaya, Yams und ›bammy‹ (Brötchen aus Maniokmehl).
Und dann saßen sie im Licht der Feuerstelle aus Stein an der Küche bis zum Morgengrauen, und sie aßen und tranken schwarzen Kaffee, den sie anreicherten mit Rum aus ihrer großen Korbflasche, und sie sprachen über das Farmleben, das Wetter, über Begebenheiten am Ort und ihre Bedeutungen, über Familienstreitereien, die Bedeutung von Träumen, die sie gerade gehabt hatten, und darüber, wie man die Kräfte der Düsternis fernhalten könne vom Clan. (Auch Yaya war wohlversiert in den Dingen des Mystischen.)
In dieser Nacht, als krächzende Eidechsen, schrille Zikaden und kreischende ›patu‹ (Eulen) einander in der Stille antworteten, konnten Omeriah und Yaya von kaum etwas anderem sprechen als von Ciddy und den Ereignissen des letzten Jahres. Keiner von ihnen vermochte zu verhehlen, welche Sorgen er sich um das spirituelle und körperliche Wohlbefinden von Kind und Mutter machte. Attackiert von Dämonen und verlassen von Captain Marley, schienen sie bestenfalls ein gefährdetes Schicksal vor sich zu haben.
Zwei Monate später passierte etwas, das Omeriahs und Yayas schlimmste Befürchtungen nur unterstützte. An demselben Morgen, als Ciddy mit ihrem Kind aus Omeriahs Haus ausgezogen war und ihre eigene Hütte bezogen hatte, entkleidete sie das Baby in seinem neuen Heim, nahm ihm sorgsam Yayas Amulett ab und badete es dann in der weißen Emailschüssel, wobei sie ein neues Stück von der braunen Seife benutzte, die sie gerade im Laden gekauft hatte. Frisch gewaschene Kleider zum Wechseln lagen neben dem Kind, und sie hatte begonnen, es zu pudern, als ihr auffiel, dass das Amulett nirgends zu sehen war. Sie begann es zu suchen, auf allen Tischen, zwischen den Kleidern, die sie ihm ausgezogen hatte. Sie rutschte auf den Knien herum und sah in jeden Winkel, jede Ecke, jede Ritze. Wieder und wieder und wieder. Und als ihre Sorge und Nervosität ihren Höhepunkt erreichten, da fuhr ein plötzlicher, eiskalter Windhauch über sie, und ihr ganzer Körper war auf einmal bedeckt von Gänsehaut.
Sie sank auf die Knie, vergrub ihr Gesicht in den zitternden, von Puder weißen Händen und brach in Tränen aus. Sie wusste, dass sie den Talisman nicht wiederfinden würde.
»Nesta! Nesta! Wo bist du heute wieder hingelaufen?«, rief Ciddy und trat aus ihrer Hütte in die Hitze des Spätnachmittags. Geblendet von der Sonne, schützte sie ihre Augen mit einer Hand und blinzelte. Wo war ihr vierjähriger Sohn?
»Roslyn!«, rief sie Nestas Patentante zu, Roslyn Downs, die auf einem niedriger gelegenen Pfad einherschlenderte, der den zu ihrer Hütte kreuzte. Ein großer Korb mit Wurzelknollen des Wasserbrots balancierte auf ihrem von einem Turban umwickelten Kopf.
»Hast du meinen Nesta gesehen? Er ist fort, und ich weiß nicht, wohin!«
»Muss’ sagen, hab’ ich wirklich nicht, Missah Marley«, erwiderte Roslyn mit der freundlichen Zuneigung einer älteren Mutter, die die Sorge einer jüngeren teilen kann. Sie besprachen das Verschwinden, als der Kleine in der Ferne auftauchte. Er hielt sich am kräftigen Hals von David Malcolm fest, Ciddys wohlbeleibtem Bruder, der in die Pedale eines Fahrrads trat und bergauf auf sie zugefahren kam.
»Cho!«, wütete Ciddy, um es Tante Roslyn recht zu machen. »Mercy, my Gawd! Der Junge und seine närrischen Streiche lassen mich noch mal tot von der Welt kommen!«
Ciddy hatte einfach nur vergessen, dass David gekommen war, um Nesta – sie zog es vor, ihn bei seinem mittleren Namen zu rufen – mit auf eine Tour zur Post zu nehmen, die er für Omeriah erledigen sollte. Sie war so mit den Arbeiten im Hause beschäftigt gewesen, die sie jeden Morgen zu erledigen hatte: Kochen, Saubermachen, Holzhacken, die Tiere füttern. Ihr gespielter Ärger würde von Roslyn durchschaut werden, das wusste sie, aber er half, die Traurigkeit zu verscheuchen, die in ihr aufstieg, als sie ihren dünnen kleinen Jungen sah, der vor Freude strahlte, während er den breiten Rücken seines lustigen dreiundzwanzigjährigen Onkels umklammert hielt.
Bei einem der ersten Male, dass sie Captain Marley je gesehen hatte, war David hinter ihm auf dem glänzenden Rücken seines schweißnassen Pferdes mitgeritten, als er es zu Yayas Haus führte, wo er sich nach einem Zimmer erkundigen wollte. Norval hatte seit geraumer Zeit in der Gegend gearbeitet und zuerst bei einer Familie Morris im nahen Distrikt Sterling gewohnt und dann später bei anderen Leuten in dem Dorf Ballantine und im Haus eines Mannes namens Luther Flynn in Stepney. Die Kinder am Ort mochten Norval gern, und er schickte sie immer los, um ihm Pfeifentabak zu kaufen, und belohnte sie dafür mit zwei Shilling, und wenn seine Lieblinge mit ihren Eltern in eine Stadt in der Umgebung fuhren, dann gab er ihnen Taschengeld mit. David zählte zu seinen Lieblingen.
Und David war ganz besonders böse gewesen, als sie angefangen hatte, sich nachts aus Yayas Haus fortzuschleichen, um Norval zu treffen, voller Angst, dass Daddy Omeriah sie dafür prügeln würde und dafür sorgen, dass man den Captain aus dem Distrikt fortschickte. Darüber wären viele Kinder und viele ihrer Eltern unglücklich gewesen. Die meisten Leute mochten den Aufseher, waren eingenommen von seinen höflichen Manieren und der freundlichen Art, wie er an seine Mütze tippte, und sie begrüßte im knappen britischen Akzent eines wohlgeborenen Anglo-Jamaikaners.
Als sie zusah, wie das ramponierte und überlastete Fahrrad sich näherte, umwölkte sich ihr Gesicht, und sie wurde schweigsam. Roslyn spürte, wie sich Ciddys Stimmung änderte, und sie ging weiter, begleitet von einem gedankenlosen »Einen guten Weg dann, Auntie« zum Abschied.
Ciddy erinnerte sich an die erste Nacht, die sie bei Norval in seinem Zimmer in Yayas Haus verbracht hatte – den Geruch von Rum und Tabak in seinem Atem, das Gefühl wie von Sandpapier an ihrem Gesicht, wo die harten weißen Haare seines Backenbarts es berührten, und die grobe Haut seiner Hände, die unter ihr Hemd schlüpften und ihre Hinterbacken liebkosten, während er sie auf die feste Matratze seines Bettes drückte. Es war das schönste Bett, in dem sie je geschlafen hatte.
Als sie zusammen nackt dalagen im vom Mondschein erleuchteten Zimmer, hatte er von Heirat gesprochen und Kindern, davon, die letzten ruhigen Jahre seines Lebens zu teilen und gutzuhaben vom Reichtum seiner feinen Familie. Und sie glaubte ihm, kuschelte sich an seine behaarte Brust und zog seine langen Arme, die so stark waren wie Zaunpfähle, um ihren schmalen Körper.
Er sagte, ihm gefalle ihr Lachen, das wie ein Lied sei, und wenn sie spazierengingen in den Bridal Lands, dann bat er sie, für ihn zu singen. Strahlend sang sie dann voller Inbrunst »I’m Going to Lay My Sins Down by the Riverside« in ihrer vollen Altstimme, wie sie es an jenem Ostermorgen in der Bibelschule von Rhoden Hall getan hatte, als sie vor ihrer Schwester Gloria den Wettbewerb im Hymnen-Singen gewonnen hatte.
»Bist eine gute Sängerin, Kind«, hatte der Lehrer vor der gesamten Klasse zu ihr gesagt.« Es gefällt Gott, wenn Er Verse hört, den goldenen Text, und wenn Er mit Musik gepriesen wird für Sein Werk!«
Gott zu gefallen, ihrer Familie zu gefallen und den Freunden, Captain Marley zu gefallen, sich selbst zu gefallen – das alles schien so leicht. Wenn sie sang, schienen all diese Ansprüche an ihre Seele sich zu fügen in eine freudige Einheit. Aber jenes aufblühende Gefühl von Erfüllung sollte bald platzen wie eine Seifenblase.
Der Captain und sie wurden an einem windstillen Freitag im Juni 1944 getraut, in einer steifen und mechanischen Zeremonie, die eher auf ein Ende hinzudeuten schien als auf einen Anfang. Vor der Feier hatte Norval seiner schwangeren Braut eröffnet, dass er am nächsten Tag Nine Miles verlassen werde, um nach Kingston zu gehen. Und er habe nicht die Absicht, wieder zurückzukehren,
Ciddys Augen brannten, und bittere Tränen standen darin, als er erklärte, er habe seine Familie informiert über sein Verhältnis mit ihr und man habe einhellig reagiert und ihn enterbt. Er fühle sich alt und müde, hatte er gesagt. Er sei nicht länger willens, in der Wildnis herumzugaloppieren, wie er es so viele Jahre getan hatte, er kehre zurück in die Stadt, um von der Regierung eine andere Stellung zu bekommen, die weniger körperliche Anstrengung verlange (auch wenn sie weniger Ansehen biete) als die gegenwärtige. Er sei von seiner Familie verstoßen worden, und deswegen könne er kaum sich selbst ernähren, geschweige denn Frau und Kind. Er werde ihre Verbindung rechtmäßig machen um des Kindes willen und dann fortgehen.
Das Gelöbnis wurde in Yayas Haus ausgesprochen, und Ivy, eine von Ciddys Schwestern, war die Brautjungfer. Hubert Davis, ein enger Freund und Nachbar von Omeriah, war der Trauzeuge. Ciddy trug ein einfaches weißes Kleid mit dreiviertellangen Ärmeln, das Ivy genäht hatte. Der Captain trug einen dunklen Anzug. Nachher saß die Hochzeitsgesellschaft mit ein paar engen Freunden beisammen, man unterhielt sich ruhig, trank ein wenig Punsch und brach sich Stückchen von dem langen und breiten Laib Brot ab. Norval hatte sich gegen einen kunstvoll verzierten Hochzeitskuchen gewehrt. Es war einen Monat vor Ciddys neunzehntem Geburtstag.
Am nächsten Morgen ritt er auf seinem Pferd davon, beklagte sich über Rückenschmerzen und versprach, jedes Wochenende bis zur Geburt des Kindes wiederzukommen. Aber im Verlauf von Ciddys Schwangerschaft machte er nur zwei kurze Besuche. Nach Nestas Geburt schrieb Ciddy an Norval, und er nahm sich eine Woche frei von seiner neuen Arbeit als Vormann bei einem Brückenbauprojekt in Kingston, um seinen Sohn zu sehen. Danach wurden einige wenige Briefe ausgetauscht, und schließlich kam keine Nachricht mehr von Norval. Ciddys Briefe an ihn kamen ungeöffnet zurück. Ihr Mann war fortgezogen, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Ciddy wusste nur, dass er einmal erwähnt hatte, seine Mutter heiße Edith.
Mit gebrochenem Herzen suchte sie Rat bei Omeriah, der ihr sagte, sie möge ihren Kummer vergessen und aus ihrer Unbedachtheit lernen. In erster Linie sei sie ihrem Sohn verantwortlich, verkündete er, nicht ihrem Mann, und er riet ihr, sich daranzumachen, für sie beide ein anständiges Leben im Distrikt aufzubauen. Er half ihr, in Alva einen kleinen Lebensmittelladen einzurichten, in dem sie verkaufte, was auf seinen Feldern und ihrem kleinen Stück Land angebaut wurde. Ihre Schwester Enid kümmerte sich um Nesta. Enids Sohn Slegger und Nesta wuchsen auf wie Brüder. Der Rest des Clans half mit, und alle schienen ihren Jungen zu lieben. Omeriah gab sich nicht die geringste Mühe zu verhehlen, dass Nesta sein Liebling war, und Ciddy bedauerte sehr, dass David, der beste Helfer ihres Vaters auf den Feldern, 1945 nach Maryland gezogen war, um bei der War Food Administration zu arbeiten. Fleißig war er, eine Frohnatur und optimistisch – wenn auch ein wenig ruhelos –, das ideale Vorbild für Nesta, und wenn er zu Besuch war, dann wollte der Junge auch nicht von seiner Seite weichen.
»Cho!«, rief Ciddy nochmals mit gespieltem Zorn, als David mit dem Fahrrad vor ihr anhielt. »Where ya tek me pickney? Nesta! Where ya uncle tek ya seh?« (»Wo hast du meinen Kleinen hingebracht? Nesta! Sag, wo hat dein Onkel dich hingebracht?«) Über Davids breite Schultern linsend, gab er seiner Mutter eingeschüchtert Antwort, aber der Ausdruck in seinen tiefen schwarzbraunen Augen bestürzte sie. Wenn der Junge sie unverwandt ansah, wurde sie immer ein bisschen unruhig und verschreckt. Es war eine Intelligenz in seinen Augen, die sein zartes Alter Lügen strafte. Der Junge hatte sich an seinem vierten Geburtstag als schon so weit entwickelt erwiesen, dass Ciddy ihn fast ein Jahr früher als normal in der Stepney School angemeldet hatte. Miss Isaacs, die Lehrerin, hatte ihr bestätigt, dass es richtig gewesen war, und bemerkt, dass Nesta schon so klug sei wie ein doppelt so altes Kind. Aber als seine Mutter fühlte sie sich am wohlsten in ihrer Rolle, wenn sie es vermied, Nestas kühlen Blick zu erwidern. Darin lag mehr als nur die Frühreife eines Schuljungen.
»Vater, ich glaub’, der Junge hat das Feuer eines Priesters in seinem Blick«, hatte sie vor ein paar Monaten abends aufgeregt zu Omeriah gesagt, weil sie wissen musste, ob es auch schon jemand anderem bei ihrem Sohn aufgefallen war. »Etwas Männliches und Bedrohliches (›bullyrige‹), und das macht mir manchmal ein bisschen Angst.«
Ihr Vater hatte sie streng und forschend angesehen und dann, zu ihrer Überraschung, genickt. »Fe true«, murmelte er, »das stimmt, und vielleicht, Gott sei gepriesen, hält es Bullbucker, Bugaboo und Old Hige von ihm fern«, fügte er hinzu und meinte damit die normalen Schinder und Quälgeister, Kobolde und Hexenweiber. (Old Higes sind alte Weiber, die des Nachts aus ihrer faltigen Haut schlüpfen, sich in Feuerbälle verwandeln und schlafenden Kindern das Blut aussaugen.)
»Ist das Kind gehorsam?», fragte er herrisch, aber auch rhetorisch, denn er wusste sehr wohl, dass Nesta eher zu Augenblicken rätselhaften Schweigens oder unerklärlichen Stimmungen neigte denn zur Unart. Er wollte die Spannung lösen, doch Ciddy merkte es nicht.
»Oh, yes, Sah. Er und Slegger helfen mir sehr und benehmen sich gut. Aber Nesta macht sich oft allein auf den Weg in den Wald. Und wenn ich ihm dann nachgehe und ihn finde, dann sitzt er einfach da, tut nichts, sondern denkt nur nach. Und wenn ich frage, was er gemacht hat, dann lächelt er nur so ›blue-swee‹.«
Omeriah sträubten sich die Haare beim dem Wort. ›Blue-swee‹ bedeutete listig, schwer zu fangen, ausweichend. Mit diesem Wort beschrieb man normalerweise einen Scharlatan, einen Obeahman oder Anancy, die trickreiche Spinne aus der afrikanischen Legende.
»Gib acht, was du sagst, min’ yar tongue, Ciddy«, ermahnte er sie streng. »Kein Mann will eine unverschämte Frau, und kein Kind kann eine törichte Mutter gebrauchen. Ich will nichts hören von ›horse dead an’ cow fat‹ (unwichtige Einzelheiten). Sei du ein gutes Beispiel für den Jungen, an’ get a blessin’ from Gawd. Wie der Ast gebeugt wird, so neigt sich der Baum.«
Fe true, dachte sie jetzt und betrachtete den Jungen, wie er sich friedlich an Davids Rücken lehnte und schläfrig an seinem Daumen nuckelte. Gott wusste sicher, wie sehr sie das Kind liebte. So spindeldünn, so schüchtern und so lieb, niemals ›kass-kass‹ (Widerworte) auf den Lippen und nicht streitsüchtig. Er füttert die Hühner, lernt, wie man das Feld bestellt, achtet das Alter. Und er spielt so schön mit Slegger – die Jungen bauen zusammen Burgen unter den Kokospalmen und den Jackbäumen oder tun so, als seien sie die Männer von Captain Bligh und brächten auf dem großartigen Schiff ›Providence‹ Rum und Schätze und ›otaheiti‹ (malaiischen Apfel) nach Jamaika, oder sie hören Omeriahs Geschichten zu und stellen sich vor, sie seien westafrikanische Könige. Und reitet nicht Nesta manchmal auf Nimble, seinem Lieblingsesel, nach Smith, um den Arbeitern auf dem Feld kleine Erfrischungen von Yaya zu bringen?
Fe true, fe true, seufzte sie bei sich, und ein ›kin teet‹ (Lächeln) war auf ihren Lippen, als sie sich vorbeugte, um den kleinen Kopf des Jungen zu küssen. Dann nahm sie ihn auf den Arm.
»Well, I mus’ say dat yuh are in dem ackee«, schalt sie David kichernd. Sie meinte damit, dass David wohlgenährt und zufrieden wirkte, d. h. ausreichend versorgt mit Ackee, der westafrikanischen Frucht, die Jamaikas Hauptnahrungsmittel ist.
David rieb sich den ausladenden Bauch und lachte schnaufend. Er berichtete seiner Schwester, dass es ihm gutgegangen sei in Maryland und dass er daher auch das reichhaltige amerikanische Essen in Mengen genossen habe, aber es sei so schön, wieder einmal etwas Hausgemachtes frisch von Omeriahs Feldern zu essen. Sein Besuch traf mit dem Ende einer Ernte zusammen, und am Abend sollte ein Fest stattfinden, und man wollte die gute Maisernte feiern.
Es war Brauch, dass alle Mitglieder des Clans auf Omeriahs und Yayas Feldern arbeiteten, und seit sie fünf Jahre alt war, hatte Ciddy ihre Pflicht getan, war manchmal nur drei Tage in der Woche zur Schule gegangen und hatte den Rest der Zeit damit verbracht, gemeinsam mit den anderen zu roden und das alte ›top ’n lop‹ zu verbrennen, zu pflügen, zu eggen, zu düngen, zu pflanzen, Unkraut zu jäten, zu ernten. Es war ein ermüdender, aber doch auch freudebringender Kreislauf, und der Lehmgeruch der weichen Erde und die Begeisterung, die langsam stieg, je mehr die Saat voranschritt, gaben denen, die mitarbeiteten, ein aufregendes Gefühl, eins zu sein mit dem Land, seiner farbenprächtigen Erde und den Bewohnern.
Manchmal war die Arbeit öde und monoton, besonders wenn jeder dabei für sich allein blieb. Aber Ciddys Laune besserte sich, wenn die Männer einen von ihren ›diggin’ songs‹ anstimmten und ihn im Chor sangen wie die Soldaten auf dem Marsch, während ihre Hacken fielen, um den Erdboden zu lockern für Mais, Gungu-Erbsen, Maniok, CalJaloo oder um Hunderte von gut dreißig Zentimeter hohen Erdhaufen aufzuwerfen, die ›yam-hills‹ hießen und in denen die Wurzeln der Knollenfrucht neu eingepflanzt wurden. Die Rumflasche ging herum, und dann stimmte ein Mann das Lied an, rief eine Reihe von Zeilen, und die anderen antworteten mit dem ›bobbin‹, dem kurzen Refrain, der den Rhythmus der Arbeit bestimmte, die zu tun war.
Toa-dy, Toa-dy, min’ yar seif!
(Toa-dy! Toa-dy!)
Min’ yar sei/ mek I plant me com!
(Toa-dy! Toa-dy!)
Plant me com fe go plant me yam!
(Toa-dy! Toa-dy!)
Plant me yam fe go court me gal!
(Toa-dy! Toa-dy!)
Court me gal fe show me mumma!
(Toa-dy! Toa-dy!)
Mumma de one a go teil me yes!
(Toa-dy! Toa-dy!)
Poppa de one a go teil me nuh!
(Toa-dy! Toa-dy!)
Im letzten Jahr hatte Nesta seine Mutter immer häufiger auf die Felder bei Smith begleitet, wo er einen Eimer mit Wasser und allerlei Nachrichten zwischen seinen Verwandten hin- und hergetragen hatte, und man hieß ihn gut zuhören, wenn man sich die Zeit nahm, ihn über mancherlei Techniken beim Ackerbau aufzuklären. Auf diese Weise eingeweiht, wurde er auch dann einbezogen, wenn es galt, die Erfolge dieser althergebrachten Arbeitshandlungen zu feiern. Die Treffen, bei denen der Mais geschält wurde, bildeten die letzte und vergnüglichste Phase des Arbeitszyklus, und Ciddy war ganz besonders angetan davon, wie Nesta es genoss, bei diesem Ereignis, an dem die ganze Gemeinde teilhatte, dabei zu sein.
»Nesta, bist du etwa zu müde, um heute Abend zum Maisschälen bei Großvater Omeriah zu gehen?«, neckte sie ihn, als sie sich von David verabschiedete und in die Hütte gehen wollte.
»Nein, Mumma!«, bettelte er und wedelte mit den Armen. Er schien vor Energie platzen zu wollen. »Ich will mit, Mumma!«
David und Ciddy mussten lauthals lachen über seine Vorstellung, und sie wiegte ihn zustimmend in den Armen, bevor sie ihn absetzte.
»Dann hol schnell die Waschschüssel, damit ich dich fein machen kann!«, befahl sie ihm, und er rannte in den Küchenverschlag, während David hinunterfuhr zu Omeriahs Haus, damit er bei den Vorbereitungen für die Nacht zur Hand gehen konnte.
Den ganzen Tag lang, seit Sonnenaufgang, hatten Männer und Frauen in sonnenverblichenen Röcken und Arbeitskleidern die Maiskolben von Smith herübergebracht, aufgehäuft in großen ›cutacoos‹ (Körbe mit Hanfkordeln, um sie über die Schulter zu hängen), auf Eselskarren, die randvoll waren, und gestapelt in Leinenschürzen, die als Beutel dienten, wenn man sie an den Ecken hochraffte. Nesta hatte vom Fenster der Hütte zugeschaut, wie sie am Morgen ankamen, hatte gesehen, wie die Prozession fast lautlos nach Nine Miles zog und wie die Köpfe in den Nebelschwaden auftauchten und wieder verschwanden. Aufgeweckt von den Schreien eines eigensinnigen Esels, hatte er über die Fensterbank hinweggelinst und dann schnell wieder den Kopf eingezogen. War dies Schauspiel von dieser Welt oder von der nächsten? Großvater hatte viel erzählt, dass in der Bibel stand, wie Jakob auf einem Fels eingeschlafen war und geträumt hatte, wie die Toten steile Berghänge hinaufkletterten und hohe Leitern, damit sie in den Himmel kamen, beladen mit all ihrem weltlichen Hab und Gut und der Sünde Sold, und wie die Habgierigen unter ihnen den Halt verloren unter den Füßen oder müde wurden und zusammenbrachen, weil ihre Last sie drückte, und dann hinunterstürzten in die Feuergrube.
Bedachtsam hatte sich Nesta den ›Sandmon dust‹ aus den Augen gewischt und dann noch einen Blick gewagt. Nein, das waren keine Duppies. Er konnte Auntie Enid erkennen und noch andere Verwandte, und sie waren alle sehr lebendig, wenn auch eingehüllt in geisterhaft grauen Nebel. Und sie sahen aus, wie sie vielleicht aussehen würden am Tag des Jüngsten Gerichts.
Beeindruckt von der Feierlichkeit der Prozession, von der Vielzahl der Teilnehmenden und dem Ausmaß ihrer Tätigkeit, hatte Nesta Wache gehalten und gewissenhaft die blitzenden und wie Stoßzähne geformten Klingen der ›boar machetes‹ gezählt, die an den Gürteln der Männer hingen, bis Mumma ihn fand, hingekauert auf dem ›kick-and-buck‹, dem großen Wasserkrug aus Ton, der seinen Namen von den Holzhammerschlägen hatte, die ihn in seine Form gebracht hatten. Sein Kopf lag auf der Fensterbank, gestützt in den Winkel seines Ellbogens.
»Mercy me! Wha’ dis yere?!«
Er sah auf, irritiert vom grellen Licht des Morgens und dem ›cluk-cluk-cluk‹ der Perlhühner um seine Füße, als Mummas besorgtes Gesicht vor ihm auftauchte und sie sein Kinn in ihrer Hand anhob.
»Meine Güte! Will mein Kleiner etwa vor allen anderen im Distrikt zum Maisschälen gehen?« Mit einem zärtlich gemeinten Lachen sprach Ciddy diese Worte, und sie wischte ihm die letzten Reste Schlaf von seinem Gesicht, das die Form eines Diamanten hatte. »Well now, wenn der kluge Mann den rechten Weg finden will, muss er seine Augen offenhalten! Right seh?«
Und jetzt, als er in die Hütte eilte, um die Waschschüssel zu holen, die am Kick-and-buck lehnte, und auf der Stelle hüpfte, um seine besten Overalls zu erwischen, die am höchsten Nagel über dem Strohbett hingen, ließ er nochmals die Bilder der letzten zwölf Stunden passieren. Versonnen sah er zum Fenster hinaus in die Dämmerung, die sich schnell senkte, und er brütete über die Geheimnisse des Morgens, bevor die Sonne aufgegangen war, und der Nacht, bevor der Mond am Himmel stand.
Überall auf den entfernten Bergen sah man in den palmenbeschirmten Nischen die Feuer glimmen, auf denen das Abendessen zubereitet wurde, und sie flackerten orangerot wie die Glühwürmchen. Nesta wurde von seiner Mumma auf den Tisch gehoben, ausgezogen und abgeschrubbt mit einem weißen Lappen, der rau war und nach Seife schmeckte. Als sie ihm den Kopf in die Schüssel tauchte – fast bevor er noch Mund und Augen schließen konnte – wusste er, dass die Prozedur des ›tidyrnice‹ überstanden war. Jetzt, da der Staub des Tages und der klebrige Schweiß weggewaschen waren, fühlte er sich entspannter, hatte nicht mehr das Flattern im Magen in Erwartung des Festes, das da kommen sollte. Dann sah er durchs Fenster die Fackeln im Tal. Schwebend im tintendunklen Dämmerlicht, vereinzelt oder auch in Vielzahl zusammengeballt in den Winkeln der weit entfernten Senken und sich dann ergießend auf die Hangpfade, die hineinführten nach Nine Miles, kamen sie Nesta vor wie lange und schwankende Flammenbäche. Der Klang kräftiger Stimmen kam näher, und die Luft wurde immer mehr geschwängert vom Geruch brennenden Gummis, als die schmalen Ströme von Licht sich näher schlängelten – die Männer hielten brennende Stücke von Autoreifen, aufgespießt auf Stöcke (wodurch zusätzlich auch Insekten vertrieben wurden), und sie redeten lauthals wie bellende Hunde. Die Frauen zankten mit ihnen oder plapperten untereinander, und die Kinder kreischten und tollten, tauchten auf im Licht der zitternden und übelriechenden Fackeln und verschwanden wieder, hin und her.
Nesta war so aufgeregt bei diesem Anblick, dass er augenblicklich seine Overalls nass machte, und er musste die Schläge von Mumma aushalten, die er kaum spürte, bevor er sich seinen Weg durch die Menschenmenge bahnen konnte, die um Omeriahs riesiges Lagerfeuer versammelt war, und in seinem Kopf drehte sich alles, tanzten die Schatten eines ›jamma‹, des Nachtpicknicks auf dem Lande, bei dem es hoch herging.
Es gab fast zu viel zu sehen. Dutzende von vollbusigen Frauen in Kleidern mit leuchtenden Mustern hockten eng beisammen, tratschend an der einen Seite der hochzüngelnden Flammen, und systematisch die Maishülsen aufreißend. Die bloßen Kolben wurden dann auf die andere Seite hinübergereicht, wo sehnige Männerhände die rohen, harten Kerne mit einer knirschenden Korkenzieherbewegung von den Kolben lösten, so dass sie in die Krokussäcke zwischen ihren Knien fielen. In all dieser Geschäftigkeit schien ein jeder dennoch Zeit zu finden für angeregte Gespräche und Gelegenheit, reichliche Menge von weißem Rum zu vertilgen und die großen Bleche leerzumachen, die randvoll gefüllt waren mit gerösteter Brotfrucht, Cho-Cho-Kürbis, triefend von Butter, Ziegencurry, gebratenem Knurrhahn, Schweinefleisch, luftgetrocknet, das jetzt knusprig brutzelte, gewürzt von Nelkenpfeffer, und Fruchtsalat aus Sternäpfeln, Orangen, Grapefruit und gesüßter Milch, die ›matrimony‹ genannt wurde.
Als die Nacht voranschritt und die nahezu besessene Intensität der Arbeit einem zäheren Tempo gewichen war, als sich das Geschrei gelegt hatte und alle vollgegessen waren, folgten Lieder, Rätsel, Anancy-Geschichten und Erzählungen von Afrika. Dies war der Teil des Abends, den Nesta am liebsten mochte, und er fand einen guten Platz auf dem Stamm eines gefällten Apfelbaumes neben Neville Livingston, genannt Bunny, einem Freund aus der Stepney School. Hinter ihnen saßen Ciddy und Bunnys Vater, Thaddius ›Toddy‹ Livingston, ein Mann mit breitem Gesicht, der als Tischler und Maurer von Arbeit zu Arbeit zog und von den Malcolms wohlgelitten war (und, wie man sagte, Ciddy sehr gern hatte).
Alle Ohren waren gespitzt, als ein älterer Cousin von Yaya die Geschichte von Prester John erzählte, dem legendären nestorianischen christlichen König von Kleinasien. Von seinem gigantischen Reich aus, so versicherte der alte Mann seinen Zuhörern, hatte Prester John die mongolischen Heiden und den ungläubigen Moslem unterworfen, dem es beinahe gelungen wäre, die europäischen Kreuzritter des zwölften Jahrhunderts zu besiegen. Von der ganzen Christenheit verehrt als lebender Beweis für Gottes Herrschaft auf Erden, hatte Prester John mit seiner heiligen Kraft den Papst Alexander III. in seinen Bann geschlagen und überdies Friedrich Barbarossa, den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, Ludwig VII. von Frankreich und alle anderen byzantinischen Potentaten. Prester Johns Patronat gab den Kreuzrittern Hoffnung in ihrer glücklosesten Stunde und bewahrte sie vor einer möglicherweise demütigenden Niederlage, aber niemals war es einem weißen Mann, ob Page oder Prinz, gestattet worden, Prester John in sein ätherisches Gesicht zu sehen, das die Farbe von Ebenholz hatte.
»Denn kein Weißer auf Erden ist würdig, diesen strahlenden Anblick zu genießen!«, hatte der hohläugige Cousin mit donnernder Stimme ausgerufen, als er zum Ende seiner exotischen Mär von blutigen Schlachten, standfestem Glauben und der Majestät eines schwarzen Königs gekommen war, der König Artus in den Annalen des mittelalterlichen Rittertums weit in den Schatten stellte. Und dann wurden die Rumflaschen zuhauf in die Höhe gestreckt, um anzustoßen auf die Erzählkunst des Cousins.
Ein anderer Mann sprang auf, um vom Ruhm der schwarzen Rasse in der modernen Zeit zu künden, und mit beeindruckender Redekunst wusste er ein Loblied zu singen auf die Erhabenheit der Herrschaft Seiner Majestät Haile Selassies I. von Äthiopien, des zweihundertfünfundzwanzigsten Erben des Throns von Salomon, der 1941, vor acht Jahren also, Mussolini und seine faschistischen Truppen aus dem Lande gejagt hatte. Es war einer der ersten ruhmreichen Siege des Zweiten Weltkriegs, berichtete der Mann, voller Ehrfurcht und Staunen, wie gnädig Selassie zu den besiegten Italienern gewesen war und wie großzügig zu seinen eigenen tapferen Soldaten.
Da er merkte, wie gefesselt seine Zuhörer waren, fuhr der neue Geschichtenerzähler fort. Nachdem Selassie höchstpersönlich an eine Vielzahl äthiopischer Soldaten Geschenke verteilt hatte, war ein Unteroffizier, der nicht gerade rühmlich aufgefallen war, gekommen und hatte sich bei Seiner Majestät beklagt, er sei ausgeschlossen worden und habe nicht teilgehabt an den großzügigen Gaben des Kaisers und an dem Ausdruck des Dankes.
»Du lügst!«, sprach mit zorniger Stimme Selassie und nannte genau den Ort, den Tag, die Uhrzeit und die Summe des Lohns, den der Soldat erhalten hatte. Der Unteroffizier warf sich zu Boden und verbarg sein Gesicht in Furcht und Scham, und er kroch fort aus dem Angesicht des erhabenen Kaisers. Selassie aber hieß den Mann aufstehen und seine Lügenworte bereuen. Weinend und unter Klagerufen tat er es, und Seine Majestät wollte sich abwenden und gehen, aber da empfand er Mitleid mit dem Soldaten und warf ihm ein Bündel Banknoten zu.
Alle, die um das Lagerfeuer versammelt waren, hielten den Atem an, so wunderbar war die Geschichte, aber der Erzähler wusste noch mehr zu berichten. Kurz vor der Krönung Seiner Majestät im Jahre 1930 – und dies bedeutsame Ereignis war von Marcus Garvey, einem erleuchteten und mutigen Sohn Jamaikas, vorausgesagt worden – war dem Duke of Gloucester eine Audienz bei Selassie gewährt worden, und dabei gab er das Goldene Zepter des Hauses von Juda zurück, das im Altertum Äthiopien von Julius Cäsar gestohlen worden war, der es benutzt hatte, um sein Römisches Reich aufzubauen. Nach der kaiserlichen Krönung hatte sich der Duke einen Rausch angetrunken und war in den Urwald gewandert, wo er von einem Zauberkraut gegessen hatte, das ihm seine sterbliche Verkleidung nahm und es dem Kaiser erlaubte, mit Hilfe des Goldenen Zepters die wahre Identität des Duke zu erkennen: Er war die Reinkarnation Nebukadnezars, des teuflischen letzten Königs von Babylon.
Um einen Plan auszuführen, durch den sich die Erfüllung der biblischen Voraussagen beschleunigen sollte, brachte Selassie den Duke auf listige Weise dazu, nach England zurückzukehren und eine höchst eigenartige Medaille für König George V. mitzunehmen, die in Wirklichkeit ein mystisches Siegel der Rache war. Als der britische Monarch das Siegel erblickte, erstarrte sein Körper nicht unähnlich dem von Lots Weib, und bald danach ging er zugrunde. Der Duke bestieg den Thron, dankte dann zugunsten von George VI. ab, sein Ziel nicht aus den Augen verlierend: in den Letzten Tagen als der endgültige Herrscher des Bösen seine Reinkarnation zu erleben.
»Gepriesen sei der Lehrer! Die Prophezeiung ist erfüllt!« So riefen die vom Rum berauschten Gäste, die um Omeriahs Feuer drängten. Und dann erfasste ein seltsames Zittern die Gruppe, gefolgt von plötzlicher Stille. Man hatte das Gefühl, als sei die ganze Versammlung mit einem Mal versunken in ernste Meditation, jeder Einzelne darüber, wie es bestellt sei um seine Rechtschaffenheit, ob er auch Ordnung hielte im Haus der Seele,
»Es wird geschäftig und laut zugehen auf dem Balmyard, wo der Myalman seine Gemeinde um sich schart, und die Kirche wird übervoll sein an diesem Sabbat«, sann Omeriah und nahm einen tiefen Zug aus seiner ›fronto‹-(Tabaks-)Pfeife.
Es knisterte vor Spannung. Die Gruppe aus halb geschlossenen Augen musternd, machte schließlich einer der jungen Männer, ein Flickschuster aus dem Dorf Endeavor, einen schüchternen Witz über den ›blackheart man‹, und alle reagierten mit dankbarem Gelächter. Eine Frau hatte gerade mit einem Rätsel begonnen, als sie durch einen Ausbruch von Nesta unterbrochen wurde.
»Mumma! Mumma seh! Sag, was ist der Blackheart Mon?«
»Still, mein Kleiner. Sei schön still und beruhige dich.«
»Nuh, Ciddy«, sagte der Schuster mit einem hinterlistigen Augenzwinkern. »Der Junge muss doch wissen, wie der Blackheart Mon aussieht, wenn er ihm im Mondlicht begegnet.«
Bevor Cedella noch protestieren konnte, hatte der Schuster mit einer Beschreibung des Mannes mit dem schwarzen Herzen begonnen, so das Nestas Augen groß wurden wie Maiskuchen und alle anderen Kinder sich verängstigt an Rockschöße oder Hosenbeine ihrer Eltern klammerten.
Der Blackheart Mon lebt in ewiger Dunkelheit, so fing er an. Er trägt die Nacht mit sich wie einen Umhang, den er sich auch über den Kopf stülpt. Und was für einen Kopf er hat! Ein Wust von Schlangenlocken wächst darauf, die sich rollen und zischeln und sich winden wie die Vipern auf dem Kopf der Medusa. Der Blackheart Mon hat keine Freunde, kein Heim, keine Familie. Überall ein Fremder, so lebt er in den ›gullies‹ (offenen Abwässerlöchern) der Stadt und in den einsamen Höhlen auf dem Lande, und mit Süßigkeiten und schmeichelnden Worten lockt er die Kinder an, die es wagen, sich zu entfernen von ihren Müttern oder bei Dunkelheit noch draußen herumlaufen. Er nimmt sie mit sich fort, und nie sehen sie ihre Familie wieder. Er verschlingt sie, Stück für Stück, oder übergibt sie Satan als Sklaven, verdammt dazu, in alle Ewigkeit an den Schwefelöfen auf den kohleschwarzen Ufern des Flusses Styx zu arbeiten – dem Wasserlauf ohne Leben, der die Hölle umfließt.
»Tikya (take care – sich hüten vor) de blackheart mon, childran, me seh don’ go near ’im«, mahnte der Schuster. »Tikya de blackheart mon, denn sogar die Löwen fürchten ihn!«
»Nuh, Mumma! Ich will den Blackheart Mon nicht sehen!«, wimmerte Nesta.
»Still, Kind! Und du sollst dich was schämen, Mon!«, schäumte Ciddy. »Meinen Kleinen so zu erschrecken! Es gibt keinen Blackheart Mon, Kind!«
»Ahhh, den gibt es doch!«, rief ein anderer Cousin aus der Menge. »Es ist der verfluchte Rastamon. Faul ist er, streift herum und ist ein gefährlicher Wahnsinniger, ein Madmon, will unser Volk ins Unglück stürzen. Und speien tut er ins Angesicht des Allmächtigen, ein Übel ist er.«
Der Rastamon. Nesta war erstarrt und konnte keinen Ton herausbringen. Vor ein paar Wochen hatte er einen geschmeidigen Mann mit langen Haarsträhnen gesehen –
Haare wie ein Schlangennest. Der Mann kam aus dem Wald spaziert in der Nähe der Stepney School, und er trug einen ›bankra‹ (Korb) mit Yams. Als sie ihn erblickten, hatten andere Kinder am Straßenrand zu spielen aufgehört und waren aufgeregt zum Schulhaus gerannt, und Miss Isaacs hatte alle hineingerufen und war dabeigestanden, bis der Mann fort war.
Und eben, als die Tür sich hinter ihnen schließen wollte, hatte Nesta noch einmal zurückgeschaut und gesehen, wie der Rastamon lächelte, mit Zähnen so weiß wie die eines Tigers, und seine glänzenden, hervortretenden Augen waren direkt auf ihn gerichtet gewesen.
»Nuh, Mumma! Nuh, Mumma! Ich will den Blackheart Mon nicht sehen!«
Ciddy schüttelte den Jungen wach. Durch seine Tränen hindurch erkannte er, dass er wieder zu Hause war, sicher auf seinem Strohbett in der Hütte auf dem Berg lag. Seine Mutter hatte ihn auf dem Arm heimgetragen, kurz bevor es wieder hell wurde.
»Still, mein Liebling. Hast nur schlecht geträumt. Schlaf gut.«
Erschöpft hatte sich die junge Frau den Weg zurückgetastet zu ihrem Strohlager und hatte sich darauf ausgestreckt, um in traumlosen Schlummer zu sinken.
Sich auf seiner eigenen brüchigen Matratze aufstützend, warf Nesta einen Blick durch die vom Wetter verworfenen Fensterläden hinaus in den geisternden Nebel jenseits der Hütte – und er schrie.
Vielleicht sah er etwas. Vielleicht auch nicht. Aber er flüchtete sich in das Bett seiner Mutter und verbarg seine Augen unter dem Nachthemd, und er zitterte, bis ihn der Schlaf schließlich überkam.